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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


schwanken Dache seines Hauses hinan- und wieder herabklettern zu sehen. Mit langgestreckten schmächtigen Armen und Beinen kroch er in spinnenartiger Elasticität um den „Vater“, den „Sohn“ und den „heiligen Geist“ herum, von Ziegel zu Ziegel und wußte mit Kelle und Quast in bewunderungswürdiger Geschicklichkeit, weitaus langend, zu hantiren. Der Wind spielte dabei mit den langen weißen Haaren des Alten und ließ seine riesigen Rockschöße flattern wie zwei lange dunkle Trauerfahnen. Vollendet aber wurde das Groteske des Anblickes dadurch, daß Karfunkulus, der getreue Kater, seinem Herrn auf Schritt und Tritt nachkletterte und dabei die possierlichsten Sprünge und Sätze machte, bald über den Rücken des Herrn Candidaten hinüber voltigirend, bald um dessen ganze wunderliche Gestalt herum die absonderlichsten Kreise beschreibend.

Unten auf der Straße hatten sich zahlreiche Zuschauer versammelt, welche dem halsbrecherischen Experiment mit Spannung folgten. Ich war mitten unter ihnen. Alles schien gut zu gehen. Plötzlich – ein Schrei ging durch die Menge – wich ein Ziegel unter der Hand des kühnen Kletterers. In jähem Sturze glitt er an dem Dache herab, aber die weit vorspringende Rinne konnte ihn retten. Und richtig – mit einem glücklichen Griffe erfaßte er sie und hielt sich, eine Minute zwischen Himmel und Erde schwebend, mit sicherer Hand an dem wankenden Blechgerüste. Dann aber – ein Krach, ein Sturz – die Rinne war gebrochen, und der Alte lag, ein Bild des Jammers, auf dem Straßenpflaster. In demselben Augenblicke fühlte ich mich von einer kräftigen Hand ergriffen und in das Elternhaus getragen. Der das gethan, war mein Vater, der einen so kläglichen Anblick für nicht geeignet hielt für mein Knabenauge.

Später erfuhr ich, daß man den Gestürzten wie eine Leiche aufgehoben und die zwei Treppen hinauf auf sein wurmstichiges Sopha getragen. Dort hatte er die Augen wieder aufgeschlagen, und als man ihn gefragt, ob er sich sehr verletzt fühle, geantwortet: „Zum Tode!“ dann aber lächelnd gemeint. „Nihil interest, will sagen zu deutsch: Was liegt daran?“ Die ärztliche Untersuchung ergab, daß er eine Rippe gebrochen und das linke Bein stark gequetscht habe. –

Drei Wochen nach dieser traurigen Katastrophe fand Schwester Elisens Polterabend statt. Es war ein großes Fest in unserem Hause. Carossen über Carossen brachten immer neue Gäste. In das Wagengerassel und Pferdegestampf aber scholl das Klirren und Klingen der Scherben, welche Alt und Jung uns an die Hausthür warf; denn es ist eine althergebrachte, allbekannte Sitte, daß, wer es mit dem jungen Paare gut meint, zusammenträgt und -scharrt, was er an altem Geschirr und Scherben auftreiben kann, um es unter Segenssprüchen am Polterabende an die Thür des Brauthauses zu werfen.

Es war schon spät am Abende und völlige Dunkelheit hereingebrochen; ich sah mir vom Fenster aus im Lampenscheine das bunte Polterabendtreiben vor unserem Hause an – da – eine gramgebeugte, hagere Gestalt kommt am Stabe langsam und mühsam über die Straße gehinkt. Ist er es wirklich? Den schwer verwundeten Fuß unter sichtlich heftigen Schmerzen nach sich schleppend, trägt er eine kleine Kiste keuchend daher. Nun setzt er die Last ächzend nieder – ein Augenblick, und eine Unzahl von blinkenden und klirrenden, von theils bunten, unscheinbaren Gegenständen poltert an unsere Hausthür.

„Da, da, da!“ ächzt der Alte leise vor sich hin, indem er ein Stück nach dem andern an die Thür wirft. Dann aber stöhnt er laut auf. „Vanitas vanitatis!“ und eilt, so schnell es das schmerzende Bein zuläßt, unter lebhaften Gesticulationen über die Straße zurück. Der arme, wunderliche Grüneisen! Da lagen sie, seine werthvollen Münzen und Urnen, die besten Stücke aus seiner einst so sorgsam gehüteten Raritätensammlung, und ganz oben darauf schimmerten auch die Papierblumen und -Sterne, die Perlen und Flittern, die einst seine so viel bespöttelten Fenster geschmückt – da lagen sie alle, die ehrwürdigen Reliquien bei den profanen Scherben des Polterabends. Alles zerschellt und zerbrochen!

Seitdem sah ich den Alten nicht wieder – und doch, ein einziges Mal noch. Und das war – im Sarge.

