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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


war. Die Leipziger Jugend, die in solchen Huldigungen noch mehr Routine und Enthusiasmus hat, spannte nach der Abschiedsvorstellung, die an Hervorrufen und Blumensträußen überreich war, sogar die Pferde aus und zog den Wagen mit der gefeierten Künstlerin nach Hause.

Man könnte bei diesen zum Theil übertriebenen Huldigungen von Familienerfolgen sprechen; eine Darstellerin von Geist, feiner Bildung und tactvollem Benehmen erobert sich überall die Salons und ihre persönliche Beliebtheit überträgt sich auf ihre Leistungen als Künstlerin. Doch bei Fräulein Ellmenreich wäre diese Erklärung einseitig; sie hat überall auch den Beifall des großen Publicums und der Kritik gefunden; in der Liebenswürdigkeit ihres Wesens und der Harmonie ihrer Darstellung liegt der Zauber, der weitere Kreise ebenso für sie gewinnt, wie engere Freundeskreise. Die Hamburger Damen sandten ihr nach Dresden ein kostbares Armband mit der Devise: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“. In der That liegt in diesem ewig Weiblichen das Geheimniß ihrer Erfolge.

Es giebt freilich hochtragische Charaktere, durch welche diese Devise in einer fast ironischen Weise beleuchtet wird, Rollen, in denen das Dämonische und das wild Leidenschaftliche der Frauennatur gewaltthätig zum Durchbruch kommt. Derartige Rollen, wie Medea und Messalina, liegen außer der Sphäre unserer Künstlerin, so sehr sie sonst für Trauerspiel und Lustspiel gleichmäßig begabt ist. Und wenn wir hier die eine Schranke ihres schönen Talentes finden, so ist die andere auf der entgegengesetzten Seite zu suchen: Fräulein Ellmenreich ist eine natürliche, aber sie ist keine naive Schauspielerin. Kindliche Naivetät liegt ihr fern: dazu ist sie zu bewußt, zu klug, zu reflectirend. Zwischen diesen beiden Extremen aber liegt ein weites Feld der Dramatik aller Zeiten, auf denen für ihr darstellendes Talent die schönsten Blüthen wachsen.

Im Lustspiel erfreut sie durch das Gefällige ihrer Erscheinung, die Sicherheit ihres Benehmens, den sinnigen gebildeten Salonton, die Schalkhaftigkeit ihres Spiels. Nehmen wir ihre Katharina von Rosen in „Bürgerlich und Romantisch“ und ihre Adelheid in den „Journalisten“, die weibliche Hauptrolle in zwei der besten deutschen Lustspiele: wie anmuthig verkörpert sie diese gesunden, harmonischen Gestalten! Hier hat man das Gefühl, daß sich Dichtung und Darstellung vollkommen decken. Das Gleiche gilt von allen deutschen Mädchenrollen ähnlichen Schlages in den Lustspielen von Benedix, von Putlitz, Bauernfeld und anderen ähnlich gearteten Dichtern. Wärme des Gefühls charakterisirt bei ihr stets die gehobeneren Stellen des Lustspiels; wo es aber geistreiche Pikanterie des Salontones in ein- oder mehractigen dramatischen Plaudereien gilt, da kommt ihr angeborener Tact für seine Auffassung und glückliches Verständniß ihr in seltener Weise zu statten; sie hat für die zartesten psychologischen Uebergange die Farben auf ihrer Palette.

Auch in der Tragödie hat Fräulein Ellmenreich schöne Erfolge zu verzeichnen; es sind die Rollen der mittleren Tragik, der tragischen Dulderinnen, die sie mit ergreifendem Gefühl und edlem Aufschwung spielt: eine Maria Stuart, als welche unsere Abbildung sie darstellt, eine Hermione im „Wintermärchen“, in welcher Rolle sie einmal in Berlin auftrat und die glänzendste Anerkennung Seitens der Berliner Kritik fand, eine Rutland in „Graf Essex“, eine Katharina Howard und zahlreiche andere Rollen.

Ihr Organ hat zwar nicht markerschütternde Kraft, aber es ist voll, klar und melodisch. Für die geistige Bedeutung der Dichtungen zeigt sie das feinste Verständniß: niemals wird sie mit getragener Declamation, mit dem prunkenden Schleppkleid eines falschen Pathos über unbarmherzig zerrissene Perioden oder durch einander gewirrte Accente hinwegfegen. Logische Mißgriffe, Sinnfehler irgend welcher, auch versteckter Art sind ihr gänzlich fremd. Ebenso fein ist ihr psychologisches Verständnis: meisterhaft weiß sie Monologe zu gliedern, stimmungsvoll zu beleben. Ihr großer Monolog „Katharina Howard“, einer ihrer Glanzrollen, ist ein schöner Beweis hierfür. Und da dem Dichter selbst über die Auffassung und Stellung der von ihm geschaffenen Charaktere ein wohl zu beachtendes Urtheil zustehen muß, so will ich noch hier ihrer Elisabeth in meiner „Amy Robsart“ gedenken, als einer der Rollen, in welcher das Talent der Künstlerin für charakteristische Darstellung am meisten hervortrat. Denn die angebliche, gelehrte, geistvolle pretiöse Königin mit ihrer versteckt auflodernden Leidenschaftlichkeit kam in einer allgemein anerkannten Weise zur Anschauung.

