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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Schlosses mit ihren Schutthaufen besah und mich in Gedanken erging über den Zustand des Zimmers, wo ich mit dem Kaiser gespeist hatte, war ein wohlgekleideter Herr da, der sich von einem Blousenmanne herumführen ließ – vielleicht aus Paris herausgekommen. Ich konnte deutlich verstehen, was sie redeten; denn sie sprachen laut, und ich habe ein gutes Gehör. ‚C’est l’oeuvre de Bismarck‘ sagte der in der Blouse. Der Andere aber erwiderte blos: ‚C’est la guerre.‘ Wenn die gewußt hätten, daß ich’s gehört hatte!“

Hieran anknüpfend, fuhr er fort, in Ricolsburg wäre er einmal in Civil ausgegangen, und da hätte er zwei Gensd’armen getroffen, die einen Mann arretiren gewollt. „Ich fragte, was er verbrochen hätte, bekam aber als Civilist natürlich gar keine Antwort. Da erkundigte ich mich bei ihm selber, und er sagte mir, es wäre, weil er sich über den Grafen Bismarck unehrerbietig geäußert hätte. Beinahe hätten sie mich auch mit fortgenommen, weil ich sagte, das hätten wohl Viele gethan.“

„Das erinnert mich daran, daß ich mir einmal selbst ein Hurrah habe ausbringen müssen. Es war Sechsundsechszig, beim Einzuge der Truppen, Abends. Ich war gerade krank, und meine Frau wollte mich nicht ausgehen lassen. Ich ging aber doch – heimlich, und wie ich beim Palais des Prinzen Karl wieder über die Straße will, ist da ein großer Haufen Menschen beisammen, die mir eine Ovation bringen wollen. Ich war in Civil und muß ihnen mit meinem hohen Hute, den ich in die Stirn gedrückt hatte, ich weiß nicht weßwegen, verdächtig vorgekommen sein, und Einige machten eine feindliche Miene, sodaß ich für’s Beste hielt, in ihr Hurrah einzustimmen.“




Doppeltes Bewußtsein.
Von Dr. Ludwig Büchner.

Wenn man sich in der Seelenlehre des Menschen (oder auch der Thiere) umsieht, so stößt man mitunter auf gar merkwürdige Dinge. Eine der merkwürdigsten Erfahrungen hat man neuerdings bezüglich des sogenannten doppelten oder alternirenden (abwechselnden) Bewußtseins gemacht. Bisher hielt man das menschliche Bewußtsein für etwas durchaus Einheitliches, Unveränderliches und Untheilbares. Nun hat man aber Fälle beobachtet, wobei derselbe Mensch an verschiedenen Tagen oder zu verschiedenen Zeiten ein ganz und gar verschiedenes Bewußtsein hat und an dem einen Tage nichts von dem weiß, was an dem anderen mit im vorgegangen war, während die einzelnen getrennten Tage unter einander einen regelmäßigen Erinnerungszusammenhang haben. Oder, mit anderen Worten, der Mensch ist ein doppelter oder zu bestimmten Zeiten ein sich selbst durchaus fremder, der sich, seine Umgebung, seine Wohnung nicht mehr kennt, an seiner eigenen Existenz zweifelt und sich wie ein Mensch fühlt, der eben erst auf die Welt gekommen ist. Die Ursache dieses merkwürdigen Zustandes ist höchst wahrscheinlich keine andere, als ein vorübergehender Krampf der einen bestimmten Theil des Mittelhirns ernährenden Blutgefäße, wodurch dieser Theil eine Zeitlang in seiner Ernährung und damit auch in seiner Verrichtung gestört oder beeinträchtigt wird.

Den ersten bestimmten Fall dieser Art hat der berühmte holländische Arzt Schröder van der Kolk beobachtet und in seiner „Pathologie und Therapie der Geisteskrankheiten“ (Braunschweig, 1863) beschrieben. Er besuchte ein zwanzigjähriges Mädchen, das sieben Jahre vorher eine langwierige Krankheit überstanden hatte und nun an dieser eigenthümlichen mit Krampfzufällen verbundenen Bewußtseinsstörung litt. Sie war an dem kranken Tage ein gänzlich verändertes Wesen, läppisch und kindisch, ohne Bewußtsein oder Erinnerung des vorhergehenden Tages, und mußte an einem solchen Tage mit großer Anstrengung etwas lernen, das sie an dem gesunden Tage bereits vollkommen wußte. So war sie an dem letzteren ein recht gescheidtes Mädchen, sprach gut französisch und deutsch und zeigte sich sehr belesen. Am folgenden Tage wußte sie von Allem nichts und hatte nur Erinnerung an den kranken Tag, während das Gedächtniß des gesunden Tages nur mit dem zweitvorhergehenden oder hellen Tag correspondirte. Dies ging so weit, daß sie an dem läppischen oder kindischen Tage wieder französisch zu lernen angefangen, aber nur geringe Fortschritte gemacht hatte, während sie es am folgenden Tage ganz fließend sprach. Verbrachte man sie an dem kranken Tage an einen bestimmten Ort, so wußte sie am gesunden Tage nicht, wie sie dahingekommen war. Schröder van der Kolk besuchte sie vierzehn Tage hindurch stets an dem kranken Tage, wobei er jedesmal von ihr erkannt wurde. Als er aber zuerst an einem gesunden Tage zu ihr kam, war er ihr vollkommen fremd; sie konnte sich nicht entsinnen, ihn je gesehen zu haben. Dieser merkwürdige Wechsel war bereits seit vier Jahren ununterbrochen mit der größten Regelmäßigkeit eingetreten.

