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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Nächstenliebe kennen, die aus der Enge kirchlicher Glaubenssatzungen herausgewachsen ist, wenn ihnen diese Sittlichkeit als der höchste Zweck des Lebens und als das wahrhaft Religiöse auch in den Religionen gilt, so war es die Arbeit Voltaire’s, welcher die moderne Anschauung den mächtigsten Anstoß zu dieser wichtigen Unterscheidung verdankt. Unerschütterlich war seine Ueberzeugung von dem Recht und dem Siege, von der versittlichenden und beglückenden Macht der Aufklärung, welche den Menschen allein zu voller Gerechtigkeit und Liebe, zur Milde und zum Wohlthun gegen seine Mitmenschen führen könne. Wer ihm diesen Glauben antasten wollte, der griff ihn selber an. Schon hochbejahrt war er, als einst der bekannte Casanova ein paar Tage bei ihm zum Besuche weilte. Sie plauderten viel mit einander und er fand Vergnügen an der Unterhaltung des brillanten Italieners. Als dieser aber einmal zu bemerken wagte, er glaube nicht, daß die Menschen glücklicher würden, wenn man ihnen ihren Aberglauben nähme, da war es aus mit der Freundlichkeit seines Wirthes. Daß Wahn und falsche Vorstellung eine Bedingung des Glückes sein, daß die Erlösung von Irrthum Unglück zur Folge haben könne, das war für ihn etwas so Undenkbares, daß er sich entrüstet und persönlich verletzt von einer solchen Ansicht abwendete. Er wollte Freiheit durch Bildung, „Freiheit ohne Bildung, wie Rousseau sie wollte,“ sagt treffend einer seiner Biographen, „stieß ihn ebenso zurück, als Bildung ohne Freiheit, wie sie im höfischen Despotismus existirte.“

Wie er aber auf dem so tief umnachteten Gebiete der Religion unter unablässigem Streit- und Weckrufe das Banner des Lichtes und der Aufklärung entfaltete, so war er auch in politischer Hinsicht der große Pionier der Freiheit, ein erklärter, von begeisterungsvollem Zorne durchglühter Feind gegen die herrschende Gewaltthätigkeit und brutale Willkür. Voltaire hat kein geschlossenes System seiner politischen Ueberzeugungen angestellt, aber rastlos und unerschrocken hat er stets die politischen Ereignisse und Fragen von jenen Gesichtspunkten aus mit schneidigen Beleuchtungen verfolgt, die einen nachhaltigen Einfluß auf die Gemüther übten. Wir haben gesehen, wie er mit dieser Opposition schon als Jüngling begann und wie er sodann in seinen englischen Briefen mit leuchtenden Farben das Ideal eines erreichbaren und in der That jenseits des Canals bereits erreichten staatlichen Zustandes geschildert hat, wo, seinem Ausspruche zufolge, „der König die Macht hat, alles Gute zu thun, und wo ihm die Hände für das Böse gebunden sind, wo die Herren groß sind ohne Gewalthätigkeiten und wo das Volk an der Regierung Theil nimmt ohne Verwirrung“. Diese Ideen und Lehren sind heute so ziemlich aller Welt geläufig, damals aber kamen sie jugendfrisch aus dem Boden einer neuen Weltanschauung, damals wirkten sie mit allem Zauber einer erlösenden Macht, und zwar besonders durch den Umstand, daß Voltaire sie fort und fort mit dem überzeugendsten Nachdrucke wiederholt. Verblümt und unverblümt, in immer neuen Wendungen bewies und verkündete er den bereits mißmuthig unter den Fußtritten ihrer Befehlshaber sich krümmende Völkern daß sie ohne Freiheit zu einer Wohlfahrt nicht gelangen werden, daß ohne Herstellung der Gleichheit eine Gerechtigkeit nicht möglich sei. Nicht seine Schuld war es, wenn die späteren Revolutionsparteien der Forderung „Freiheit und Gleichheit“ eine über alles Maß des Erreichbaren hinausgehende und deshalb verhängnißvoll gewordene Bedeutung gaben. Aber vergessen darf es nicht werden, daß er es war, der diesen zunächst nur wohlthätig die Geister erregenden Schlachtruf in die Zeit geworfen hat. „Nur durch Feigheit und Dummheit,“ schrieb er, „konnten die Menschen ihren natürlichen Rechtszustand verlieren. Jeder andere Zustand ist nur ein künstliches Machwerk, ein schlechtes Possenspiel, in welchem der Eine die Rolle des Herrn, der Andere die des Sclaven, dieser die Rolle des Schmeichlers, Jener die des Versorgers übernimmt!