So gehört diese anmuthige, kluge, fein durchgebildete und vielseitige Schauspielerin nicht nur zu den stolzen Hoffnungen unserer Bühne, sondern bereits zu ihren gegenwärtigen Zierden. Das moderne Trauerspiel und Lustspiel darf in ihr eine feinfühlige und glänzende Vertreterin sehen. Natur und Wahrheit sind ihre Devisen; mit Tact und Geist ausgestattet, ergreift sie das Richtige und die Grazien, die ihr nicht ausgeblieben sind, geleiten sie auf anmuthigem Wege zu dem Ziele, das ihrem rastlosen Streben vorschwebt: stets vollendeterer Gestaltung, der auch der Nachruhm nicht fehlen wird.

Rud. von Gottschall.




Arbeiter-Hülfscassen!

Der Vorschlag, den Ertrag der Wilhelmsspende zur Gründung von Invaliden-, Pensions-, Wittwen- und Waisencassen für Arbeiter zu verwenden, beruht auf einem so glücklichen und doch so naheliegenden Gedanken, daß er Unzähligen aus der Seele gesprochen und vom deutschen Kronprinzen, wie vom Haupte des Comité der Wilhelmsspende, dem ehrwürdigen Moltke, freudig erfaßt worden ist. Als am 15. September dieses Comité dem Kronprinzen in besonderer Audienz über das Ergebniß der Sammlung berichtete und als Erfolg die Summe von 1,739,418 Mark 42 Pfennig, dargebracht von nahe an zwölf Millionen Beisteurern, überreichen konnte, sprach es der Kronprinz offen aus: „er hoffe, daß ein Mittel gefunden werde, wie der dringendsten Noth gerade derjenigen Classen des Volkes abzuhelfen sei, bei denen Irrlehren Eingang gefunden hätten, welche auf Untergrabung und Zerstörung des gesammten Volkslebens gerichtet seien“. So ist man denn an maßgebender Stelle gesonnen, jenen glücklichen Gedanken zu verwirklichen. Unbedingt ist damit ein Weg bezeichnet, der endlich mit Entschiedenheit betreten werden muß, wenn durch Erfüllung vernachlässigter Pflichten wider den schlimmen Geist gewirkt werden soll, der uns in den letzten Monaten seine Gefährlichkeit in so erschreckender Weise gezeigt hat. Möge sich aber Niemand einbilden, daß mit der eben genannten Summe der Wilhelmsspende das Ziel erreicht werden könnte. Von erfahrener und bewährter Seite schreibt man uns neuerdings über die Frage:

„Keinem Widerspruch dürfte die Behauptung begegnen, daß derjenige Arbeiter, welcher das Bewußtsein in sich trägt, daß der erste beste seine Arbeitskraft schädigende Unfall ihn und seine Familie zu Bettlern herabdrücken kann, leicht auf den Gedanken kommt, es müsse der Augenblick dem Genusse gewidmet werden, da die Zukunft denn doch eine unsichere sei. Die Unsicherheit, in der er lebt, muß seine Selbstachtung schwächen, die Aussicht auf den Bettelstab den Sinn für Ehre in ihm ertödten. Das Gefühl der Bitterkeit wird in ihm großgezogen, das Gefühl des Hasses gegen eine Gesellschaft und gegen Institutionen, unter deren Herrschaft es möglich ist, daß selbst ein braver und fleißiger Mann durch vorübergehende oder andauernde Störung seiner Erwerbsfähigkeit in die mißachtete Classe der Almosenempfänger gestoßen wird. Moralische Verwilderung, Versinken in niedrigen Materialismus und andererseits Haß alles Bestehenden und die natürliche Frucht der geringen Sicherheit, welche wir der materiellen Existenz unserer Arbeiter geben. Und diese Zustände werden je länger, je schlimmer. Das heranwachsende Geschlecht wird in denselben schlechten Grundsätzen erzogen, die Kinder aber solcher armen Leute, welche erwerbsunfähig wurden oder starben, ehe jene sich selbst ernähren konnten, sind nicht selten ganz verloren. Aufwachsend im Elend, ohne häusliche Erziehung, der Schule entfremdet, hinausgestoßen auf die Straße, um durch Betteln ihr Leben zu fristen, verfallen sie nur allzu oft vollständig dem Laster. Und daß solcher Kinder nicht wenige sind, das beweist die Statistik der Knappschaften, wonach auf je zehn Bergarbeiter eine Waise unter fünfzehn Jahre kommt.“

Es ist wahrlich keine Uebertreibung, wenn behauptet wird,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_655.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)