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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

bleiben werden. Wahrhaft erschreckend ist der furchtbar rapide Verlauf der Krankheit. Anscheinend völlig gesunde kräftige Thiere bleiben stehen, fangen an zu keuchen, zu schnauben und zu zittern, kreuzen die Vorderbeine, fallen um und sind todt. Dies geschieht oft in kaum mehr als drei Minuten, meistens aber dauert es länger, oft bis eine Stunde. Die Thiere rennen zuweilen, wie von innerer Angst gequält, umher, suchen selbst in die Zelte einzudringen, stürzen, erheben sich wieder, versuchen der Heerde zu folgen und verenden unter schaurigen convulsivischen Zuckungen der Extremitäten, oder ganz ruhig, sodaß nur der mächtig arbeitende Leib und das heftige Röcheln noch Leben verrathen. Bejammernswerth ist es die Kälber zu sehen, welche unter ängstlichem Grunzen wild unter der Heerde umherrennen, um ihre Mutter zu suchen, oder an dem todten Körper derselben noch zu saugen versuchen. Das beigegebene Bild, welches ich an Ort und Stelle für die „Gartenlaube“ zeichnete und aus dem jede einzelne Figur. z. B. das mit erhobenem Kopfe zur Rechten liegende todte Ren, der Wirklichkeit entnommen wurde, wird besser als alle Beschreibung einen Begriff von einem so trostlosen Anblick geben. Zugleich kann es als wahrheitsgetreue Illustration einer Tundralandschaft dienen; die Gebirgskette im Hintergrunde stellt die genauen Contouren des nördlichen Ural dar.

Als wir die Podarata, ein klares, schnellfließendes, aber seichtes Gebirgswasser glücklich erreichten, führte uns der Zufall abermals eine Renthierheerde zu, in der die Seuche wüthete. Sanda, ein ostiakischer Renthierhirt, hatte aber nicht allein bereits viele seiner Thiere, sondern auch zwei Gefährten und zwei Kinder verloren, und zwar in Folge des Fleischgenusses von einem erkrankten Renthiere, welches der Geiz des Besitzers noch zu verwerthen versuchte. Auch aus unseren Reihen sollte bald darauf der Tod ein Opfer fordern. Unser braver Ostiak Hat, den ich nicht ohne Ueberredungskünste vermocht hatte, uns von der Mündung des Hechtflusses zu folgen, klagte plötzlich über Unwohlsein, namentlich heftige Leibschmerzen und Frost. Diese Krankheitssymptome nahmen trotz einiger gereichten Mittel aus meiner Taschenapotheke stetig zu, und nach Verlauf von drei Tagen war Hat eine Leiche. Jedenfalls hatte er sich beim Abziehen gefallener Renthiere durch eine Verletzung angesteckt. Wir begruben ihn nach der Sitte seines Volkes, denn er war noch ungetauft, was uns die traurige Gelegenheit verschaffte, ein Begräbniß nach heidnischem Ritus kennen zu lernen. Zugleich wurde es uns klar, was es heißen will, ohne geeignete Geräthschaften eine Grube in einem Erdreich zu graben, das bereits bei einundeinhalb Fuß Tiefe zu Eis erstarrt ist. Und damit lernten wir einsehen, daß die Eingeborenen Recht hatten, über die weisen Rathschläge der gelehrte Fremden zu lächeln, welche ihnen als Hauptmittel, der Seuche zu steuern, das schleunigste Verscharren der gefallenen Thiere und die strengste Absonderung der übrigen Heerde anempfahlen, denn Beides ist eben unter den Verhältnissen, welche in der Tundra gebieten, unmöglich. – Die Krankheit, um welche es sich hier handelt, ist nämlich Milzbrand, jene schreckliche Epidemie, welche auch bei uns schon öfters furchtbare Verheerungen unter Hausthieren anrichtete. Den neuesten Forschungen zufolge entsteht dieselbe durch eine pathogene Bakterie oder mikroskopischen im Blute schmarotzenden Pilz (Bacillus anthracis). Die Lebensfähigkeit der Keime desselben soll so enorm sein, daß sie nicht einmal langandauerndes Eintrocknen zu zerstören vermag, und daß sie selbst in diesem Zustande, durch einen Zufall, mittelst Wunden und dergleichen, in die Blutbahn gebracht, sofort auf’s Neue ihre zerstörende Wirkung beginnen. Dagegen sollen sie, in die Verdauungsorgane eingeführt, ansteckungslos sein. Beides widerspricht eben so sehr unseren Erfahrungen, wie die Annahme, daß hauptsächlich Fliegen und Mücken die Träger des Ansteckungsstoffes seien. Denn wären diese Erklärungen richtig, so würde eben kein einziges lebendes Wesen auf der Tundra existiren können. Wir selbst, die wir doch unausgesetzt in einer Atmosphäre lebten, die von Sporenmassen des Bacilus anthracis erfüllt sein mußte, die täglich von Hunderten von Mücken gestochen wurden, welche unmittelbar von milzkranken Renthieren auf uns übergingen, wären ja sämmtlich unrettbar verloren gewesen. Und daß Menschen am Genuß vom Fleische milzkranker Renthiere sterben, weiß jetzt fast Jeder auf der Tundra, wie wir dies als Thatsache nur bestätigen können.

