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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Weicht man von diesen Hauptregeln nicht ab, so wird alles Gesundheitsgefährliche von selbst schwinden. Vor Allem ist es ferner nothwendig, daß der Schüler die ersten Gesangsübungen mit wenig Stimme mache und daß er dann erst sehr allmählich zu kleineren Steigerungen der Stärkegrade übergehe. Das wirklich starke Einsetzen des Tones, welches nach dem Vorhergegangenen nun auch hin und wieder studirt werden muß, darf dem Schüler weder Unbequemlichkeiten, noch gar Schmerzen im Halse oder dergleichen verursachen, sonst liegt hier der Beweis vor, daß man von dem oben bezeichneten Wege abgewichen ist.

Viel gesündigt wird in den Gesangsclassen der Schulen gegen aufkeimende Stimmen und nicht blos dadurch, daß der Lehrer, der nur in seltenen Fällen gesangstechnisch gebildet, oft nicht im Klaren darüber ist, was er seinen Zöglingen überhaupt zumuthen darf, sondern auch dadurch, daß er sich zu selten über die augenblickliche Verfassung dieser jungen Stimmen unterrichtet. Junge Mädchen oder Knaben, in der Zeit des Ueberganges zur Pubertät, also etwa zwischen dem dreizehnten und sechszehnten Lebensjahre, sollten mindestens alle vier bis sechs Wochen einzeln stimmlich geprüft werden. Man nehme Töne aus der bequemen Mittellage und lasse sie ruhig aushalten. Macht sich ein Schwanken oder Zittern des Tones gegen früher bemerkbar, so ist der oder die Betreffende sofort aus dem Unterrichte zu entlassen.

Eigentlich wäre es Sache des Staates, in den Schulen nur wirklich gebildeten Singlehrern den Unterricht zu übergeben, ebenso wie der Staat es sich zur Aufgabe machen müßte, eigentliche Singschulen für den Kunstgesang zu gründen, in welchen wie bei den Alt-Italienern eine bestimmte, gleichartige Behandlung der Singstimme auf naturgemäßer Basis eingeführt und von hier aus auf den Privatunterricht verpflanzt würde.[1]

Wenn ich nun meine Skizze mit der Versicherung schließe, dem geehrten Leser nur Bilder vorgeführt zu haben, welche sich mir in meiner eigenen längeren Gesangslehrerpraxis darstellten, und außerdem ausdrücklich bemerke, daß ich hier keineswegs mit zu grellen Farben gemalt, so darf ich wohl hoffen, daß derselbe die Defensive bei Gelegenheit auch da ergreife, wo ich die Offensive ergriffen, nämlich im Kampfe gegen die „Singtyrannen der Gegenwart“.

     Dresden.

L. S.




Wie Menschen und Dinge sich verlieren.


In einem ansprechenden Feuilletonartikel über deutschen Humor hat F. Kürnberger jüngst das Andenken an einen witzigen Künstler aufgefrischt, der seiner Zeit auch durch seine malerischen Leistungen rasches Aufsehen machte und dann ebenso rasch für die öffentliche Aufmerksamkeit verschwand, so daß er jetzt schon zur Mythe geworden zu sein scheint, denn der genannte Schriftsteller führt ihn irriger Weise als den „altbaierischen Maler Mendt“ auf und bringt ihn mit dem hannoverischen Advocaten, späteren Legationsrath Detmold – am bekanntesten durch die Rolle, die er in der achtzehnhundertachtundvierziger Periode in Frankfurt spielte – zusammen, dessen Koboldsnatur er vielleicht mit Absicht, aber ohne Grund und gegen die Wahrheit nach Düsseldorf verlegt. Beide Männer haben nie in dieser Stadt gelebt und sind, so weit die äußeren Umstände einen Schluß erlauben, wohl niemals einander nahe gekommen; der vermeintliche Altbaier aber mit dem jovialen, kecken Humor und der ausgesprochensten Leipziger Mundart ist der sächsische Maler Mende, über dessen Schicksale mir dieser Anlaß einige Erinnerungen wachruft.

Karl Adolf Mende, im Jahre 1807 zu Leipzig geboren, begann seine künstlerische Lehrzeit in Dresden. „Aber ich konnte dort nicht vorwärts kommen,“ erzählte er, als ich ihn kennen lernte; „Tadel und Verdruß war Alles, was ich in der Schule erntete, und ich hatte doch das Gefühl in mir, daß ich Besseres schaffen könne als meine Mitschüler und die Lehrer dazu. Als mir eines Tages unser Director sagte: ‚Aus Ihnen wird nie ein Maler,‘ da fuhr mir der Zorn durch die Adern; ich legte meine Mappe zusammen, und mit dem Worte: ‚Ich werde Ihnen zeigen, was ich kann!‘ bin ich fortgegangen, direct nach München. Und ich habe es gezeigt.“