Seit Schwester Elisens Hochzeit war er stiller und stiller geworden, und eines Tages suchte man ihn vergebens in seinem Dachstübchen. Aber als man auf den öden, weiten Hausboden kam, da saß er an einem der seltsamen runden Dachfenster, das Haupt gestützt – das halbgeschlossene Auge blickte fern hinaus zu seinem geliebten Heimathdörfchen.

„Alter, was treibt Ihr?“

Keine Antwort! Christian Leberecht war – todt. Da die epheuumrankte Mansarde zu eng war, bahrten sie ihn in dem kleinen Garten hinter dem Hause auf. Es war gerade die Zeit der Rosen. Da ruhte er nun unter Centifolien und Remontanten in der schwarz verhüllten Truhe, der bleiche stille Mann mit den langen weißen Haaren. Von der Straße aus durch den langen Hausflur sah ich ihn liegen und ruhig schlafen. Kein Mensch war um den Todten, aber auf dem Rande des Sarges saß sein immer getreuer Gefährte, der Kater Karfunkulus mit den unheimlich leuchtenden Augen. Heute hielt er den Kopf gesenkt und blickte traurig bald auf seinen todten Herrn, bald auf die welken Rosenblätter am Boden, mit denen ein leichter Wind phantastische Tänze tanzte. Eine Lerche sang im Gebüsche des Gartens.

Am nächsten Morgen in der Frühe begruben sie meinen seltsamen alten Freund in einen stillen Winkel des Friedhofes. „Einen, der zu gut war für diese Welt,“ hatte an der offenen Gruft der Herr Stadtpfarrer gesagt. – –

Grüneisen hatte sein Wort gehalten. Auf seine schriftliche Verfügung hin wurde mir, dem „lieben Junior“, aus seinem Nachlasse nicht nur das geheimnißvolle Buch, sondern auch das verschleierte Bild nebst einigen Kleinigkeiten ausgehändigt.

Als wir von dem Bilde die Hülle fortgezogen, ging ein Ach der Bewunderung durch den Kreis der Umstehenden. Aus dem verstaubten Rahmen blickte uns ein Mädchengesicht von seltener Schönheit und Lieblichkeit an. Es war ein Kniestück, in Oel und ohne Frage von Künstlerhand ausgeführt. Wie Grüneisen in den Besitz desselben gekommen, habe ich niemals erfahren können. Die schlanke und doch kräftige jugendliche Erscheinung, die vor uns stand, trug einen Kranz von Kornähren und Eriken leicht im dunklen Haar, das in zwei vollen üppigen Flechten lang über die Schultern herabfiel. Die mittelgroße Gestalt war von vollendetem Ebenmaß und wahrhaft reizender Fülle; um Mund und Wangen spielte ein entzückendes Gemisch von mädchenhafter Schüchternheit und leiser Schelmerei; kindliche Einfalt und Heiterkeit sprach aus den tiefbraunen Augen dieser Unschuld vom Lande, die, eine Sichel fest und graziös in der nervigen aber fein geformten Hand, im weißen luftigen Gewande lustig durch die wogenden Kornfelder dahinzuschreiten schien. Man konnte sich eine anmuthigere Schnitterin gar nicht denken.

Aber nicht nur der Zauber der Anmuth war es, der uns diesem Bilde gegenüber ergriff, es war noch etwas Anderes. Blickte es uns aus diesen Augen nicht wie ein Verwandtes an? War das Lächeln um diesen Mund uns nicht ein längst bekanntes? Diese dunklen Haare, diese von leichtem Braun gesättigte Gesichtsfarbe –? Es war ein merkwürdiger Moment des Erstaunens und Erschreckens, als wir Alle wie aus einem Munde ausriefen: „Schwester Elise!“

Und in der That – die auffallende Aehnlichkeit zwischen der lieblichen Schnitterin und unserer Schwester war nicht zu verkennen. Nur, daß bei dieser fein und zart gebildet war, was sich bei jener in kräftigeren und volleren Formen, gleichsam aus dem Städtischen in’s Dörfliche übersetzt, wiederfand.

Und wer war sie, diese reizende Mädchengestalt auf dem Bilde vor uns? In welchen geheimnißvollen Beziehungen stand sie zu unserem nun schlafen gegangenen Philosophen aus der Mansarde und – fragten wir weiter – zu unserer Schwester Elise?

Hierüber giebt uns das mysteriöse Buch, das ich, wie gesagt, zugleich mit dem Bilde ererbt, eingehende Auskunft. Es ist Grüneisen’s Tagebuch. Drei Blätter daraus, die ich hier ihrem ungefähren Inhalte nach wiedergebe, genügen, um den Schleier zu lüften, der über dem Leben dieses Sonderlings lag.

Das erste Blatt: Er war, frischen Lebens voll, von der Universität, wo er als armer Bauernsohn auf Kosten eines Gönners Theologie studirte, zu einem längeren Ferienbesuche in sein Heimathdorf zurückgekehrt. Da wurde in Wonne gesäet, was in Weh aufgehen sollte. Warum trug auch Elise, des Wassermüllers junge Tochter, mit der er ehedem kleine papierne Schiffe und Kähne auf den lustigen Wellen des Mühlbaches hatte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 868. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_868.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)