Jedenfalls liegen also andere noch unaufgeklärte Ursachen zu Grunde; dafür spricht das unerwartete periodische Auftreten der Seuche, wie ihr verhältnißmäßig neues Erscheinen, soweit es die von uns besuchten Gebiete Nordwest-Sibiriens betrifft. Nach den Aussagen der Eingeborenen trat die Seuche im Obgebiet nämlich zuerst vor etwa zwanzig Jahren auf und soll durch Heerden der Siranen jenseits des Ural eingeschleppt worden sein. Damals kannten Ostiaken und Samojeden noch nicht, wie leicht sich die Seuche auch auf den Menschen überträgt, und viele von ihnen starben an dem Genusse gefallener Thiere. Nach Sidoroff raffte 1865 die Seuche zwischen Petschara, Ob und Jenissé hundertfünfzigtausend Renthiere dahin, und es läßt sich denken, daß dadurch unzählige Tundrenbewohner verarmten. Wir selbst lernten verschiedene kennen, die, vorher reiche Heerdenbesitzer, jetzt arme Schlucker waren; so der Ostiakenfürst Iwan Taisin, der früher siebentausend Renthiere besaß und jetzt kaum so viele hunderte. Wenn nach den mir von amtlicher Seite gewordenen Mittheilungen der District Obdorsk nur an fünfzigtausend Renthiere zählt, so sieht es allerdings bedenklich aus, denn ein solcher Bestand kann ja einem einzigen Seuchenjahre zum Opfer fallen, und damit würde der Wohlstand des größten Theiles der Bewohner Nordwest-Sibiriens gefährdet sein. Glücklicher Weise scheinen aber, unerklärbar, wie die Seuche selbst, Verhältnisse zu walten, die wenigstens ein völliges Aussterben verhindern. So durchzogen zu derselben Zeit Renthierheerden jene Gebiete, auf denen wir nur dem Tode begegneten, ohne ein einziges Stück zu verlieren.




Aus dem Papierkorbe eines Achtundvierzigers.
2. Spree-Piraten.

Die Commilitonen der Berliner Studentenschaft aus dem Jahre 1848! Wohin sind sie durch den Trieb der eigenen Neigung oder durch die Macht des Verhängnisses geführt und verschlagen worden? Viele durch Kerkermauern hindurch nach Amerika, Australien und sonstigen fernen Gegenden; wenige haben sich zu einflußreicheren Stellungen emporgehoben. Die größere Hälfte aber ist verschollen, verdorben, gestorben; Mancher hat das Jahr 1870 nicht mehr gesehen, nicht diese Verkörperung seines schönsten Jugendtraumes, ein durch Einigung stark und mächtig gewordenes, von dem Lichte freier und volksthümlicher Institutionen durchstrahltes Vaterland.

Noch sehe ich die prächtigen Jünglingsgestalten mit dröhnendem Schritte über das Pflaster Spree-Athens schreiten, die schwarz-roth-goldene Mütze auf langgelocktem Haupte, den klirrenden Säbel nachschleppend, trotz einem Dragonerofficier, den Kopf voll unreifer, himmelanstürmender Gedanken, in dem Traume schwelgend, eine Hauptrolle zu spielen auf der Bühne einer großen Bewegung, von deren Wesen sie doch kaum eine dunkle Ahnung hatten. Was waren alle die armen Geschlechter der Erde, verglichen mit uns, den von den Wogen der Volksgunst hochgetragenen Musensöhnen? Wo war ein Philister aus der Bürgerwehr, der nicht pflichtschuldigst Front machte vor der „Rotte Korah“, weithin kenntlich durch die rothgeschmückte Straußenfeder auf schwarzem Calabreser? Welcher Kneipwirth hätte sich unterfangen, einer ausgesendeten „Bier-Patrouille“ des Studentencorps den schuldigen Tribut zu versagen? In den verschiedensten Theilen der weiten Hauptstadt trat das fliegende Corps der Studenten als hochgeachtete Vermittelungsmacht auf, jeden drohenden Conflict zwischen Arbeitern und Bürgern im Keime zu ersticken. So begann es im April; so blieb es im Mai. Es war anstrengender Dienst. Generalmarsch fast jede Nacht in dieser bewegten Zeit; oft nur wegen einiger eingeworfenen Laternen oder einer der damals ganz besonders zur Nachtordnung gehörigen Katzenmusiken.

Versetzen wir uns aber zurück in die Tage jenes Studententhums, das zu den geschichtlichen Thaten reifer Männer sich berufen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_187.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)