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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

mehr, es war denn in den kleinen Gesellschaften, innerhalb deren er seine abendliche Muße im Kaffeehause zuzubringen liebte.

So viel Zeit ließ ihm sein Advocatenberuf, daß während der Sessionen des Gesetzgebenden Körpers wohl kein Sitzungstag verging, an dem er nicht in einer der Zuhörerlogen dem Gange der Debatten aufmerksam folgte. Die elektrische Empfänglichkeit seiner südlichen Natur zeigte sich hier in dem Ungestüm, mit dem er Partei für die behandelten Fragen nahm, sich über einen oder den andern der Redner ereiferte und von Zeit zu Zeit, ohne daß er selbst es bemerkte, Zeichen des Beifalls oder der Mißbilligung laut vernehmen ließ. Jedesmal, wenn der Präsident sich genöthigt sah, eine Mahnung zur Mäßigung an die Zuschauer auf den Tribünen zu richten, gehörte Gambetta sicherlich zu Denjenigen, welche den Anlaß hierzu gegeben hatten.

Seine Freundschaften erstreckten sich denn auch bald in die parlamentarischen Sphären, und man lernte ihn hier schätzen als einen der einflußreichen radicalen Wahlagitatoren in den Vorstädten von Paris, besonders in dem Arbeiterviertel von Belleville, wie sich dies bei verschiedenen Gelegenheiten erwies. Emil Ollivier, der auch zu seinen Freunden gehörte, hatte sich sogar wegen seiner Wahl in Paris bei ihm zu bedanken. Als er seinen Sieg darnach durch ein Diner feierte, dem auch Gambetta beiwohnte, ließ er sich über seine Absichten aus, von jetzt ab nur noch dynastische Opposition treiben, die Existenz des Kaiserreiches dagegen nicht länger bekämpfen zu wollen. Eisiges Schweigen der republikanischem Festgenossen antwortete ihm. Ollivier wurde endlich unmuthig und rief: „Wohl, wenn meine Idee Euch nicht behagt, so bekämpft sie doch! Wir werden ja dann das Weitere zusammen vereinbaren können.“

„Das ist unnöthig,“ antwortete Gambetta, indem er sich erhob, „man geht mit seinen Freunden wohl bis an die Schwelle der Wohnungen gewisser Leute, aber man geht mit ihnen nicht hinein.“ Alle standen nach diesen Worten vom Tische auf, nahmen ihre Hüte und verließen die Wohnung, um sie nie mehr zu betreten.

Der große Schlag, mit welchem Gambetta aus dieser wenig bedeutenden Stellung plötzlich in die Höhen der Berühmtheiten stieg, geschah durch die Vertheidigung zweier angeklagten radicalen Blätter von Paris zu Ende des Jahres 1868. Dieselben hatten zu einer großen Volkswallfahrt nach dem Grabe des Abgeordneten Baudin aufgefordert, der gegen den Staatsstreich Napoleon’s vom 2. December 1851 protestirt und beim Beginn des Straßenkampfes dann durch eine Kugel aus den Reihen der Truppen seinen Tod gefunden hatte. Außerdem war von jenen Journalen als eine nicht minder mißverständliche Demonstration gegen das Kaiserreich eine Subscription für ein Denkmal Baudin’s, „des Märtyrers des Rechtes und der Freiheit“, eröffnet worden. Gambetta’s Vertheidigung war eine furchtbare Kritik des Staatsstreiches, eine kühne Anklage gegen das darauf gegründete Kaiserreich, eine flammende Verherrlichung der gemordeten Republik. Ungeheuer war die Wirkung dieser Rede in Paris, in Frankreich, im Auslande, und sie galt mit Recht nicht nur als ein Meisterstück politischer Beredsamkeit, sondern auch als ein Kriegsmanifest der wieder erstarkten republikanischen Partei gegen das Kaiserthum. Es konnte daher nicht fehlen, daß bei den allgemeinen Wahlen 1869 auch Gambetta von der radical gesinnten Partei als eine neue, Zukunft verheißende Kraft auf den Schild erhoben wurde. Paris und Marseille stritten sich um ihn; er nahm für Marseille an und statt seiner wählte Paris-Belleville den Laternenmann Henri Rochefort in die Kammer.

Diese Beiden bildeten in jener von der Regierung so gefürchteten Gruppe der unversöhnlichen Republikaner in der Kammer die enfants terribles. Aber Gambetta imponirte zugleich durch die seltene Begabung als Redner, durch die Reinheit seines Idealismus, durch die Wahrheit der Ueberzeugungen, die ihn erfüllte. Er war unbestritten jetzt der Führer der radicalen Partei, die auf den Zusammensturz des Kaiserreiches, wie auf den Losbruch eines schon nahenden Gewitters wartete.

