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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„aber das Volk, das Volk hätte mich nicht nur vertheidigt, sondern es hätte mich auch gerächt. Hätte ich gesprochen, so wäre eine Revolution entstanden, die Menschen, die ich ernährt habe, wären nach Madrid gezogen und, wie man meine Fenster mit Steinen einwarf, so hätten sie des Königs und der Richter Fenster eingeworfen und das Blut wäre in Strömen geflossen.“ Er streckte seine feinen Hände gegen uns: „An diesen Händen klebt kein Tropfen Blut, kein Fluch der Armen und kein Geld. Wenn Du vor mir schauderst, Charlotte, so weißt Du nicht, was Du thust. Nicht einen einzigen Diamant habe ich Dir gegeben; nicht ein einziges Goldgewebe von Tunis habe ich um Deine Hüften geschlungen; keine perlengestickten Schuhe habe ich an Deine kleinen Füße gesteckt, und ich konnte doch alles umsonst haben, wenn ich wollte! Ich habe Deine Füße mit ehrfurchtsvollen Küssen bedeckt, und waren sie am Abend müde, so schliefen sie in meinen brüderlichen Händen ein.“ Seine Stimme erstarb. Es entstand eine tiefe Stille, und ich dachte: ein Engel geht durch's Zimmer; ist’s ein guter oder ein böser? –

Charlotte saß mit zurückgebeugtem Haupte und geöffneten Lippen; sie rang nach Athem. Henry’s Haupt hing auf die Brust gesenkt, und seine Brauen zogen sich zusammen. Caspar allein hatte seine Fassung bewahrt; sein graues Auge war kühl geblieben, und er sagte mit fester Stimme:

„Ich verstehe nicht, was Sie sagten, Don Huesbar.“

„Das weiß ich wohl, mein strenger Schwiegervater. Und Charlotte, versteht auch sie mich nicht?“

„Noch nicht – reden Sie!“ erwiderte sie zögernd.

„Weißt Du, Charlotte, wie viel die Zölle der spanischen Krone jährlich eintrugen? – Millionen. Und wer bezahlte diese Millionen? Das Volk. Und was that die Krone mit diesen Millionen? Sie verschwelgte sie. Kaum daß ein kleiner Theil davon den Bischöfen und Klöstern zu gute kam, die vielleicht die Armen damit unterstützten. Auf meinen Untersuchungsreisen fand ich Legionen von Armen, die das Salz zu ihren Zwiebeln nicht mehr erschwingen konnten, weil es so theuer geworden war; die Gewerbe schmachteten, denn da das Land nicht Alles, was sie zur Verarbeitung brauchen, selbst liefern kann und die Zölle unerhört waren, so fehlten dem Handwerker die Stoffe. Im Handel war es nicht besser; die Hoflieferanten machten gute Geschäfte, aber der Kleinhandel lag im Sterben. Als ich dies erkannte, wandte ich Alles auf, um die Zölle herab zu drücken; umsonst, ich drang nicht durch. – Trotz der tyrannischen Ueberwachung der Schmuggler gab es Männer von kühnem, unverdrossenem Muthe. Sie gingen über’s Meer und durch die Canäle, über’s Gebirge und durch finstere Schluchten; allen Gefahren trotzend und keuchend unter der Last ihrer Säcke, wurden sie geheime Wohlhäter ihrer Brüder – Schmuggler, die sich selber nicht bereicherten, Schmuggler, die dem Räuber heilig waren; er zeigte ihnen Verstecke im Gebirge, und reichte ihnen seinen Becher zum erquickenden Trunke. Und glaube nicht, Charlotte, daß nur Stürme und Blitz, schwindelnde Höhen und gähnende Abgründe, Steingerölle und wilde Bäche, Sonnenbrand und Reif und Schnee, Schlangen und Wölfe ihr Leben bedrohten, nein – täglich, stündlich, jeden Augenblick lauerte die Muskete des königlichen Soldaten hinter und vor ihnen und zu beiden Seiten. Weißt Du, was es heißt, meine Charlotte, mit einem fünfzig Pfund schweren Sacke auf dem Rücken und einer Flinte auf der Schulter Tage und Nächte lang über spitzige Steine leise, sozusagen auf den Zehen gehen und nicht keuchen dürfen und seine Augen überall zugleich haben und jeden Augenblick des Todes gewärtig sein? O Charlotte, was ist das Geldstück, welches Du mit ruhigen Fingern aus Deiner seidenen Börse nimmst und dem Armen reichst, was ist es gegen das Salzkorn, das der Schmuggler über das Gebirge trägt? – Der König hat für jeden getödteten Schmuggler einen Ducaten gezahlt, einen Ducaten! Und die Soldaten haben manchen, manchen Ducaten verdient.

„Und sieh, Charlotte,“ hier seufzte Huesbar und sprach dann weiter mit einer Stimme voll edelsten, sanftesten Wohllauts, mit einer Stimme, die, wäre ich eine Frau, mich im Angesichte der Galeere selbst an ihn gefesselt hätte – „sieh, Charlotte, dieser Männer Beschützer bin ich gewesen. Ich habe die Soldaten auf falsche Fährten geleitet; ich habe im Gebirge und in den Schluchten von zehn zu zehn Meilen kleine Gewölbe in die Erde bauen lassen zum Verbergen der Waaren, der Lebensmittel, der Strickleitern; ich habe Stationen errichtet, anscheinend Hütten für das Vieh, welche aber Fallthüren und feste Gelasse enthielten, wo die todtmüden Männer ruhen und sich stärken konnten. Wie eine Legende ging im Volke die geheime Kunde von einem Beschützer, und es betete für ihn.

