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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

jungen Manne auf allen seinen Wegen entgegenkam, und diese göttliche Gabe, nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen, ist ihm allezeit treu geblieben; sie erläutert deutlicher, als es viele Worte zu thun vermöchten, die anspruchslose Liebenswürdigkeit seines Wesens.

Daß Gauß nicht in die Classe der durch Eitelkeit und künstliche Dressur erzogenen „Wunderkinder“ gehöre, die nur zu bald in den Reihen der Alltäglichkeit zu verschwinden pflegen, bewies er bereits während seiner Göttinger Universitätszeit, indem er, damals noch nicht einmal entschieden, ob er nicht vielmehr die alten Sprachen zu seinem Fachstudium wählen sollte, als achtzehnjähriger Student (1795) seine Methode der kleinsten Quadrate und andere Rechnungsfortschritte entdeckte, von denen eine neue Epoche der Zahlentheorie datirt. Ein zwanzigjähriger Jüngling, schrieb er die grundlegenden, seinem Herzoge gewidmeten arithmetischen Untersuchungen (Disquisitiones arithmeticae), deren Drucklegung sich bis 1801 verzögerte, die aber dann auch sofort die Blicke der gesammten rechnenden Welt auf den Autor zogen und ihm die Ernennung zum Mitgliede der Petersburger Akademie als Vorläuferin unzähliger ähnlicher Ehrenbezeigungen eintrugen. Ein damals am Himmel neuentdecktes Gestirn trug übrigens nicht wenig dazu bei, das auf Erden aufgegangene der Welt bekannt zu machen.

Das neunzehnte Jahrhundert war gar würdig eröffnet worden; der italienische Astronom P. Piazzi hatte an seinem ersten Tage in Palermo einen kleinen Stern mit lebhafter Eigenbewegung entdeckt, den er für einen Planeten halten mußte und Ceres Ferdinandea nannte. Diese Entdeckung des ersten der jetzt zu einem großen Schwarm angewachsenen kleinen Planeten oder Planetoiden machte darum ein verdientes Aufsehen, weil den Astronomen die große Kluft zwischen Mars und Jupiter in unserm Planetensysteme immer ein Räthsel gewesen war, sodaß schon Kepler mit Bestimmtheit vorhergesagt hatte, es gehöre ein noch unbekannter Planet dazwischen. Die Astronomen Titius und Bode hatten diese auszufüllende Lücke sogar durch ein besonderes Gesetz der Planeten-Anordnung nachweisen zu können geglaubt.

Aber o Jammer! Piazzi hatte die langersehnte und endlich gefundene Lückenbüßerin Ceres nach wenigen Ortsbestimmungen wieder aus den Augen verloren, und alle Astronomen Europas bemühten sich fast ein ganzes Jahr lang vergeblich, der Verlorenen wieder auf die Spur zu kommen. Die Gegner der „Naturordnung“ jubelten, und Hegel, der Philosoph, eröffnete seine Ruhmeslaufbahn mit einer lateinischen Abhandlung, in welcher er unzweifelhaft bewies, daß der Raum zwischen Mars und Jupiter „aus philosophischen Gründen“ nothwendig leer sein müsse. Die Spannung der gelehrten und ungelehrten Welt war somit mächtig erregt. Bei der Dürftigkeit der von Piazzi gemachten Bestimmungen konnte nur ein großer Rechner die Astronomen aus der Klemme ziehen, und diesen Retter fanden sie in Gauß. Obwohl derselbe nicht das Mindeste auf jenes „schöne Gesetz“ hielt, vielmehr auf den ersten Blick erkannte, daß ja gleich das erste Glied der Reihe falsch sei und nicht 4 + 0, sondern 4 - 1½ = 5½ (Entfernung des Mercur) hätte heißen müssen, berechnete er die Bahn der Verlorenen, und trotz der Dürftigkeit der Beobachtungen mit einer solchen Genauigkeit, daß Olbers am Jahrestage der Entdeckung die Ceres genau an dem von Gauß berechneten Orte auffand, ihr übrigens wenige Monate darauf eine Gesellschafterin (Pallas) in dem „philosophisch leeren Raum“ Hegel’s ausfindig machte.

Damals neigten sich alle Astronomen der Welt vor dem vorher kaum bekannten Namen Gauß, und es leiteten sich unmittelbar darauf die auf tiefer Achtung gegründeten Freundschaftsbündnisse ein, die ihn mit Laplace, Zach, Olbers, Bessel und allen berühmten Astronomen der Zeit verbanden. Aber gleichzeitig begannen mit den großen Erfolgen des Fünfundzwanzigjährigen auch die Bemühungen der Petersburger Akademie, ihn seinem Vaterlande zu entführen. Die entgegengesetzten Bemühungen von Olbers und die Dankbarkeit, die er seinem Fürsten schuldete, hielten ihn ab, diesen glänzenden Anerbietungen zu folgen. Erst nachdem das unglückliche Geschick Deutschlands jene Bande tiefempfundener gegenseitiger Achtung und Verehrung zerrissen hatte, Herzog Ferdinand bei Jena die Todeswunde empfangen und auf der Flucht gestorben war, folgte Gauß einem inzwischen an ihn ergangenen Rufe als Director der neuzuerbauenden Sternwarte nach Göttingen.

