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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Bei der Madonna von Dietrichswalde.

Es war an einem großen Erscheinungstage der „Frau der Welt und der Königin des Himmels“, deren persönlichem Eingreifen die römische Kirche in diesem Jahre eine so reiche Ausbeute triftigster Wunder und wichtigster Offenbarungen verdankt, als ich des Morgens zum Zweck der Reise nach dem neuesten Wunder- und Heilsorte, Dietrichswalde, auf dem Bahnhofe in Deutsch-Eylau eintraf. Perron und Wartesaal waren ganz ausnahmsweise von einem Publicum belebt, welches, abgesehen von vielleicht einigen Handelsreisenden, zumeist den gläubigen Menschenschichten angehörte.

Da war zunächst eine Gesellschaft von eleganten, in vierspännigen Carossen angelangten Polinnen, welche an großen kirchlichen Tagen herkömmlich niemals zu verabsäumen pflegen, die heilige Jungfrau mit frommem Schaugepränge um eine vertrauliche Auskunft darüber anzuflehen, welche glänzenden Culturziele dem Polenvolke wohl noch bei seiner besonders glücklichen Beanlagung zum Wallfahren in Aussicht stehen. Da war auch in übersichtlicher Gruppirung um einen frommen Caplan „der liebliche Reigen der Jungfrauen“ aus der mittleren Gesellschaftsclasse im Alter zwischen siebenzehn und zwanzig Jahren, mit sehr entwickelten, auf’s Knappste in moderne Roben gezwängten Formen und dem von der römischen Geistlichkeit so überaus geschätzten frommen Taubenblick. Alle aber harrten in andachtsvoller Hoffnung des nächsten Bahnzuges, welcher sie der großen Heilsverkündigung zuführen sollte.

Als dieser nun, mit zwei Maschinen voraus, zischend und brausend herankam, da war er mit heilsbedürftigen Pilgern, zumeist des engelgleicheren Geschlechts, bis zum letzten Platz gefüllt. Es mußte erst noch eine Anzahl Wagen angehängt werden, bevor ich mit dem vorerwähnten geistlichen Herrn und acht von den seiner frommen Leitung überlassenen „schönen Kindern“ ein angenehmes Unterkommen fand. Es gewährte ein hübsches, freilich etwas modernes Wallfahrtsbild, als wir zu fünf und fünf, der Geweihete mir schräg gegenüber und einem Jeden von uns vier im Engelsschmucke der Unschuld prangende Jungfrauen zur Rechten, dem heiligen Erscheinungsbaume zusausten. Der geistliche Führer, sei es, daß meine Anwesenheit seine vorhin so muntere Conversationslaune zügelte, oder daß, was wohl wahrscheinlicher, die erhabene Bedeutung des heutigen Tages plötzlich seinen Geist ganz erfüllte, setzte sich mit würdevollem Ernst in seiner Ecke zurecht, zog ein Proprium de Sanctis aus der Tasche und versank bald tief in die gewiß andächtigsten und apostolischsten Betrachtungen. So langten wir auf dem Bahnhofe in Osterode an.

Obgleich hier Stadt und Umgegend durchweg evangelisch ist, herrschte doch, wohl aus allgemein christlicher Theilnahme, eine sehr gehobene katholische Feiertagsstimmung, die freilich mehr einem derben Humor der Entrüstung über das Unerhörte dieses Vorganges ähnlich sah. Namentlich zeigte die männliche Seite der Bevölkerung einen für die hochgelobte Jungfrau äußerst schmeichelhaften Wallfahrtsdrang, der in seinem unzügelbaren Eifer durchaus entschlossen schien, heute ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. So wurden denn nach einem weihevollen, festfreudigen „Hurrah“ auf die großen Bierfässer, welche zur Verladung nach der Wallfahrtsstätte auf dem Perron anlangten, die Waggons um einen – wenn auch nur – Stehplatz förmlich erstürmt, wobei es natürlich hin und wieder zu vielfachen mündlichen wie handlichen Achtungsversicherungen kam. Unser andächtiges Coupé rettete vor dieser Ueberfallsnoth nur meine schnell in die Thür verpflanzte Körperbreite, wofür man mich zwar mit dem freundlichen Titel „Wallfahrtsvater“ bereitwillig ehrte, dagegen die unschuldvollen Kinder hinter mir mit der kränkenden Bezeichnung „Grünfutter für Pfaffen“ und „Schwindelrekruten“ an ihrer Ehre empfindlich und ohne alle Motivirung verletzte. Doch plötzlich intonirte in einem vorderen Wagen ein schon etwas herabgekommener Männerchor den bekannten Schlußrefrain: „Wir fahren auf der Eisenbahn, so lang’ es uns gefällt,“ und unter den Klängen dieses auf Wallfahrtszügen bisher noch wenig gebräuchlichen Liedes glitt der Zug zum Bahnhofe hinaus und bis Station Bisellen, von wo Dietrichswalde zu Fuß in fünfviertel Stunden bequem erreicht werden kann.

