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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Das Blut trat mir einen Augenblick zum Herzen – – Sie neben mir, sie, die meine Erinnerung mit bleichen Rosen kränzte, als eine für mich Todte, – sie, die ich jenseits des Oceans glauben mußte – – Nein, es war unmöglich! Der Zufall müßte zu seltsam gespielt haben.

Ich versuchte meiner Unruhe Herr zu werden; allein die heiße Aufwallung fieberte mir im Kopf und Herzen nach; mein ganzes Wesen glomm auf in Liebe und sehnsüchtigem Weh. Klar stiegen sie mit einem Male wieder empor, die Tage, wo „die Woge dumpf erbrauste, wo der Sturmwind durch die Dünen sauste, wo das Schiff erdröhnte und die Raae brach“ – ich dachte an alle Einzelheiten jener Fahrt über’s Meer, die ich einst von Liverpool aus gemacht hatte und bei der wir Alle leicht hätten „am Wasser auf feuchten Sand“ gebettet werden können.

Er war das einzige Opfer gewesen. Ich sah ihn wieder auf dem Verdeck sitzen und uns den Scheidegruß nachwinken, als wir auf der Rhede von Boston das Schiff verließen; ich hörte beinahe seine Stimme, so mächtig tauchte die schmerzliche Erinnerung in mir auf. Aber vor sein Bild trat wiederum sie – sie – –




Bei der Abfahrt von Hamburg hatte ich das erste Wort aus ihrem Munde vernommen.

Da stand sie neben mir auf dem kleinen Hamburger Dampfer und fragte, auf das Meer zeigend, das sich in grauen Wellen vor uns kräuselte: „Was ist das?“ Und als ich ihr lächelnd erwiderte: „Das ist das Meer, Fräulein,“ machte sie zuerst ein ungläubiges Gesicht, sah dann hinaus auf die graue Wasserfläche, schaute mich an, blickte wieder auf das Wasser und lachte endlich aus bedrängtem Herzen hell auf: „Ich dachte, es wäre Sand.“ Und als wir nun weiter und weiter hinausfuhren in den lebendigen „Sand“, da wurde es dem schönen Mädchen immer banger zu Muthe; der Wind sauste durch die Taue, wehte um die Mäntel der Passagiere und spielte in den goldenen Locken meiner Nachbarin, und sie zog mit einer reizenden Bewegung des Armes dem Kragen des Mantels über den Kopf. Der Dampfer begann sich zu heben und zu senken; jetzt strebte das Vorderdeck in den Himmel, und hinter dem sinkenden Hinterdeck stieg die finstere, beschäumte Meeresfläche mit ihren Schiffen empor; dann erhob sich das Hinterdeck, und wir glaubten nach vorn rutschen zu müssen. Aengstlich hielt sie sich mit ihrem weißen Arme an der Brüstung; dann fragte sie mit ängstlicher Stimme: „Hört es bald auf so zu schwanken?“ Und als ich sie versicherte, daß es wohl bis England so fortgehen werde, rief sie plötzlich: „Halten Sie mich doch! Ich falle um.“

In der Ferne sahen wir die Küste von Deutschland verschwinden – ein zarter hell erleuchteter Streifen Landes, der immer länger wurde und immer schwerer zu erkennen war. Ich zeigte ihr das Land, sie brach in Thränen aus. Nach längerer Zeit hob sie ihren Kopf aus dem Taschentuche und trocknete sich die Augen. Dann sang sie leise mit schmelzendem Wohllaut:

„Nun ade, du mein lieb’ Heimathland;“

und als sie an die Verse kam:

„Gott behüte dich, mein Liebchen traut,
Lieb’ Heimathland, ade,
Gott behüte dich, du liebe Braut!“

versank ihre Stimme langsam in innerer Erregung, wie wenn im Winter ein einsamer Vogel immer mehr in den Schnee versinkt und nicht weiter kann – und endlich brach sie in Schluchzen aus.

