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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ist dies doch die Erntezeit der Fische, in der sich Alles, vom ersten Popen bis zum letzten Ostiaken, wie man hier zu sagen pflegt, „unten“ befinden das heißt weiter stromabwärts, wo die reichsten Fischgründe, sogenannte Sandbänke (Peski) sind.

Nachdem glücklich vier Mann gemiethet worden waren, gingen wir wohlgemuth unserem Ziele entgegen, dem Hechtfluß, wie die Uebersetzung aus dem russischen „Schtschutschja“, dem samojedischen „Pere-ja“ und dem ostiasiatischen „Sort-johan“ übereinstimmend lautet. Es ist dies der nördlichste linke Nebenfluß des Ob, der im Ural entspringt, nicht weit von den Quellen eines anderen Flusses, der Podarata (auf den Karten meist irrthümlich als Baidarata bezeichnet), die sich aber nördlich dem karischen Meerbusen zuwendet. Vor uns war dieses Gebiet zoologisch nur 1772 durch Sujef untersucht worden.

Wir hatten uns elf Tage lang mit Rudern und Ziehen, selten durch Segelwind unterstützt, die unzähligen und ermüdenden Schlangenwindungen des Hechtflusses hinaufgearbeitet und waren an dem Punkte angelangt, wo Untiefen und Stromschnellen dem weiteren Vordringen der „Lotka“ Halt geboten. Wir lagerten auf der offenen Tundra des linken Ufers, und unsere eingeborenen Führer berieten über die weitere Fortsetzung der Reise. Nach fast zwei Stunden hatten sie sich dahin geeinigt, daß Kundschafter auf die Tundra nach Renthieren geschickt werden sollten, die irgendwo hier herum weiden mußten. Aber Keiner wußte über das Wo und Wann nur annähernd sichere Kunde zu geben, selbst nicht Haiwai, ein lebhafter samojedischer Bursche von Sadapai, jenseits der Podarata her, der Einzige, welcher neben dem alten Dschumschi über die Gegend und die einzuschlagende Route einigermaßen unterrichtet war. Da als bestimmt angenommen wurde, daß wir auf dem Wege nach der Podarata Renthierheerden begegnen müßten, so entschlossen wir uns insgesammt aufzubrechen und traten, elf Mann hoch, nur auf neun Tage mit den nothdürftigsten Lebensmitteln versehen, den Marsch über die Tundra an. Dieses der siranischen Sprache entlehnte Wort, welches so viel wie „baumloser Ort“ bedeutet, ist sehr bezeichnend, denn in der That charakterisiren sich diese Einöden der arktischen Zone vor Allem durch gänzlichen Mangel an Baumwuchs. Da bei verschiedenen Völkern die Begriffe auch in Bezug auf Gegend sehr verschieden sind, so haben Samojeden und Ostiaken ebenso wenig Unrecht, die Tundra „Sawoja“ respective „Jandaja“, das heißt „guter Ort“ zu nennen. Man muß die Tundra selbst gesehen haben, um sich von ihr ein richtiges Bild zu machen. So weit das Auge reicht, hat es nichts als eine unendliche ockerbräunliche oder weißfahle Moosfläche vor sich, oder die farblos grünen Felder der mit Zwergbirken bewachsenen Strecken, jenem krüppelhaften, am Boden hinkriechenden Pflanzengebilde, das man kaum Strauch, geschweige Baum nennen kann. Kahle grauliche oder gelblichfahl scheinende Hügelreihen stimmen mit dieser Einöde so recht überein, die übrigens nicht alles Reizes bar ist. Denn öfters begegnet man kleinen oder größeren Teichen und Seen mit tiefblauem Wasserspiegel, während weiter nördlich die am Horizonte auftauchende Kette des Ural mit ihren schneebedeckten Schluchten und Schlünden der Landschaft einen erhöhten Reiz verleiht.

Noch bedeutend schneller als das Auge ermüdet der Schritt des Wanderers, denn es werden ihm hier Zumuthungen gemacht, die selbst der an größere und beschwerliche Fußtouren Gewöhnte sich nicht vorstellen kann. Nirgends findet der Fuß sicheren Halt; überall sinkt er, meist bis über die Knöchel, ein oder muß sich aus den Verschlingungen der Zwergbirkenranken mit Gewalt losreißen. Es gilt bei jedem Schritte das Bein ungewöhnlich hoch zu erheben, und diese Gangart ermüdet in ganz außerordentlicher Weise. Oft giebt es weite Sumpfstrecken zu überqueren, auf denen man bis über die Kniee einsackt, oder man hat mühsam von einem Klumpen Büschelgras auf den anderen überzuspringen, kurzum, die Beschaffenheit des Terrains bietet überall so viel Schwierigkeiten, daß man sich wie auf einem Trottoir vorkommt, wenn man stellenweise die kahlen Höhenzüge mit ihrer festen Unterlage benutzen kann. Zu alledem gesellt sich eine andere Plage, eine wahrhaft entsetzliche, die der – Mücken, welche nur Derjenige zu begreifen versteht, der von dieser charakteristischen Erscheinung thierischen Lebens des arktischen Sommers aus eigener Erfahrung sprechen kann.

