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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Die Mädchenpensionate der französischen Schweiz.
I.


„So wäre denn unser Töchterchen confirmirt; aber was nun?“

Ach, der Traum eines Mutterherzens, der einst, als das Kind noch mit der Puppe gespielt, dieses schon groß und erwachsen gesehn, der es walten sah in der Häuslichkeit als die rechte Hand der vielgeplagten Mutter, der es geliebt und bewundert sah im geselligen Kreise, mit einem Wort, der aus dem Kinde schon das junge Mädchen sich vorzaubert, dieser Traum, dem jede Mutter schon früh für ihre Tochter nachhängt, er überspringt einen wichtigen Lebensabschnitt: den Uebergang vom Kindesalter zur geistigen und körperliche Reife, das vielgenannte, vielgeschmähte Backfischalter.

Das junge Mädchen soll in dieser Zeit ein „frisch vom Himmel gefallener Engel“ sein; zugegeben, aber ein gut Stück vom Sprühteufelchen und Kobold steckt auch auch in ihm. Diese Doppelnatur giebt dem dreizehn- bis sechszehnjährigen Mädchen eine Unberechenbarkeit, ein Schwanken und Schillern, das nicht immer zum eigenen Behagen und zu dem der Umgebung beiträgt.

Da thun denn Eltern, deren Verhältnisse dies gestatten, ihre Tochter gern auf ein Weilchen von sich; unter neuen Lehrern soll sie ihren Schulgang vollenden, unter neuer Aufsicht die kleinen sich bekriegenden Geister im Innern zum Frieden bringen. Und so tritt denn das junge Mädchen in ihr Institutsjahr ein, das bis vor Kurzem für eine Tochter höherer Stände als unerläßlich galt und das noch jetzt vielfach als nothwendiger letzter Firniß einer wohlgelungenen Mädchenerziehung angesehen wird.

Seit Jahren entsenden wir mit Vorliebe unsere Töchter in die Pensionate der französischen Schweiz. Zu den obengenannten Momenten, die eine Entfernung des jungen Mädchens aus dem Elternhause wünschenswerth erscheinen lassen, gesellt sich dort der Vortheil, daß sie das Französische als Umgangssprache leicht und fließend erlernen kann. Zudem hat die Schweiz den wohlverdienten Ruf, seit Jahren schon vortreffliche Volksschulen und höhere Bildungsanstalten zu besitzen; man weiß dort eine größere Gediegenheit und Gründlichkeit als in Frankreich, wohin wir ja der Sprache wegen unsere Töchter auch in Pension schicken können.

Besuchen wir einmal eines der unzähligen jungen Mädchen, die alljährlich aus Deutschland in die französische Schweiz geschickt werden, in seiner Pension, gleichviel in welcher, und verleben wir einen Pensionstag mit ihm! Das Haus liegt in herrlicher Gegend; von den Fenstern seines mit neuen Polstermöbeln und bunten Handstickereien geschmückten Salons überblicken wir einen klaren See; am jenseitigen Ufer ragen stolze Berge, oder in der Ferne schimmert die Alpenkette. Besuchsstunde ist zwar noch nicht, denn es ist sechs oder einhalb sieben Uhr Morgens. Gleichviel, wir haben Eintritt.

Eine Glocke tönt durch's Haus, oder ein Klopfen an den Thüren der Schlafzimmer. Zwei, drei oder vier junge Mädchen theilen ein Zimmer; in manchen Pensionen schlafen fünfzehn bis zwanzig in einem Saal beisammen unter Aufsicht einer Lehrerin. Das Zeichen zum Aufstehen ist gegeben. Die schmalen Betten, zu denen der augenblickliche Insasse selbst die Leintücher mitbringen mußte, werden verlassen. Die Neulinge stammeln vielleicht noch halb traumbefangen ein paar Worte der Muttersprache, mit dem klaren Bewußtsein kehrt aber die Erinnerung zurück, daß hier nur französisch gesprochen werden darf. Eine Uebertretung dieses Gebotes muß die Uebelthäterin selbst anzeigen. Bei der Toilette bedient man sich selbst mitgebrachter Wäsche. Ist der Anzug in Ordnung, so kniet jeder Zögling zu kurzem Gebet vor seinem Bett nieder.

Eine gemeinschaftliche Morgenandacht vereint darauf die jungen Mädchen in einem der Schulräume. Ist diese beendet, wird das Frühstück eingenommen, das meist aus Kaffee oder Milch mit Weißbrod besteht.

