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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Das Wesen des Stotterns.
Von Rudolf Denhardt jun. Lehrer für Stotterer in Burgsteinfurt (Westfalen).

Wir sind nicht wir, wenn die Natur
Gebeugt, dem Geist gebietet.
     Shakespeare.

Ein Aufsatz über das Wesen des Stotterns darf in Deutschland leider auf vielfältiges Interesse rechnen. Während dieses Leiden unter heißeren Graden nur vereinzelt auftritt, findet man es häufiger, je tiefer man in die gemäßigte und kältere Zone eindringt. Während in Italien das rasche Blut eine weichere Sprache formt, den Menschen zu lebendigster Darstellung seines Inneren treibt und somit seine Sprachorgane von Jugend auf übt, entwickelt sich der Nordländer ruhiger und innerlicher: die Ausbildung der Redegewandtheit verlangt ein höheres Maß von künstlicher Einwirkung, und abnorme Erscheinungen finden ein beschränkteres Uebungsfeld, um sich abzuschleifen. In Deutschland findet sich das Stottern häufiger als in Italien; in Dänemark übrigens, Schweden, Norwegen und dem größten Theile Rußlands häufiger als in Deutschland. Somit werden viele Leser dieses Blattes Gelegenheit gehabt haben, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Theilnahme mit einem derartig Leidenden zu empfinden, und diejenigen, welche bisher davon verschont blieben, sind nicht sicher, daß nicht auch in ihrem Kreise dieses Leiden unerwartet Jemanden befällt; daß sie sehen, wie ein vielleicht fähiger, jedenfalls sonst normaler Mensch sein Dasein und seine Wirksamkeit verkümmert sieht, sich selbst zur Last wird und seinem Lande nicht dasjenige zu leisten vermag, was er seiner sonstigen Entwickelung nach hätte leisten können.

Gern folge ich daher der ehrenden Aufforderung der Redaction der „Gartenlaube“, eine kurze Abhandlung über das vorliegende Thema zu liefern, um für meinen Theil richtigen Anschauungen über die Natur des Uebels eine größere Verbreitung zu schaffen, dadurch der Ausbildung des Gebrechens bei unserem jungen Nachwuchs rechtzeitig vorzubeugen und den damit schon Behafteten die Möglichkeit der Heilung näher zu rücken. Ich will zuerst kurz darlegen, wie das Leiden sich zu äußern pflegt, und in einer Reihe von Beispielen meiner Erfahrung die Grundlage bieten, von der auf das Wesen des Stotterns sich erkennen läßt, darauf die Ursache des Leidens und die Richtung, in der sich das Heilverfahren zu bewegen hat, feststellen, endlich einige Maßregeln vorbeugender Natur mittheilen.

In welcher Weise sich das Leiden äußert, ist bekannt. Man erinnere sich der Rolle des Kerbriand in Scribe’s „Feenhände“, wie etwa der treffliche Mittell sie darstellt. Der gute Chevalier ist nicht hochgradiger Stotterer. Er hat gute Gedanken in petto, aber er windet sich umsonst, sie gut herauszubringen; „er stößt an“; er kommt anscheinend über harte Consonanten und einzelne Silben nicht hinweg, er wiederholt sie oder bleibt auch stecken, und erst, als ein heiliger Zorn ihn außer sich bringt, rollen die Worte sicher über seine Lippen.

Schlimmer erging es dem Redner Demosthenes bei seinem Debüt auf der attischen Rednerbühne. Er vermochte das „r“ überhaupt nicht auszusprechen und zuckte so auffällig mit der Schulter, daß er, vor dem Gelächter der durch rhetorischen Glanz freilich verwöhnten Athener das Feld räumen mußte.

Der höchste Grad des Stotterns ist aber wahrhaft mitleiderregend: das Gesicht verzerrt sich; der Hals schwillt in würgender Arbeit auf; die Extremitäten zucken in krampfhaften Bewegungen; im Auge prägt sich Angst oder stiere Erwartung des erlösenden Momentes aus. Endlich gelingt es, einen Laut hervorzustoßen, fast unarticulirt, hart und polternd folgen einige Silben, oder auch die Anfangssilbe wird unzählige Male wiederholt, um in einem günstigen Moment endlich den Anschluß an die folgenden zu erhaschen.

Das ist das Eigentümliche des Stotterers, daß, während der normal Sprechende ohne Mühe durch einen Willensact die Sprechorgane aus dem Zustand der Ruhe in Thätigkeit versetzt, bei jenem zurückhaltende und vorwärtstreibende Nerven- und Muskelkräfte zugleich auftauchen, in deren Kampf die Erreichung des Zieles scheitert.