In dem Augenblick, da Sedan das Grab des Kaiserthums geworden, nahm diese Partei denn auch die öffentliche Gewalt als eine berechtigte, seither ihr vorenthaltene Erbschaft in Besitz. Gambetta drängte in der ersten Verwirrung über die Schreckensnachricht von der Capitulation der letzten großen Armee im Felde am energievollsten zu dem Entschluß, die Republik zu proclamiren, die Dynastie Napoleon für abgesetzt zu erklären und eine provisorische Regierung zu bilden, welche die „nationale Vertheidigung“ als ihr vornehmstes Ziel betrachte. Am 4. September geschah es. Als ein Triumphator zog Gambetta mit den Abgeordneten der Opposition durch die Straßen von Paris umrauscht vom Zuruf einer sich dicht herandrängenden Menge, nach dem Stadthause. Zu der hier sogleich eingesetzten Regierung, die aus elf Abgeordneten erwählt wurde, gehörte auch er als Minister des Innern. Das Kaiserreich war nicht mehr, aber die Republik, die wiedererstanden, mußte im Feuer der Schlachten und Siege erst erstarken, und das bildete den neuen Ehrgeiz dieser leidenschaftlichen Natur.

Er dachte, um dies zu ermöglichen an die Massenaufgebote des französischen Volks unter der großen Revolution; er dachte noch lebhafter an die Kriegskunst des zum Präsidenten der amerikanischen Republik erhobenen General Graut. Ein Jahr zuvor erst, wie wenn eine Ahnung des Kommenden, ihm Beschiedenen, ihn dazu angeregt, hatte er in der „Revue Politique“ einen glänzenden Artikel über Ulysses Grant geschrieben, sowohl um ihn als einen großen Bürger der freien Republik wie auch als einen genialen Heerführer zu verherrlichen. Wenn man heute diese seine Schilderung von Grant’s Thaten liest, muß man nicht über sie stutzen, indem man an die Rolle Gambetta’s während des Krieges von 1870 denkt? Ist es nicht wie ein Programm dessen, was er wollte, nachdem er aus einem Advocaten der Schöpfer, Lenker und Leiter, der oberste Feldherr der nationalen Vertheidigung geworden? Und so mächtig muß das Selbstgefühl, die Energie, die Idee des jungen Advocaten auf seine Regierungscollegen gewirkt haben, daß sie ihm in der That die souveräne Macht eines Dictators für die Regierung und die nationale Vertheidigung in den Provinzen übertrugen. Mit diesem Decret in der Tasche, das ihn zum absoluten Herrn Frankreichs außerhalb Paris erhob, vertraute Gambetta sich am 7. October einem Luftballon an, der ihn hintragen konnte, er wußte nicht wohin, der ihn unter dem Aufschwung zu den stolzesten Hoffnungen jählings in den elendesten und gräßlichsten Tod konnte stürzen lassen. Solch eine Großthat persönlichen Muthes eröffnete die außerordentliche Laufbahn, die er nun als Retter des Vaterlandes sich selbst gebrochen.

Bei Montdidier kam Gambetta glücklich mit seinem Ballon zur Erde. Am 9. October war er in Tours, wo er nun seine Residenz, seine Regierung, sein Hauptquartier aufschlug. Von Paris aus hatte er eine Proclamation mitgebracht, welche seine Mission den Franzosen ankündigte; sie war von allen Pariser Regierungsmitgliedern mitunterzeichnet. Sogleich ließ er sie veröffentlichen. Er sprach hier mit den Feuerworten der Begeisterung, wie einst Danton, als er das Vaterland zu befreien schwur. „Das Erste von Allem ist, Franzosen,“ hieß es darin, „daß Ihr Euch jetzt durch keine andere Beschäftigung in Anspruch nehmen lasset, als durch den Krieg, den Kampf bis auf’s Messer… Alle unsere Hülfsmittel, die ungeheuer sind, müssen wir an das Werk setzen… und endlich den nationalen Krieg feierlich erklären… Erheben wir uns in Masse – –!“

Die Worte zündeten, und bald sah man, daß ihnen die Thaten folgten. Vier Tage nach seiner Ankunft in Tours erschienen schon die ersten Organisationsdecrete Gambetta’s; die herkömmliche Avancementsliste nach Maßgabe der Dienstzeit wurde aufgehoben und freie Beförderung der Officiere nach ihren Leistungen verheißen. Es folgten Bestimmungen über die Neubildung von Armeen in allen Provinzen, über die Fortschaffung der Lebensmittel, die den Feind ernähren könnten, über die Organisation des Volkskrieges, Aufhebung und Zerstörung der Verkehrsmittel beim Nahen des Feindes. Am 2. November wurden alle waffenfähigen Männer zwischen einundzwanzig und vierzig Jahren einberufen und damit die allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Arbeiterbataillone und Freischaaren wurden ihrer Organisation überwiesen, alle Ingenieure, Architekten, Beamten, je nach Bedarf, der Landesvertheidigung zur Verfügung gestellt und endlich große Lager an elf Orten in Frankreich angeordnet.

So wuchsen denn in Wahrheit unter der kriegerischen Erregung, die sein Wort und Anfeuern verbreitete, die neuen Armeecorps, die er decretirte, wie aus dem Boden. Aus den Trümmern der eben vor Orleans geschlagenen Corps erstand die Loire-Armee, die in sechs Wochen auf 180,000 Mann gebracht war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_016.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)