Noch viel merkwürdiger sind die von Dr. Krishaber in Paris gemachten Beobachtungen (Paris 1873), über welche der berühmte französische Philosoph H. Taine im dritten Hefte der „Revue philosophique“ vom Jahre 1876 berichtet, indem er hinzufügt, „daß diese Berichte belehrender seien, als ganze Bände voll Metaphysik über die Substanz des Ich.“ Der Kranke, sagt Dr. Krishaber, ist keineswegs verrückt und vollständig vernünftig; er erklärt seine Einbildungen selbst für falsch. Um so auffallender ist der in der Regel ganz plötzlich eintretende Anfall. Man kann den Zustand des Patienten am besten mit demjenigen einer Raupe vergleichen, welche, indem sie ihre Raupenerinnerungen beibehält, plötzlich zu einem Schmetterlinge mit allen Sinnen und Empfindungen desselben geworden ist. Zwischen dem alten und neuen Zustande oder zwischen dem Raupen- und Schmetterlingsbewußtsein gähnt ein tiefer Abgrund; die neuen Empfindungen können nicht an die alten anknüpfen, und der Kranke kann sich selbst in denselben nicht wiederfinden. Daher derselbe einmal zu dem Schlusse kommt. „Ich bin nicht“, und zum Zweiten zu dem Schlusse: „Ich bin ein Anderer“. Ein Kranker gab an, daß, wenn er sprach, seine eigene Stimme ihm diejenige eines Fremden schien. Alles um ihm her schien ihm so verändert, als ob er sich auf einem anderen Planeten befände, oder als ob er eben erst auf die Welt gekommen sei. Alle Beziehungen seines Geistes zu dem, was ihn umgab, und zu seiner Vergangenheit hatten aufgehört. Er konnte seine Wohnung nicht wiederfinden, auch wenn er ganz in ihrer Nähe war, und brach darüber in Thränen aus.

Ein anderer Kranker dieser Art sagte nach seiner Genesung aus, er habe sich wie ein neugeborenes Kind gefühlt oder wie Caspar Hauser, als er seine Zelle verließ. Er erklärte, daß er weit, weit fort sei, obgleich er sehr wohl wußte, daß er zu Hause sei, aber zwischen dem Augenblicke, der seinem Anfalle vorhergegangen, und demjenigen, der ihm gefolgt war, schien ihm eine unermeßliche Entfernung zu liegen, eine Entfernung, so groß, wie diejenige der Erde von der Sonne. Auch Dinge und Menschen um ihn her schienen ihm endlos entfernt, und er konnte nicht begreifen, daß der Kutscher eines Wagens, den er genommen hatte, seinen Zuruf verstand, denn seine eigene Stimme erschien ihm fremd und weit entfernt. Er mußte unerhörte Anstrengungen machen, um zu begreifen, daß er Er selbst sei, daß er durch die Straße gehe, seinen Kutscher rufe etc. Er hatte das Gefühl, als ob seine Beine oder Arme nicht ihm gehörten, sein Kopf nicht der seinige sei, und als ob er nur wie ein Automat handle. Er sah gewissermaßen wie ein unbetheiligter Zuschauer den Handlungen dieses seines zweiten Ich zu, welches er haßte und verachtete. Er würde sich getödtet haben, wenn er nicht das brennende Verlangen gehabt hätte, wieder Er selbst zu werden und seine alte Welt wieder zu erblicken.

Ein dritter Kranker hatte die Empfindung, als ob er überhaupt nicht mehr existire. Er betastete seinen Körper und fühlte ihn; trotzdem hatte er große Mühe, an dessen Wirklichkeit zu glauben. Erst später und nach und nach lernte er es, seiner neuen Empfindungen sich zu bedienen und nicht mehr davor zu erschrecken, daß er, wie es ihm schien, allein in einem ganz fremden Lande sei. In diesem zweiten Stadium pflegt dann der Kranke nicht mehr zu sagen: „Ich bin nicht“, sondern: „Ich bin ein Anderer“. In diesem Stadium zeigen die Aeußerungen fast

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_101.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)