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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


4.

Zwei Jahre und einige Monate waren darüber in’s Land gegangen. Nun war es ein Abend im Mai. Durch das geöffnete Fenster drang eine weiche berauschende Luft in das kleine Zimmer der Muhme; der Wind bewegte die jungen Blätterranken des Weines, der das Fenster einrahmte, und der Mond warf sein weißes Licht hell auf die sauberen Dielen, auf die einfachen Möbel des traulichen Stübchens und beleuchtete voll das runzlige Gesicht der alten Frau, welche, die fleißigen Hände in den Schoos gelegt, am Fenster saß und in den Garten hinaus schaute, in dem just die Apfelbäume und der Flieder in vollster Blüthe standen. Die Muhme hielt ihr Feierstündchen; Licht durfte jetzt an den längeren Abenden nicht mehr angezündet werden; das war alter, guter Brauch in ihrer Heimath, und der Mensch ruht doch auch gern einmal, nicht nur mit seinen Händen, auch mit den Gedanken. Eigentlich ruhten diese nun wohl nicht, denn sie schweiften weit hinaus in die Vergangenheit, in ferne, schöne Tage, und das war eine Freude, eine Erholung, wenn nach des Tages Last und Hitze nun die Dämmerstunde kam. Im Hause war Alles wohl beschickt und besorgt; die Gegenwart verschwand an diesem duftigen Frühlingsabend vor den Blicken der alten Frau, und die Jugendzeit tauchte vor ihr auf, duftig und mondbeschienen, wie die Welt da draußen.

Die Muhme faltete die Hände und wandte den Kopf zurück nach dem Zimmer; ihre Blicke richteten sich auf ein Bildchen über der Kommode, das im hellen Mondeslichte die Silhouette eines Männerkopfes zeigte.

„Ja, ja, mein Christian,“ flüsterte sie leise, „wir Beide haben uns lieb gehabt, sehr lieb, und wenn es auch nur eine kurze Zeit gewesen, da Du bei mir warst, vergessen habe ich sie nicht, und ich bin Dir treu geblieben bis heute. Daß das auch so kommen mußte mit Dir – so traurig! Du lieber Gott im hohen Himmel, was thut man nicht alles erleben in dieser kurzen Spanne Zeit! Es sind doch kaum ein paar vergnügte Jahre, die der Mensch hat; dann kommt der Kummer scheffelweise. – Gott, was waren wir doch ein paar lustige Mädchen, meine Lisett und ich, und just wie wir dachten, es ist am schönsten in der Welt – da ging das Weinen an. Du lieber Gott, meine Lisett und mein guter alter Christian!“ Sie nickte traurig mit dem Kopfe, denn vor ihren Augen tauchten zwei grüne, rasenbewachsene Hügel auf, da drüben im Schatten der Kirchhofs-Linden.

Da flog ein blühender Fliederzweig durch das Fenster und fiel ihr gerade auf den Schooß. Neckisches Lachen tönte herauf.

„Na, wart! Das ist die Liesel,“ sagte die Muhme, und ein schelmischer Zug verscheuchte die traurige Miene; nun saß sie ganz still und drückte sich in den Sorgenstuhl zurück. Gleich darauf tauchte ein Mädchenkopf mit dunklem Flechtenkranze vor dem Fenster auf und bog sich spähend hinein.

„Nicht da!“ sagte sie wie ärgerlich; dann schrie sie aber erschrocken auf, denn die Muhme machte in ihrem Stuhle eine schnelle Bewegung und fuhr dem Mädchen mit dem Fliederzweige sanft über das verblüffte Gesicht.

„Pfui! Wie abscheulich, Muhme, mich so zu erschrecken!“

„Ei, was! Wer wohl zuerst erschrocken war?“ erwiderte die Alte. „Warte, Du Bösewicht, willst wohl gar noch beleidigt thun?“

Das Mädchen antwortete nicht darauf, sondern fragte: „Sind Vater und Mutter schon zurück aus der Stadt?“

„Noch nicht; wird auch wohl elf werden, Kindchen. Geh’ ruhig schlafen! Ich bleibe ja wach.“

„Aber, Muhme, was denkst Du denn?“ rief das junge Mädchen. „An diesem wundervollen Abend? Komm’ doch ein bischen heraus, riech’ doch nur ein einziges Mal, wie es duftet von all dem Flieder! Du glaubst ja nicht, wie prächtig es in dem Garten ist.“

„Ach, Kind, das ist nichts mehr für mich; alte Leute sind bös jung machen; es ist doch feucht draußen, und – meine dumme Gicht – aber bleib’ Du nur draußen und genieß’ den schönen Abend!“

„Dann, Muhme, komm’ ich herein zu Dir. Darf ich? Ich kann heute Abend nicht allein sein, um die Welt nicht.“

„Nun, da komm’, Du närrisches Ding!“

Das Köpfchen verschwand vom Fenster, und bald darauf öffnete sich die Stubenthür, und die schlanke hochgewachsene Mädchengestalt im hellen Kleide trat in’s Zimmer.

„Da bin ich, Muhme!“ rief sie heiter und setzte sich auf ein Bänkchen zu Füßen der Alten. Der Mondschein fiel voll auf ein ovales Gesichtchen und zeigte ein paar wunderbar tiefe, blaue Augen, die wie bittend zu der alten Frau empor blickten.

„Muhme,“ sagte sie dann leise, „erzähle mir heute Abend einmal etwas, bitte –“

„Ei! Soll ich einem großen Mädchen Märchen erzählen?“

„O, nicht doch! Etwas aus deiner Jugend, Muhme.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_689.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2016)