Wenn ich von Dir zuweilen Abschied nahm und sagte, ich müsse eine Untersuchungsreise machen, dann, meine Charlotte, ging ich in’s Gebirge und überzeugte mich, ob alles in Ordnung, ob für meine tapferen Brüder gesorgt war. Dann trug auch ich die Muskete, klomm an der Strickleiter die Abhänge hinab und durchwatete Bäche und schlief unter der Erde; dann war auch mein Kopf einen Ducaten werth. Sieh, Charlotte, hier an der Schulter hatte ich eine kaum geschlossene Wunde, als ich das letztemal vom Gebirge heimkam, und als Du, unwissend, Deine Hand auf meine Schulter drücktest, glaubte ich vor Schmerz zu sterben, aber ich zuckte nicht, und Du warst fünf Jahre mein Weib, mein angebetetes Weib, ohne zu ahnen, welche Gefahren ich für das Wohl meiner Brüder bestand.“

„Huesbar, ich absolvire Sie!“ rief ich, „lassen Sie mich Ihre Hand drücken!“

Er reichte mir seine Hand, die fieberheiß war.

„Don Huesbar,“ sagte Caspar, „wenn auch der Mensch Sie absolviren darf, der Staatsbürger darf es nicht. Sie haben den König, der Sie besoldete, betrogen.“

„Der mich besoldete!“ rief Huesbar höhnend. „Ich habe des Königs Besoldung nicht nöthig gehabt, um meine Frau zu ernähren. Wissen Sie, zu was ich meinen Gehalt verwendete? Ich habe damit die Schmuggler unterstützt, und wäre ich ein Sophist, so würde ich sagen, ich habe dadurch für des Königs Heil gearbeitet, denn er that mit seinem Gelde, ohne es zu wissen, Gutes. Der König hat wohl in den letzten Jahren über die verminderten Zolleinkünfte geklagt, allein hat er deshalb Noth gelitten? Hat man bei Hofe weniger Feste gegeben, weniger Lakaien gehalten? Hat man die Tänzerinnen schlechter bezahlt? Hat man Diamanten und Wagen und Pferde verkauft? Hat man den Hofstaat je in abgetragenen Röcken gesehen? Hat es an der Tafel je an Fasanen und Cyperwein gefehlt? Wahrlich, läge ich auf der Galeere angeschmiedet, jeder Trunk Weines, den ich den braven Schmugglern gab, würde mir die brennende Zunge laben, als tränke ich ihn selbst. Und während ich in den Gerichtsbüchern als Betrüger gebrandmarkt bin, lebe ich im Munde des Volkes als ein Wohlthäter, als ein Held. Das Herz, welches stets der wahrste Richter ist, mag unter Euch entscheiden!“

Er sagte „Euch“, aber er blickte nur auf Charlotte, die mit erloschenen Augen und wie zerschmettert dasaß. Henry stand auf, trat langsam zu ihm und reichte ihm stumm die Hand; dann ging er rückwärts zu seinem Stuhle zurück, den Blick auf Charlotte geheftet und dieser Blick sagte: „Lebe wohl!“

Huesbar kämpfte ein Beben nieder, das durch seinen ganzen Körper zu gehen schien, als der vorsichtige Caspar fragte: „Und welchen Namen denken Sie künftig zu tragen?“

„Den, welchen meine Frau mir geben wird.“

Wir blickten Alle auf Charlotte, die stumm blieb und die Hände rang. Da stand Huesbar auf, kniete vor ihr nieder und küßte den Saum ihres Kleides: „Madonna, wie soll ich heißen?“

Sie sah ihn an, als ob sie ihn nicht verstünde. Auf ihren Lippen irrte eine zuckende Bewegung.

„Bei meinem Leiden, bei Deiner Herzensgüte, beim Andenken der Tage des Glückes beschwöre ich Dich, Madonna: ein Wort! Ein Wörtchen!“

Da blickte sie über sein Haupt zu Henry hinüber, der gebrochen an der Wand lehnte und an dem nichts mehr zu leben schien als die Augen. Huesbar’s Blick folgte dem Charlottens und traf auf Henry – er ächzte. – Und als er sich langsam erhoben hatte, sprach er: „Als ich noch jung war und alle Frauen liebte mit jener Liebe, welche keine ist, sagte ein braunes Mädchen, das ich verließ, zu mir: ‚Möge Dich die Liebe fassen wie der Sturm die stolze Eiche und Dir ganz die Seele spalten! Mögest Du in ihrem Feuer, wie im Licht der Abendfalter, Dich versengen und verzehren!‘“ Und dann sagte er mit Thränen in der Stimme: „Charlotte, ich gehe. Gieb dem jungen Manne dort, dem Du Dein Herz gegeben hast, auch Deine Hand! Huesbar ist todt und liegt in Barcelona begraben. Werde glücklich!“

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