Der kleine, mehr für ein stilles und beschauliches Leben geschaffene Bahnhof in Bisellen gewährte ein Bild der äußersten Aufgeregtheit. Hunderte von Menschen lagerten rings umher auf Perron, Plätzen, Straßen und rasteten von weitem Marsche oder verlangten nach einer Stärkung, welche ihnen die Bahnhofsrestauration gewähren sollte. Allein in diese überhaupt nur hineinzudringen und dann noch den Menschenschwall bis zum begehrten Genußmittel zu durchfurchen, gehörte so sehr in den Bereich der Unmöglichkeit, daß es selbst meinem frommen Coupégefährten nicht gelang, über die hinterste Queuereihe hineinzukommen. Und obschon derselbe im Vertrauen auf die hier nun schon wieder wehende katholische Luft und das in dieser gemeinhin so vollwiegende priesterliche Ansehen mit ehrwürdigstem Gebahren auftrat, so standen heute doch weder die priesterliche Erhabenheit, noch das fromme, schwarze Kleid in ihrem sonstigen hohen Werthe. Er mußte nach allseitig vergeblichen Anstrengungen mit unbefriedigten Wünschen wieder in den Kreis seiner frommäugigen Schützlinge zurückkehren, und bald sah man ihn mit diesen den Weg zum Baume der Offenbarung andächtig hinwandeln. Auch ich hatte weiter keine dringende Veranlassung, mich dem Wellenschlage des hochgehenden Glaubensenthusiasmus vorzuenthalten, that gänzlich von mir den Dünkel der Weltweisheit und brach auf, die Wunder des Tages zu schauen.

Aus der Landstraße über das nahe Dorf Podleiken und von da über die Passargebrücke nach Dietrichswalde pilgernd, war ich bald ein Tropfen in dem unendlichen Pilgerstrome, der zu Fuß und zu Wagen rauschend dahinfloß. Nach wenigen Minuten schon wurde Podleiken erreicht, wo von Westen her in den unseren ein anderer Strom unter mehr oder minder ernsten Verstopfungsfällen einfiel. In diesem schienen einige gar gottselige Gruppen zu schwimmen, deren machtvoller Lobgesang die Herzen der gläubigen Waller um mich sichtlich erschütterte. Als ich aber jenseits der Passargebrücke, schon nicht mehr allzufern vom heiligen Orte, einen rechts am Wege belegenen Hügel bestieg, da hatte ich vor mir das lebensvolle Bild einer wahren Völkerwanderung. Alle Wege zum Wunderorte waren ununterbrochene Menschenströme und unzählig die Menge, welche Dorf und Umgebung schon weithin bedeckte. So zogen wohl einstens die Juden jährlich aus gen Jerusalem, ihr großes Fest der Flucht aus Aegypten, das Passah, zu feiern. Freilich war das alte Passah nur ein pures historisches Erinnerungs- und allenfalls Dankfest der Juden und schon kaum mit einem christlichen Feste überhaupt, geschweige mit der heutigen so verheißungsvollen Erscheinungsfeier zu vergleichen. Denn heute kommt ja die hohe Himmelskönigin selber daher, steigt in hingebender Selbstverleugnung auf den unbequemen Ahorn und dictirt von diesem unscheinbaren Thronsitze herab durch zweier unschuldiger Kinder Mund dem Herrn Pfarrer Weichsel die allerneuesten und wichtigsten göttlichen Regierungsabsichten direct in die Stahlfeder. Wahrlich, ein christliches Fest von erhabenster Bedeutung, voll unbemessener Inbrunst und staunenswerthester Wunder!

Im Wiederanschluß an meinen lebendigen Strom gelangte ich langsam in die Nähe des Dorfes, noch langsamer hinein und endlich sogar bis an eine freundlich einladende Schankbude, wo ich, die frommen Pilgerreihen verlassend, bei einem Glase „Osteroder Bairisch“ die heiß begehrte Erquickung fand.

Die hier bereits angesiedelte Gesellschaft, anscheinend beamtete Städter und ländliche Besitzer, war sichtlich bemüht, die göttliche Erscheinung des Tages nicht von ihrer hohen, übernatürlichen Bedeutung, sondern mehr von dem lockern Standpunkte einer weltlich-fröhlichen Herbstbelustigung aus zu würdigen. Vornehmlich war es ein wohlbeleibter, katholischer Herr, welcher mit einer der erhabenen Tagesfeier offenbar feindlichen Kritik seine spottfreudigen Biergenossen unerschöpflich belustigte. So betitelte dieser wohl freimaurerische und schlimme Mann das heutige Offenbarungsfest „einen lustigen Civilisationsscherz“, die hehren und göttlichen Baumerscheinungen „lucrative Gauklervorstellungen“, jene frommen, die göttlichen Offenbarungen so getreulich aufzeichnenden Priester sogar „Mogelcollegen“, und die aufgestellten großen Opferbüchsen „große Gründertaschen“. Auch das heute doch so glückselige Volk verspottete er als „stumpfsinnig“, nannte es „betrogen, mißleitet, ein Spielzeug der Habsucht und Gleißnerei“,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_029.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)