So hatten wir uns zwei Tage lang fortgequält, als die Nachricht, daß Dschums, das heißt Zelte der Eingebornen, zu sehen seien, Leben in die Gesellschaft brachte. Da unsere große Zahl die Leute erschrecken und möglicher Weise verjagen konnte, so wurden zwei im Verkehr mit den Eingebornen bewährte Männer als Kundschafter abgesandt, denen wir später folgten. Gegen Abend sahen wir mit dem Glase auf einem Hügel weidende Renthiere, was natürlich zu vermehrter Eile antrieb, denn unsere Leute schmatzten schon im Vorgefühl der reichen Mahlzeiten mit den Lippen. Leider sollten die Hoffnungen, welche wir auf diese erste Begegnung mit Renthieren gesetzt hatten, nur zum kleinsten Theil erfüllt werden, denn ein böser Feind war vor uns hier eingezogen: die Seuche. Dzäungiä, ein reicher Ostiak und der Heerdenbesitzer, kam uns mit zwei Schlitten entgegen, um uns in’s Lager abzuholen, und wir genossen das erste Mal den Anblick schnellfahrender Renthiergespanne, ein Anblick, der nicht nur wegen seiner Neuheit, sondern auch der Originalität wegen außerordentlich imponirt.

Schon auf der kurzen Strecke bis zum Lager hatten wir Gelegenheit, die verheerenden Folgen der Seuche kennen zu lernen, denn wir zählten etliche siebenzig todte Thiere. Bei weitem entsetzlichere Bilder bot das Lager selbst. Ueberall todte oder mit dem Tode ringende Renthiere, blutige Cadaver der abgehäuteten Kälber, an denen schlecht aussehende spitzartige Köter nagten. Weiber waren mit dem Abbruch der Zelte beschäftigt, banden Schlitten zusammen und beluden sie mit den wenigen Habseligkeiten; andere spannten Renthiere ein; kurzum es wurde aufgebrochen. So zogen wir denn, diesmal als Fahrgäste, mit in der langen Reihe hinter einander gekoppelter Gespanne und überzeugten uns, wie gut es sich im Sommer mit Schlitten fährt. In der That ist die Beschaffenheit der Tundra, sei es nun sumpfige Niederung, weiche Moosdecke oder das Gestrüpp der elastischen Zwergbirken, ganz geeignet, den Schlitten auf weicher Unterlage gleiten zu lassen, und das Renthier das einzige für solche Gegenden passende Zugthier. Nach kurzer Fahrt hielten wir auf einem Hügel, und fast ebenso schnell, wie sie abgebrochen worden waren, wurden die Dschums von den Weibern wieder aufgebaut. Dzäungiä ließ sogleich zu unserer Ehre einen prächtigen selten Renochsen schlachten, und wir genossen, wenn auch nicht sein Fleisch, doch den Anblick einer Mahlzeit, wie man sich dieselbe unter Cannibalen nicht gräßlicher ausmalen kann. Kaum war nämlich das Thier abgehäutet und ausgeweidet, was ebenso geschickt wie schnell ging, so begann auch schon das Blutmahl, an dem sich selbst unsere Siranen und Russen mit sichtlichem Behagen betheiligten. Die geöffnete Leibeshöhle des Schlachtopfers war einer riesigen Schüssel zu vergleichen, die anstatt Sauce rauchendes, warmes Blut enthielt, in welches die Essenden lange Fleischstücke eintauchten, um sie roh und blutig zu verschlingen. Als besondere Delicatessen galten die Luftröhre, die mit Fett besetzte Ohrmuschel, der Gaumen, die inneren Theile und vor Allem die Markknochen.

Nachdem wir uns in Dzäungiä’s Dschums eingerichtet hatten, wo es noch immer besser und wärmer war als im Freien, konnten die Verhandlungen mit ihm beginnen, denn erst als er nackend in seinem Pelze am Feuer saß, fühlte er sich in seiner ganzen Würde als Dschum- und Heerdenbesitzer. Freilich war dieses Besitzthum unter den obwaltenden Verhältnissen ein gar precäres, und die Nachrichten Dzäungiä’s lauteten auch für uns wenig erfreulich. Er erzählte uns, daß er von jenseits der Podarata heimkehre und daß ihm von zweitausend Renthieren kaum noch dreihundert übrig geblieben, die anderen alle der Seuche erlegen seien. An einem Tage hatte er an fünfhundert verloren. Unter solchen Umständen fand ich es begreiflich, daß er auf den Vorschlag, uns mit seiner Heerde nach der Podarata zu begleiten, nicht eingehen konnte; besaß er doch kaum noch Fahrthiere genug für seine eigne Habe. So war ich froh, daß er nach mehrstündigen Verhandlungen einwilligte, uns wenigstens neun Reb (à sechs Rubel) und drei Schlitten zu verkaufen, mit denen wir andern Tags in nordwestlicher Richtung weiter zogen. Damit war immerhin Erleichterung geschaffen, denn mußten wir auch nach wie vor zu Fuße gehen, so konnten doch die Leute von den schweren Bürden, wenigstens theilweise, erleichtert werden.

Auf unserer ferneren vierzehntägigen Tundrawanderung begegneten wir allenthalben den Verwüstungen, welche die Seuche angerichtet hatte, und erlebten Scenen, die uns für immer unvergeßlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_185.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)