Es waren traurige Verhältnisse, unter denen er sein Amt antrat. Dem Verluste des Herzogs, der ihm bisher über alle kleinlichen Sorgen des Lebens hinweggeholfen hatte, folgte der seines Vaters, und zwei Jahre später der einer heißgeliebten Gattin, mit welcher er sich 1805 vermählt hatte. Dazu allerlei äußeres Mißgeschick! Noch hatte er keinen Pfennig Gehalt aus seiner neuen Stellung bezogen, als Napoleon die Stadt der Wissenschaft mit einer ungeheuren Kriegscontribution belegte, für welche auf den Neuangekommenen gleichsam zur Begrüßung ein Beitrag von zweitausend Franken entfiel. Die Freunde, welche wußten, daß Gauß unbemittelt war, baten, für ihn zahlen zu dürfen; Olbers sandte die Summe aus Bremen; Laplace zeigte ihm an, daß er dieselbe in Paris bereits für ihn eingezahlt habe, Gauß aber wies alle diese Anerbietungen zurück; er wollte seinen Antheil an Deutschlands Unglück selbst tragen, erhielt übrigens bald darauf den Betrag anonym aus Frankfurt am Main zugesendet, ein Geschenk des Fürsten Primas, wie er später erfuhr.

Gauß suchte sich über das persönliche und allgemeine Unglück durch Arbeit hinwegzuhelfen, und schrieb in den ersten Jahren seines Göttinger Aufenthaltes sein für die rechnende Astronomie bahnbrechendes Werk über die Theorie der in sogenannten Kegelschnitten (d. h. kreisförmigen, elliptischen, parabolischen und hyperbolischen Bahnen) um die Sonne kreisenden Weltkörper, nach der sich dieselben, wie er bei der Ceres gezeigt, ungleich einfacher berechnen ließen, als bisher. In besonderem Maße galt dies für die Berechnung der Kometenbahnen, die früher sehr viel Sorge machte, und dem Beispiele des poetisch gearteten Kepler folgend, welcher seinen großen Vorgänger Tycho de Brahe wie einen Feldherrn geschildert hatte, der den Kriegsplaneten Mars erst nach langen Belagerungen und Nachtwachen gefangen genommen habe, durfte Gauß in seiner Vorrede von den Kometen sagen, daß sie sich, obwohl mehrmals bereits für besiegt gehalten, immer wieder als Rebellen erwiesen hätten, bis ihnen nunmehr feste Zügel angelegt worden seien, sodaß auch sie fromm der Rechnung folgen würden. Um die Vortheile seiner Methode an einem augenfälligen Beispiele zu zeigen, pflegte er zu erzählen, wie der berühmte deutsche Mathematiker Euler blind geworden sei in Folge der drei volle Tage angestrengtester Arbeit erfordernden Berechnung einer Kometenbahn nach einer von demselben bereits sehr vereinfachten Methode, während Gauß die nämliche Aufgabe nach seiner Theorie, indem er die Uhr vor sich auf den Tisch legte, in einer einzigen Stunde löste.

Nach einer großen Reihe mathematischer und astronomischer Untersuchungen, die mehr in das Gebiet der reinen Wissenschaft fielen, bot sich dem großen Rechner in den zwanziger Jahren Gelegenheit, sein Genie auf einem mehr praktischen und recht eigentlich irdischen Gebiete zu erproben, nämlich bei der großen vom Grafen von Münster in’s Werk gesetzten hannoverschen Gradmessung. Hierbei kommt es besonders darauf an, sehr weit von einander gelegene Punkte genau zu beobachten, um die Meßinstrumente haarscharf darauf einzustellen. Während man diese Arbeiten früher des Nachts unter Anwendung heller Lampen als Richtpunkte vornehmen mußte und dieselben trotzdem nur in geringen Entfernungen sehen konnte, erdachte Gauß ein höchst einfaches Instrument, das Heliotrop, um am Tage von einem hohen Fernsichtspunkte aus vermittelst zweier, mit einem Fernrohr verbundenen Spiegelchen einen Sonnenstrahl nach der entferntesten noch am Horizonte sichtbaren Bergkuppe hinzusenden, von wo aus derselbe wie ein strahlender Stern erblickt wird. Noch heute geht den Geometern, die sofort alle älteren Instrumente in die Rumpelkammer warfen, bei dem Aufblitzen dieses Sternes jedesmal wieder das Herz auf, sobald sie sich den großen mit diesem einfachen Werkzeuge erzielten Fortschritt der Erdmeßkunst vergegenwärtigen. Es wurde beispielsweise mit demselben das ungeheure Dreieck zwischen Brocken, Inselsberg und dem Hohenhagen (unweit Göttingen) so genau gemessen, daß die Winkelsumme nur um zweizehntel Secunde von den vorschriftsmäßigen zwei Rechten abwich.

Nachdem Gauß so nach einander auf den Gebieten der Mathematik, Astronomie und Feldmeßkunst bahnbrechend gewirkt hatte, sollte er ähnliche Dienste auch der Physik erzeigen. Wir müssen jedoch hier ein wenig zurückgreifen. Seit zwanzig Jahren hatten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_279.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)