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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Gensd’armen hat sich schon vieles dort gebessert. Im Jahre 1874 sind nicht weniger als achtundachtzig Personen wegen Kugelsuchens und hundertachtunddreißig Personen wegen unbefugten Betretens des Schießplatzes gerichtlich bestraft worden. Man kann hieraus ermessen, wie groß die ganze Körperschaft ist. Eine vollständige Ausrottung derselben wird erst dann möglich sein, wenn der Schießplatz von Tegel, wie beabsichtigt wird, nach Cunersdorf verlegt wird. Der Gewinn, den das Kugelsuchen ergiebt, ist eben ein zu enormer und verlockt deshalb viele Menschen vom Pfade der Ehrlichkeit, zumal bei einem etwas lockeren Rechtsbewußtsein der Gedanke an einen wirkliche Diebstahl bei den Betreffenden gar nicht aufkommt.

Ich begegne zuweilen zwei Krüppeln, verkommenen Gestalten mit bösem, menschenfeindlichem Blick. Einst waren es tüchtige Männer, gesund an Seele und Leib, die als ehrliche Tischlergesellen sich und die alte Mutter ernährten. Sie gingen in die Fremde und schickten nach guter Kindespflicht der Alten, was sie entbehren konnten. Es war nicht gerade viel, aber es genügte für den Unterhalt der Mutter. Die aber sah, wie ihre Nachbarn gar viel darauf gehen ließen. Mußte sie einen Groschen überlegend umwenden, ehe sie ihn ausgab, so warfen Jene mit den Thalern um sich. Das verdroß die Alte und erweckte in ihr die Sehnsucht nach einem ähnlichen bequemen, ja luxuriösen Leben. Und sie schrieb ihren Söhnen: „Kommt zurück! Hier könnt ihr ein besseres Glück machen. Kommt und werdet Kugelsucher, wie alle unseren Nachbarn, und wir können herrlich und in Freuden leben.“ Lange widerstrebten die Söhne. Endlich gaben sie dem Drängen der Mutter nach. Sie kamen zurück und wurden Kugelsucher. Aber das Unglück verfolgte sie. Kaum waren acht Tage verflossen, da trug man der Mutter den ältesten Sohn blutend in das Haus – ein Bein war ihm abgeschossen. Und nur wenige Tage später – da trug man ihr den zweiten in’s Haus. – Jetzt ist die Mutter eine stumpfsinnige Greisin, dem bittersten Elend ausgesetzt, die Söhne aber sind Krüppel an Körper und Seele, keiner ehrlichen Arbeit mehr fähig. – – –

Das sind die Kugelsucher auf dem Tegeler Schießplatz!




Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
1. Voltaire.
(Fortsetzung.)

Wenn es Gefühle des Mißmuths waren, welche den verbannten Dichter auf seiner unfreiwilligen Meerfahrt beherrschten, so hatte sich diese melancholische Stimmung schon bald nach seiner Ankunft auf englischem Boden beschwichtigt. Eine freundlichere und wunderbarere Ueberraschung konnte es nicht geben, als sie damals durch eine plötzliche Versetzung nach England aus einem der übrigen europäischen Reiche geboten wurde. Während in allen diesen Ländern die Knechtung des Volkes unter einer frechen Willkürgewalt der sogenannten „Großen“ die ausnahmslose Regel bildete, hatte sich jenes abgeschiedene Inselvolk allein in den Kämpfen und krampfhaften Zuckungen seiner Revolutionen eine durch Gesetze und unerschütterliche Einrichtungen fest gesicherte Freiheit erobert, wie sie noch in keiner menschlichen Gemeinschaft des weiten Erdenrundes zu finden war. Die Grundsätze des Volksrechts, Betheiligung der Nation an der Gesetzgebung und Verwaltung, Gleichheit vor dem Gesetze und Schutz der Bürger vor Uebergriffen der Gewalt, Freiheit auch des Glaubens, der Ueberzeugung und ihres Ausdruckes in der Presse, alle diese Güter waren für England nicht mehr Wünsche und leise in den Geistern heraufdämmernde Theorien, sondern bereits anerkannte, allseitig das ganze Leben durchdringende und bestimmende Thatsache. Und aus dieser Lage der allgemeinen Verhältnisse hatte sich dort auch naturwüchsig eine hohe Blüthe des geistigen Lebens erzeugt, ein jugendkräftig schwungreiches Aufstreben der freien Forschung, Wissenschaft und Kunst, das in einer bedeutsamen literarischen Production sich ausprägte, von einer beträchtliche Reihe kühner Denker, von wirksamen Poeten und hervorragenden volksthümlichen Schriftstellern getragen und gefördert wurde.