Unter Freiheit aber verstand Voltaire die Abhängigkeit Aller von einem und demselben Gesetze, unter Gleichheit die gleiche Berechtigung vor diesem Gesetze; die Beseitigung aller Unterschiede des Standes und der Lebenslagen dagegen hielt er für ein unerreichbares Hirngespinst, wie sehr er persönlich diese Unterschiede auch haßte. „Wo aber allein das Gesetz herrscht und nicht die Willkür,“ so rief er seinen von einem dreifache Herrenthume zu Boden getretenen Zeitgenossen zu, „da wird das Wohl der Gesammtheit und des Einzelnen durch diese Unterschiede nicht mehr geschädigt, da wird es verhindert werden, daß der Bauer durch irgend einen beliebigen Unterbeamten bedrückt werde, daß man einen Bürger einkerkern könne, ohne ihn unverzüglich vor seinen gesetzliche Richter zu stellen, daß man unter Vorwänden Jemand ohne Entschädigung sein Feld nimmt, daß die Priester die Völker beherrschen und sich auf ihre Kosten bereichern, statt sie zu erbauen.

Von Voltaire rührt auch das berühmte, wie ein Wetterstrahl durch die schwüle Luft des Erlösungsjahrhunderts zuckende Witzwort her: „An ein göttliches Recht der Ritter werde ich erst glauben können, wenn ich sehe, daß die Bauern mit Sätteln auf dem Rücken und die Ritter mit Sporen an den Fersen geboren werden.“ Befreiung des Staates aus den Fesseln und Herrschaftsansprüchen der Kirche, Freiheit des Gewissens und der Presse, Milderung der Strafgesetze, Hebung des Volksschulwesens, gerechte und gleichmäßige Vertheilung der Steuerlasten, das waren die Grundsätze und Forderungen, die er mit beispielloser Rastlosigkeit Jahrzehnte hindurch vertheidigte und so unverwischlich auf das Banner der Zeit schrieb, daß sie bis heut die Losungen des Freiheitskampfes wider die Entgegenstemmungen selbstsüchtiger Freiheitsverächter sind. Alle diese Güter mußten erst vom Gedanken erfaßt und ein Besitzthum der Gesinnungen und Ueberzeugungen werden, ehe sie beginnen konnten, in der Welt der Thatsachen sich durchzusetzen, eine Arbeit, mit welcher sie heute noch nicht ganz zu Ende gelangt sind.

Allerdings erwartete Voltaire die Verjüngung und Besserung der gänzlich verrotteten Zustände nicht von einer revolutionären Bewegung aus dem Volke, sondern von den Thronen, von einer Bekehrung der Regierenden zu freisinnigen Grundsätzen, von dem sogenannten aufgeklärten Despotismus. Es wird das erklärlich, wenn man die Verhältnisse der Zeit sich vorstellt. Unempfänglich, zum Theil roh und geradezu feindselig stand der große Haufen den eifrigen Bestrebungen gegenüber, ihn durch Aufklärung und besseren Unterricht glücklicher zu machen. Erfahrungen nicht ermunternder Art hatten Voltaire, wie auch Friedrich dem Großen, eine gewisse Verachtung gegen die Masse eingeflößt, ihnen den Glauben an die Bildungs- und Erhebungsfähigkeit der niederen Schichten genommen, das heißt an ihre Kraft, durch eigenen Willen und ohne Zwang von außen her vorwärts zu kommen.

Ein Volksmann im späteren und heutigen Sinne dieses Wortes war der große französische Freiheitsapostel eben so wenig wie sein königlicher Freund. Aber den Einfluß seines Genius und seines Ruhmes auf die Gesinnungen und Entschlüsse der Höfe hat er durchaus redlich und mit der seinem Wesen eigenthümlichen Zähigkeit zur Förderung seiner Grundsätze benutzt. Wie der Philosoph von Sanssouci, so hatte die Kaiserin von Rußland, die Könige von Dänemark und Schweden, sowie viele kleinere Souveräne den freundschaftlichen Verkehr mit ihm ohne sein vorheriges Entgegenkommen zuerst gesucht, sie bewarben sich um seine Gunst, fürchteten sein Urtheil, suchten sein Lob zu verdienen. Ganz ebenso die Minister und mächtigsten Persönlichkeiten der verschiedenen Länder. Wenn er aber im Verkehr mit den Fürsten stets auch streng die Etiquette beobachtet hat, wenn er in Prosa und Versen sich hier, dem Brauche der Zeit gemäß, einer Schmeichelei befleißigte, die heute nur widerlich berühren kann, und überdies in diese Beziehungen nicht immer uneigennützige Beweggründe seinerseits hineinspielen, so ist es doch unbedingt nachgewiesen und festgestellt, daß er selbst in seinen geheimsten Briefen an die Monarchen sein Streben für Freiheit und Gleichberechtigung, Vernunft und Toleranz niemals verleugnet hat. Auch Voltaire dem Geschichtschreiber läßt sich nicht nachsagen, daß er jemals in seinen berühmten Werken dieser Gattung ein Schmeichler der Großen und Mächtigen gewesen sei.

(Schluß folgt.)
A. Fr.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_384.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)