Die Glocke rief zu Tisch, und sie schlüpfte in ihre Cabine. Die Tischgesellschaft sammelte sich zur Mahlzeit; wir machten neugierige Gesichter und sprachen von ihr. Der Kellner war aufmerksam und zartfühlend genug, der „schönen Nürnbergerin“, wie wir sie nannten, weil ihr Accent uns an Nürnberg erinnerte, einen Platz mir gegenüber zu reserviren, da ich der einzige Mensch war, den sie freiwillig angesprochen, ja, mit dem sie überhaupt mehr als zehn Worte gewechselt hatte. Die ganze Tischgesellschaft war auf mich eifersüchtig oder erzeigte mir eine hochachtungsvolle Aufmerksamkeit. Alles steckte die Köpfe zusammen, gesticulirte, verdrehte die Hälse nach mir, gesticulirte wieder, rieth, vermuthete und lächelte. Am längsten blickten die jungen Mädchen verstohlen nach mir herüber; ich wurde von verschiedenen Seiten lange und schweigend gemustert. Man hielt mich für etwas Besonderes, sei es Bruder, sei es Vetter, Freund, oder gar stillschweigender Bräutigam. – Dann kam sie selbst, unbefangen, fast glücklich und heiter. Sie setzte sich mir gegenüber und grüßte freundlich, und, was bei Frauen so oft sich ereignet, wenn sie sich ausgeweint haben – sie sprach – sie sprach von ihrer Heimath, sprach von ihrer Verwandtschaft und gar von ihren Herzensangelegenheiten; mit einem Worte: sie erzählte, ohne gefragt zu sein, Alles, was wir wissen wollten, und das Alles mit der zierlichsten Stimme und dem kokettesten Hessisch; sie war nicht aus Nürnberg, „eh nain,“ sondern aus „Damstadt;“ sie hatte keine „Eldan“ mehr; „nain,“ sie hatte nur einen Onkel, der ihr Vormund, und eine Tante, die ihre beste Freundin war, und sie hatte auch einen Bräutigam, ja, und der wollte sie in zwei Jahren von New-York abholen; sie wollte also nach New-York, und zwar hatte sie drüben in einer reichen Familie in Staten-Island einen Posten als Gouvernante, sie sollte die „Kindercher“ erziehen, ja, und – als die Tafel aufgehoben wurde, hatte sich der eine Theil der dem männlichen Geschlechte angehörigen Tischgesellschaft in sie verliebt, dem andern war sie völlig gleichgültig geworden; es galt nämlich die Frage, ob ihr Bräutigam sie wirklich in zwei Jahren von New-York abholen werde; die Gleichgültigen meinten: „Ja!“ die Verliebten aber lächelten, zuckten die Achseln und lispelten: „Schwerlich!“

Mir war sie keineswegs gleichgültig geworden; wie gern hätte ich ihr Vertrauen durch das meine erwidert, wenn ich mich angesichts ihrer Verlobung dazu für berechtigt gehalten hätte! Sie reiste denselben Weg wie ich, und sie reiste allein; ich nahm mir vor, sie ihrem Bräutigam, ihrem Onkel, ihrer Tante, und – sich selbst zu bewahren. Und ich hatte bald Anlaß dazu, für sie zu sorgen.




Es war am 22. October vorigen Jahres, als wir uns in Liverpool einschifften. Ich hatte das Gepäck meiner schönen Schutzbefohlenen – Hutschachteln, Koffer, große verschließbare Körbe und Reisetaschen, mit schwarzgeränderten, weißen Etiquetten beklebt, welche in rothem Drucke die Buchstaben A. B., die Anfangsbuchstaben ihres Namens „Alwine Bodinus“ trugen – vom Hôtel auf die Landungsbrücke schaffen lassen, welche, da wir augenblicklich Ebbe hatten, tief gesunken war. Unter dem Getümmel bat ich sie, sich stets bei den Sachen zu halten, während ich die Verladung derselben und unsere Einschiffung besorgte. Ich rannte dabei hierhin und dorthin und verlor sie, als ich in die Bude trat, wo ich die Taxe für die Einschiffung zu entrichten hatte, einige zehn Minuten völlig aus dem Gesichte. Als ich zurückkehrte, war sie schon an Bord; auch war sie nicht allein; sie hatte Bekanntschaft gemacht, und zwar mit einem kleinen blonden Knaben, der auf ihrem Schooße nur mit Mühe festgehalten wurde und mit seinen blauen Augen lebhaft um sich blickte. Bei ihren Worten: „Da sind Sie ja; ich hatte schon Angst, Sie kämen zu spät,“ starrte er mich an, sah ihr dann rücklings in’s Gesicht und fragte sie im besten Londoner Englisch: „Ist das Ihr Freund?“ worauf sie nickte und lachte und er mich wieder anstarrte.

Das Schiff fing an zu ächzen, sich zu heben und zu senken; das Wasser erbrauste und schäumte vorwärts und rückwärts; die Seile wurden am Lande gelöst und auf’s Deck geworfen – endlich fuhren wir ab. Tücher winkten, Thränen glänzten; Menschen drängten sich hüben und drüben zusammen. Ein tausendstimmiges „Hurrah“ vom Lande und ein hundertstimmiges vom Schiffe, ein letztes Wehen mit den Tüchern – der Capitain stand oben auf der Brücke zwischen den Radkästen, und wir dampften, bei den gleichmäßigen Stößen der Maschine in regelrechtem Achtsechszehnteltacte erzitternd, die glatte Fluth zertheilend, plätschernd und schäumend in den heiteren Hafen hinaus. Der Bug richtete sich auf den Ausgang in’s Meer, der in der Ferne vor uns lag, und der kleine Blondkopf, der noch immer auf dem Schooße meiner schönen Freundin mit Mühe festgehalten wurde, sagte, nachdem er lange aufmerksam nach der Rhede hinübergestarrt hatte: „Sieh, Lady, wie das Land wegschwimmt!“

Es war ein schöner, heiterer Morgen; die Herbstluft glänzte klar über dem kühlen, spiegelnden, gewellten Wasser; die Ufer liefen drüben auf beiden Seiten hin, als hätten sie mehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_348.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)