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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Der Untergang des „Großen Kurfürsten“.[1]
Von einem Augenzeugen.

Am 29. Mai Nachmittags fünf Uhr verließ das deutsche Panzergeschwader, bestehend aus den drei Schiffen „König Wilhelm“, „Großer Kurfürst“ und „Preußen“, die Rhede von Wilhelmshaven. Es war ein stattlicher Anblick, als die Panzer nach einander Anker auf gingen und, in Kiellinie formirt, unter Führung des Admiral- und Flaggschiffes „König Wilhelm“ davon dampften. Eine dichte Menschenmenge hatte sich auf den Molen versammelt, dem seltenen Schauspiele beizuwohnen und den Scheidenden den Abschiedsgruß zu bringen. Das nächste Ziel war Plymouth, wo der Kohlenvorrath für die weitere Fahrt nach Gibraltar ergänzt werden sollte. Nach einer raschen, vom besten Wetter begünstigten Reise wurde in der Frühe des 31. der englische Canal angesteuert und um acht ein halb Uhr Dover passirt. In selten scharfen Umrissen präsentirte sich das altehrwürdige Dover-Castle, welches mit seinem achteckigen Thurme die romantisch gelegene Stadt beherrscht. Die Stadt selbst, mit ihren aschgrau gestrichenen Häusern, macht einen düstern, fast unheimlichen Eindruck. Im Hafen schaukelte ruhig das für die Ueberfahrt nach Calais dienende Dampfschiff. Bewaldete Hügel, in üppigem Grün prangende Thäler, wogende Getreidefelder eilten rasch an unsern Augen dahin. Kein Nebelstreif hinderte die Fernsicht; ruhig war die See; kaum merklich wogte die Dünung hin und wieder, nur ein leises Lüftchen hauchte in die Segel der wenigen, langsam dahinschleichenden Schiffe. Freundlicher hat wohl die Sonne selten diese Küste von Alt-England beschienen.

Das Geschwader dampfte in Doppelkiellinie formirt mit einem auf hundert Meter geschlossenen Intervall. Voran „König Wilhelm“; an Steuerhord, das heißt rechts, folgte „Großer Kurfürst“ und in der Kiellinie des Admiralsschiffes schloß die „Preußen“. Die Panzer befanden sich Folkestone gerade gegenüber, einer blühenden Stadt von zwölftausend Einwohnern, dreieinhalb Seemeilen von den Molenköpfen des kleinen Hafens entfernt – da kreuzte eine holländische Bark, von der Landseite kommend, den Cours des Flaggschiffes.

Auf allen drei Schiffen wurden eben die Vorbereitungen für „Klar Schiff“ getroffen, eine Uebung, die auf Kriegsschiffen routinemäßig jeden Freitag Morgen abgehalten wird. Der „Große Kurfürst“ hatte „Alle Mann“ in Manöverdivision auf Verdeck versammelt, wo der erste Officier die Gefechtsrolle verlas, damit Jeder genau über seine Obliegenheiten unterrichtet sei.

Der „Wilhelm“ legte das Ruder Backbord und wich dem Segelschiffe, wie es vorgeschrieben, rechts hin nach dem Lande zu aus, die folgenden Schiffe thaten desgleichen. Nachdem die Bark passirt, beabsichtigte der wachehabende Officier des Flaggschiffes den alten Cours wieder anzunehmen, und commandirte das Ruder Steuerbord zu legen, ein Commando, welches aber von den Matrosen am Steuer mißverstanden und im entgegengesetzten Sinne ausgeführt wurde. Dieses Versehen war für den „Großen Kurfürsten“ verhängnißvoll. Immer näher und näher kamen einander die beiden Kolosse; schon kreuzten sich die Raaen, unvermeidlich war die Katastrophe. Die Uhr zeigte einige Minuten nach Zehn.

Ein furchtbares Krachen, der Detonation einer Explosion vergleichbar, welches einige Secunden andauerte, absorbirte alle anderen Sinneswahrnehmungen. Die Erschütterung der Schiffskörper selbst kam verhältnißmäßig wenig zur Empfindung. Das Bugspriet des „Wilhelm“ hatte über das Oberdeck des „Kurfürsten“ weg gefegt. Von oben prasselten auf diesem Stangen, Blöcke, Spieren; es regnete Holz- und Eisensplitter. Die Großraa hing zerbrochen in den sie haltenden Tauen; die backbordschen Seitenboote waren zertrümmert – eine unglaubliche Verwüstung das Werk eines Augenblicks. Die Mannschaft war, um sich vor dem fallenden Rundholze zu sichern, auf Commando nach Steuerbord gelaufen.