Mit den Wechselbeziehungen der Völker aber und mit Allem, was man jetzt „international“ nennt, stand es damals noch sehr schlecht. Herabgedrücktes Wesen und unverständige Hemmungen des Geschäfts- und Unternehmungsgeistes hätten sie den Mangel eines gegenseitigen Austausches nicht einmal empfinden lassen, selbst wenn die erbärmlichen Verkehrswege und Verkehrsmittel wenigstens benachbarten Ländern eine regelmäßige Beziehung erlaubt haben würden. Dennoch hatten schon viele bedeutende Franzosen mit Nutzen in England geweilt, und namentlich war unter den dortigen Eindrücken der berühmte Montesquieu zu einem großen politischen Lehrer seiner Nation geworden. Viel elektrisirender jedoch mußte der Contrast dieser Atmosphäre auf den lebhaften Geist eines Voltaire wirken. Kaum hatte er seinen Fuß auf das Land gesetzt, so fühlte er sich wahrhaft berauscht durch den Hauch der Freiheit und Gerechtigkeit, die ihn hier anwehte wie milde Frühlingsluft. Bei diesem Aufathmen jedoch blieb es nicht, seine Freude wurde ihm ein Sporn zu allseitig scharfer Beobachtung, zu anhaltend strengem und eingehendem Studium. In dieser Schule gewann sein Genius festen Kern und vertieften Gehalt, aus einem gewandten und flatternden Schöngeist wurde er ein ernsthafter Forscher, aus einem leichten und talentvolle „Versmacher“ zugleich einer der größten und eingreifendsten Prosaiker aller Zeiten. Die Hinaustragung der englischen Freiheitsideen ward fortan die Aufgabe seines Lebens.

Als er nach dreijährigem Exil (1729) mit geklärten Ueberzeugungen und erweitertem Gesichtskreis, mit gesteigerter Wissens- und Gedankenfrische in die trübe gährenden Verwirrungen seines Vaterlandes zurückkehrte, zeigte sich diese Wiedergeburt in seinen neuen Dramen, besonders aber in seiner Kritik der öffentlichen Zustände. Noch viel weniger als früher war es ihm möglich, stillschweigender Zeuge der Barbareien zu bleiben, die er hier mit ansehen mußte. In den überaus wüst gewordenen Lärm zelotischen Confessionsgezänks zwischen Jesuiten und Jansenisten warf er eine beißende Flugschrift „Die Albernheiten zweier Parteien“, und als der Leiche der ihm nahe befreundet gewesenen Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, des gefeierten Lieblings der Pariser, von der Geistlichkeit das ehrliche Begräbniß verweigert und sie wie eine Verbrecherin auf dem Anger verscharrt wurde, hatte der Heimgekehrte allein den Muth, diese Rohheit in einem Gedichte so zu geißeln, wie sie es verdiente.

In diese Zeit fällt auch die Beschäftigung mit seinem komischen Heldengedicht „Die Jungfrau von Orleans“. Mit Recht empört sich unser heutiges sittliches Gefühl gegen die nackten und vielfach geradezu cynischen Frivolitäten dieser Dichtung. Vergessen aber darf man nicht, daß aus all diesem Schmutz sichtlich doch eine ernste Absicht spricht, daß das Ganze wiederum ein Erguß der Empörung gegen weltlichen und geistlichen Despotismus, ein greller Ausdruck des giftigen Hohnes ist, mit welchem damals schon die freidenkerischen Kreise der Tyrannei des römische Wunderglaubens und seinem Dogmenwesen gegenüberstanden. Im Uebrigen hat Voltaire selber das Gedicht erst zweiunddreißig Jahre nach seiner Entstehung in sehr gemilderter Form drucken lassen, bis dahin war es nur in Abschriften und in einer Ausgabe vorhanden, die Andere hinter seinem Rücken in böswilliger Absicht veröffentlicht hatten.

Alle diese vereinzelten Zornesblicke gaben indeß noch kein Zeugniß von dem großem Ernst des in ihm vollzogenen Wandels. Eine wichtige Hauptthat dagegen leistete der Heimgekehrte und seinen großen Hauptkampf eröffnete er mit der Verarbeitung seiner englischen Tagebücher, die unter dem Titel „Philosophische Briefe über die Engländer“ erschien und in welcher die Sitten, die Verfassung und Literatur des glücklicheren Nachbarvolkes im Hinblick auf den traurigen Gegensatz der hinter diesen Aufschwung zurückgebliebenen französischen Zustände geschildert wurden. Dieses Buch war ein Ereigniß von gewaltiger Bedeutung, dessen Wirkungen bald sich fühlbar machten. In aufrüttelnder Weise zeigte es dem unklaren Drange nach Reformen die Wege zu den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_381.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)