So war es. Mende hatte in Dresden die Aufgabe der Schule verkannt. Wie es Leuten von cholerischem Temperamente oft ergangen ist, stellte sich sein feuriger Geist bestimmte Aufgaben, die er lösen wollte, vor Augen und achtete zu wenig auf den Theil der Kunst, womit sich die Schule zu beschäftigen hat, die Aneignung der technischen Bedingungen, welche zur kunstgerechten Ausführung einer Idee unentbehrlich sind. Was ihm seine Dresdener Lehrer nicht hatten begreiflich machen können, das lehrte ihn sein Ehrgeiz in München erkennen und erwerben, die Kunst mit Farben umzugehen und nicht gegen die Wirklichkeit zu verstoßen. Er erregte Aufmerksamkeit mit einem Bilde, zu dem ihn Jugenderinnerungen veranlaßten, da er als Knabe aus einer Dachluke den Kämpfen um die Befreiung Deutschlands von dem französischen Joche zugeschaut hatte; es ist das noch heute nicht vergessene Bild „Die Völkerschlacht bei Leipzig aus der Vogelschau gesehen“. Nach einigen anderen Gemälden von durchschlagendem Erfolge brachte er seine „Vertheidigung eines Tiroler Hauses“, ein Bild, welches allgemein das größte Aufsehen erregte und – was damals viel sagen wollte – als Kunstvereinsprämie vervielfältigt wurde. Mehr als in der Farbengebung und dem aufmerksamen Studium der Natur, welches die Zeichnung bis zu den Nägeln im Fußboden darlegte, offenbarte sich der Geist des Malers in der Auffassung. Kein unruhiges Zusammentreffen feindlicher Gruppen, sondern der enge Raum einer Bauernstube, an deren verrammelten Fenstern Männer im Anschlage liegen oder auf den draußen vordringenden Feind schießen; Weiber, die Munition zubringen, Knaben, welche mit Lebensgefahr das Blei der Dachrinne abreißen und Kugeln davon gießen, ein Verwundeter, dem Trost und Pflege gereicht wird – das ist Alles, was die Tafel zeigt, aber mit so ergreifender Wahrheit, daß man empfindet: hier wird ein volksthümlicher Verzweiflungskampf geführt.

Einen Abdruck des Bildes schickte der hochgefeierte Künstler nach Dresden mit den lakonischen Begleitworten: „Da sehen Sie, ob ich kein Maler bin!“ – Und in diesem glücklichen Momente, da der Ruhm ihm nicht blos Kränze, sondern auch Früchte bot, verschwand er aus München, ohne daß man weiter von ihm hörte.

Einige Jahre später – ich glaube 1847 – traf ich ihn in der Gegend des Comer Sees. „Nachdem ich in München,“ sagte er, „eingesehen, daß es nicht genügt, Ideen zu haben, sondern daß man auch lernen muß, denselben eine schöne Form zu geben, ließ es mich nicht rasten; ich wollte ergründen, wie es die alten italienischen Maler gemacht haben; nun bin ich so und so viel Jahre durch Italien bis zur Fußspitze des Stiefels gestreift, um zu studiren, auf welche Weise jene großen Meister so wunderbare Farbenwirkungen hervorbrachten. Jetzt hab’ ich’s,“ schloß er mit Selbstbewußtsein. Daß es keine Ueberschätzung und Schönrednerei war, habe ich später aus dem Munde angesehener Maler erfahren, denen er ohne Rückhalt die mühsam erworbenen Kenntnisse mittheilte. Damals sah ich von ihm nur etliche kleine Farbenskizzen und eine Menge Bleizeichnungen in so kleinem Formate, daß sie bequem in der Tasche zu tragen waren, Genrebilder, heitere und ernste Entwürfe von solcher Mannigfaltigkeit und fesselnder Wirkung, daß er daran dreimal für sein ganzes Leben genug zu malen gehabt hätte. Allein das war es nicht, was ihn augenblicklich beschäftigte; ihm steckte etwas im Kopfe, das nicht zur Kunst gehörte und worüber er sich nicht aussprach. Erst im Jahre 1848, da ich ihm in Frankfurt am Main wieder begegnete, wurde ich es gewahr.

In den Tagen, als die deutsche Nationalversammlung zusammengetreten war, tauchte er dort auf und suchte Fühlung mit den Männern der Linken. Er hatte sich in die italienischen politischen Verbindungen eingelassen und war jetzt abgeschickt worden, zu erforschen, ob sich ein Zusammenwirken der freiheitlichen Bewegungen diesseits und jenseits der Alpen erreichen ließe. Der Erfolg mußte nicht nach seinen Wünschen sein, denn ich bemerkte bei den wenigen Begegnungen, die mir der Zufall mit ihm gewährte,

  1. Derartige Bestrebungen sollen, wie versichert wird, im preußischen Cultusministerium Erwägung gefunden und Aussicht auf Verwirklichung haben.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_872.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)