Der Rammsporn des Admiralschiffes hatte die linke Seite des „Großen Kurfürsten“ zwischen Groß- und Kreuzmast, unterhalb der Wasserlinie, tödtlich getroffen. Langsam neigte sich vor dem gewaltigen Anpralle das verwundete Schiff nach der gesunden Seite und schwankte dann zurück, um sich gleich allmählich nach Backbord überzulegen. Nur kurze Zeit waren die Schiffe aneinander; schon vor der Collision hatte der Admiral das Commando „Voll Dampf zurück“ gegeben und langsam entfernte sich der „König Wilhelm“ mit zerbrochenem Vorgeschirr von seinem dem Untergange geweihten Opfer.

Noch haftete der Sporn des „Wilhelm“, als auf dem „Kurfürsten“ die Schiffsglocke zur Verschlußrolle angeschlagen wurde. Jeder stürzte auf seinen Posten. Unter Führung des Zwischendeckofficiers, des Unterlieutenants Fouquet, eilten die abgetheilten Mannschaften in die Batterie und das Zwischendeck, um die wasserdichten Thüren und Pforten zu schließen. Gehorsam dem Befehle, wurde dieser junge, hoffnungsvolle Officier ein Opfer seiner Pflichttreue; der ihm zugetheilte Cadett fand kaum die Zeit, das Oberdeck zu gewinnen, noch im letzten Moment hatte er seinem Officier zugerufen, er möge sich retten, aber „eine Thür wollte derselbe noch schließen“. Diese Zögerung ward sein Verderben. Der erste Officier war zusammen mit dem Batterieofficier in das Zwischendeck und die Batterie gegangen, sich von dem Schlusse der Thüren und Pforten persönlich zu überzeugen. Um eines Haares Breite wäre auch ihm die Möglichkeit der Rettung abgeschnitten gewesen. Kaum erreichte er das Oberdeck, so kenterte das Schiff und warf ihn in die Tiefe. Wie von unsichtbaren Händen fühlte er sich nach unten gezogen und dort festgehalten, um erst nach geraumer Zeit die Oberfläche wieder zu gewinnen. Doch das alles geschah später.

Sofort das Schlimmste befürchtend, gab der Commandant Capitain zur See Graf von Monts das Commando „Volle Kraft“ in die Maschine und steuerte auf Land zu, um das Schiff auf den Strand zu setzen und so vor dem Untergange zu bewahren. Alle Lenzpumpen wurden auf seinen Befehl angestellt, die Maschine aus der Bilge gespeist, aber zusehends neigte sich der „Große Kurfürst“ nach Backbord; zu weit war der rettende Strand. Die beiden noch unversehrten Seitenboote wurden heruntergefiert, was trotz des Ueberliegens mit Präcision und Schnelligkeit ausgeführt wurde. Das eine Boot schlug leider voll Wasser und versank, während der Kutter zu Wasser kam. Mit seiner Mannschaft hielt der Bootssteurer zwanzig Schritte vom sinkenden Schiffe entfernt auf Riemen, um später mit großem Erfolge bei der Rettung thätig zu sein. Die Zurrings und Taue, durch welche die auf Deck stehenden schweren Boote befestigt sind, wurden auf Befehl durchschnitten, um sie beim Sinken des Schiffes flott zu erhalten, was auch bei einem Boote, der Dampfpinaß, gelang.

Ueber alles Lob erhaben war die Haltung und das Benehmen der Mannschaft; vollgültig bewährte sich in diesen fürchterlichen Minuten, welche dem Todeskampfe von Hunderten von braven Leuten vorangingen, die strenge Disciplin, wie sie an Bord unserer Schiffe gehandhabt wird. Mit größter Ruhe und Kaltblütigkeit wurden die verschiedenen Commandos gegeben und, wie sie gegeben, so ausgeführt. Obgleich Viele, des Schwimmens nicht kundig, dem sicheren Tode in’s Antlitz sahen, war auch nicht eine Spur von Unordnung oder Verwirrung bemerkbar. Eine unheimliche Stille, welche nur von den Commandoworten des Capitains unterbrochen wurde, zeugte allein von der drohenden Gefahr, die in ihrer ganzen Größe Keinem unbekannt sein konnte. Wohl Mancher gedachte in diesen Augenblicken in banger Todesahnung der Lieben in der Heimath, die er erst vor zweimal vierundzwanzig Stunden verlassen hatte und nun nimmer wiedersehen sollte.

Alle Maßregeln waren erschöpft. Immer höher stieg das Wasser; der Maschinen-Ingenieur Ehrenkönig kam an Deck und meldete dem Capitain, daß alles Pumpen fruchtlos sei; da gab dieser das Commando: „Alle Mann an Deck!“ und „Stopp!“ in die Maschine. Mit seltener Kaltblütigkeit stieg der Stabswachtmeister

  1. Wie Vieles und wie Ergreifendes auch gleich in den ersten Tagen nach dem Untergange des „Großen Kurfürsten“ über das herzerschütternde Unglück veröffentlicht worden ist, immer noch, so hoffen wir, wird das, was ein Augenzeuge, wenn auch mit Zurückhaltung seiner Person, über die Katastrophe erzählt, die Theilnahme unserer Leser finden.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_518.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)