Um acht oder, je nach der Hausordnung, um neun Uhr beginnt der Unterricht mit abermaligem Gebete. Jede Lehrstunde wird in französischer Sprache ertheilt. Um zehn Uhr wird eine Viertelstunde pausirt und ein kleiner Imbiß, meist ein Stück trockenes Brod, gegeben, das übrigens dort so weiß und locker wie unsere Semmel und frisch sehr wohlschmeckend ist. Um zwölf Uhr wird der Vormittagsunterricht geschlossen. In manchen Pensionaten beginnt er im Sommer schon um sieben und dauert bis elf Uhr. In diesem Falle gehört dann die letzte Vormittagsstunde dem Baden und Schwimmen; zu Beidem bietet der See prächtige und gefahrlose Gelegenheit. Die jungen Zöglinge erklären diese für die herrlichste Stunde des Tages, und wer in die fröhlichen Gesichter der Zurückkehrenden blickt, die oft noch vom triefenden Haare im buchstäblichsten Sinne des Wortes umflossen sind, glaubt dieser Versicherung gern.

Die Glocke ruft das frohe Völkchen zum Mittagessen in den Speisesaal. Jede bleibt vor ihrem Platze stehen, bis die Vorsteherin ein kurzes Gebet gesprochen hat; dann folgt allgemeines Stuhlrücken, und das eifrige Klappern von Tellern und Löffeln bezeugt, daß jedenfalls guter Appetit hier zu Hause ist. Die Serviette, die auf dem Schooße liegt, der Löffel, den man führt, das Besteck zur Seite des Tellers, Alles hat die Mama dem scheidenden Kinde noch in den Koffer gepackt, und mancher Gedanke mag jetzt der Heimath zufliegen, wo sie ja auch gerade um den Eßtisch versammelt sind. Wollen aber die Lippen mit der Nachbarin von der Heimath plaudern, so müssen sie französische Worte wählen. Allgemach verstummt das Klirren von Messer und Gabel: man ist fertig; erwartungsvolles Schweigen. Auf ein leises Zeichen der Vorsteherin erhebt sich die ganze Schaar und spricht ein kurzes Dankgebet; dann entfliegt sie fröhlich in den Garten. Nur zwei Schülerinnen, die heute Morgen schon den Kaffeetisch abgeräumt und die Tassen vielleicht sogar abgewaschen haben, bleiben auch jetzt zurück, um alles Eßgeräth von der Tafel zu entfernen. Nächste Woche aber eilen auch sie sofort nach Tisch lustig dem Garten zu, und zwei Andere müssen dafür den heutigen Dienst versehen.

Bis zwei Uhr Nachmittags ist Freizeit. Plaudernd oder die Aufgabe memorirend gehen die Mädchen im Garten auf und ab. Der Nachmittag ist meist dem Zeichnen und der Nadelarbeit gewidmet; auch die Aufgaben für den folgenden Tag werden abgeschrieben und gelernt. Um sechs Uhr wird das „Goûter“ genommen, das wie die übrigen Mahlzeiten mit Gebet begonnen und geschlossen wird. Nach dem Abendessen werden sämmtliche Zöglinge spazieren geführt. Nur Krankheit berechtigt, sich von diesem Spaziergange auszuschließen. Im Winter wird er nach dem Mittagessen unternommen.

Der Abend wird verschieden zugebracht; in dem einen Hause wird Aufgabenschreiben und Auswendiglernen fortgesetzt; in einem andern sind die Mädchen unter Aufsicht plaudernd und gesellig beisammen. Den Tag beschließt eine nochmalige Andacht. Dann setzt sich Madame oder Mademoiselle auf ihren Stuhl; die junge Schaar defilirt an ihr vorbei, und Jede sagt ihr mit einem Kusse „Gutenacht!“. Madame hält zu diesem obligaten Tagesschlusse resignirt ihre Wange hin mit einem Ausdrucke im Gesichte, den ein alter Vers etwa in die Worte übersetzt: Wie Gott will – ich halte still.

Bei dieser Tageseintheilung ist jeder clavierspielenden Schülerin eine bestimmte Stunde zum Ueben angewiesen. Auch zum Briefschreiben, zum Einkaufen (in Begleitung einer Lehrerin) sowie zum Durchsehen und Instandhalten ihrer Wäsche haben die jungen Mädchen bestimmte Tage und Stunden.

Zu den Vergnügungen gehören größere Ausflüge, Besuche bei befreundeten Familien und das Anhören von Concerten oder ausgewählten Theaterstücken. Während der Ferien wird der Unterricht unterbrochen; Ausländerinnen bleiben gewöhnlich in der Pension. Wenn die Eltern der Tochter die Mehrausgabe bewilligen, macht die Vorsteherin eine Bergtour mit ihren Pflegebefohlenen.

Die oben kurz entworfene Schilderung des Pensionslebens mag vielleicht da und dort eine kleine Abänderung erfahren; das eine Institut mag die Lehrzeit etwas früher oder später schließen, ein zweites vielleicht in den innern häuslichen Einrichtungen ein wenig von dem gegebenen Bilde abweichen, bei einem dritten mag die Zahl der gemeinschaftlichen Andachten und Gebete eine andere sein, im Großen und Ganzen aber wiederholen sich in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_844.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)