Unzählige Mittel ersinnt der Stotterer, um der letzteren Gruppe das Uebergewicht zu verschaffen. Wollte einer meiner Patienten im Laden Tinte, welches Wort er nur mit der größten Anstrengung aussprechen konnte, kaufen, so suchte er nach seinem Eintritte eiligst das Tintenflaschenregal zu erspähen, und, indem er energisch mit der Hand auf den gewünschten Gegenstand zeigte, vermochte er stotterfrei auszusprechen: „Ich wünschte Tinte zu kaufen.“ Ein Anderer, dem der Buchstabe „p“ Schwierigkeiten bereitete, verlangte an der Theatercasse ein Billet zum ersten Rang; dann, sich anscheinend besinnend, änderte er sein Verlangen und begehrte ein „Parquetbillet“, ohne zu stottern. Er mußte erst in Zug kommen und das schwierige Wort in einer mehr nachlässigen Redeweise unterbringen. Ein Dritter schrieb vor dem Eisenbahnschalter sein Verlangen jedesmal auf einen Zettel und steckte ihn in die Tasche. Dann vermochte er seinen Wunsch fließend zu äußern, ihm half die auf seine Seele beruhigend wirkende Vorstellung, daß er eventuell eine schriftliche Aushülfe habe. Ein Vierter suchte sich durch eine mähende Bewegung des rechten Armes zu Hülfe zu kommen, ein Fünfter wendete das Wörtchen „so“ oder „eben“ als Hebel an. Ein Anderer begann stets mit „freilich“, „natürlicher Weise“, „ohne Zweifel“, unter Umständen alle drei Ausdrücke hinter einander hervorsprudelnd. Ein Oekonom chassirte während des Spazierganges bei jedem schweren Worte vom Wege, und war erst dann im Stande, dasselbe auszusprechen, wenn er einen festen Gegenstand, einen Baum u. dergl. berührte. Eine große Zahl legt eine besondere Folge der Wörter sich zurecht, in der sie über die schweren Buchstaben hinwegzukommen glaubt. Es gelingt oft, werden sie aber in ihrer so einstudirten Rede unterbrochen, so tritt Stottern ein. Selbst alle jene krampfhaften Bewegungen, die oben erwähnt sind, müssen, wenn sie auch ihrer Entstehung nach unwillkürliche Hülfsmittel waren, als willkürliche betrachtet werden. Der Stotterer will sprechen; er kann nicht, respective glaubt nicht zu können; er will sich selbst durch eine andere Muskelbewegung voranstoßen – es gelingt nicht; er verdoppelt seine Anstrengungen, da er sprechen will oder muß, und gelangt zuletzt zu den extremsten Aeußerungen. Einer meiner Berliner Patienten gerieth bei jedem Versuche zu sprechen in so convulsivische Bewegungen, daß er der königlichen Charité überwiesen wurde, und zwar, wie er mittheilte, zuletzt der Irrenstation. Nachdem derselbe am 9. März 1875 als ungeheilt entlassen worden war, wurde er mir im Jahre 1877 von dem Geheimen Medicinalrath Professor Dr. Westphal, welcher sofort einen Stotterer in ihm erkannt hatte, zugesandt, und in vierzehn Tagen konnte er sich dem ausgezeichneten Arzte und dem Charitéverein als frei von seinem Leiden vorstellen. Er war in der That ein hochgradiger Stotterer: mit seinen fast epileptischen Bewegungen verloren sich auch die heftigen Kopf- und Brustschmerzen, an denen er litt.

Aus vielen der vorstehenden Beispiele ist schon ersichtlich, daß dem Leidenden die mechanische Fertigkeit zu sprechen überhaupt nicht abging. Es kam aber sehr auf die Umstände an, ob sie die Fähigkeit in die That umsetzen konnten. Zum Theil zeigten sich die Hülfsmittel wirksam, zum Theil nicht und verschlimmerten selbst die Erscheinungen. Eine Heilung schuf keines.

Noch mehr aber tritt in folgenden von mir beobachteten Fällen zur Evidenz hervor, daß das Uebel nicht in einem Unvermögen derjenigen Muskelgruppen basirt, die beim Sprechen die Action der Sprachwerkzeuge vermitteln.

Ein Patient stockte vor dem Worte „kann“ im Satze: „Kann nicht Fürstendiener sein,“ ohne einen Versuch zu machen, das Wort auszusprechen. „Welches Wort fällt ihnen schwer?“ fragte ich. „Kann’ kann ich nicht sagen,“ erwiderte er unverzagt, nicht denkend, daß er das Wort jetzt zweimal stotterfrei ausgesprochen. Ein Schwede, den ich behandelte, stotterte in seiner Muttersprache, aber nicht, wenn er deutsch oder dänisch sprach; ein Russe deutscher Abstammung wohl im Deutschen, aber nicht beim Gebrauche des Englischen, Russischen und Französischen. Keiner meiner neunhundert Patienten stotterte beim Singen. Von mir gesprochene Worte vermag selbst der schwere Stotterer in der Regel nachzusprechen. Viele können an Gesellschaft bei getheilter Unterhaltung ziemlich fließend sprechen, sowie aber die Veranlassung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_212.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)