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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

was er sagte und that, bereit war den leisesten Wunsch von seinen Augen zu lesen, sie brachte heute der Cousine ein so gleichgültiges Wesen entgegen, schien so wenig Theilnahme zu haben für Alles, was um sie vorging, daß es beinahe an Unart streifte. Ihr rother Mund, der sich so gern zum herzlichen Lachen öffnete, blieb heute streng geschlossen, und ihre Augen streiften nur mitunter scheu die glücklichen Züge ihres Bruders, der so unerschöpflich in Aufmerksamkeiten war für seine Nachbarin. Vor ihren Augen tauchte immer und immer wieder ein erblaßtes Gesichtchen mit ein paar großen Thränen in den blauen Augen auf: was hatten sie nur dem Lieschen gethan, ihrem Lieschen? Nein, sie mußte erst hin zu ihr – und sie sollte es sagen, wer sie beleidigt. – –

Es war völlig dunkel geworden, als Nelly einige Stunden darauf aus Lieschen’s Stübchen trat, wo sie in der Dämmerung mit der Freundin geplaudert hatte.

„Es ist nichts, Nelly,“ versicherte Lieschen einmal über das andere mit ihrer weichen Stimme, „es war recht kindisch von mir, daß ich etwas übel nahm, was gar nicht der Rede werth ist, und nun komm, ich werde Dich begleiten.“

Und so schritten sie denn über den Mühlensteg und in dem tiefen Dunkel der Bäume den alten bekannten Weg entlang. Es war ein warmer Abend; kein Lüftchen regte sich am fernen Horizont lag unheimlich eine dunkle Wolkenschicht, schwaches Wetterleuchten zuckte von Zeit zu Zeit auf und warf ein falbes Streiflicht auf die Gegend; die Nachtigallen schlugen in allen Gebüschen, und aus der Ferne ertönte der Gesang junger Burschen, die ihre Festlust so recht aus voller Seele hinausjubelten.

„Ich weiß nicht, wie mir ist,“ begann Lieschen und athmete tief, „als ob ich ersticken müßte! Wie ist die Luft heute so schwer und dumpf! Ich glaube, die Muhme hat Recht – es kommt ein Gewitter.“

Nelly nickte.

„Meine Mutter klagt auch, daß sie gar nicht athmen kann,“ fuhr Lieschen fort; „weißt Du, Nelly, mir ist Pfingsten noch nie so traurig vorgekommen wie diesmal, und es ist doch Alles so wie sonst gewesen. Wenn nur nichts Schlimmes passirt, falls das Wetter doch kommt!“

So waren sie bis zur Parkthür gelangt, mechanisch gingen sie noch weiter in den dunklen Lindenweg, der Duft des Flieders und Faulbaums drang ihnen fast betäubend entgegen, und Lieschen griff mit der kleinen Hand an die schmerzende Schläfe – auf einmal fühlte sie einen leichten Druck auf dem Arm, und Nelly blieb stehen.

„Lieschen, ich bitte Dich,“ bat sie, „war das nicht Blanka’s Stimme?“

Es war ein Weilchen Alles ruhig und still; dann kamen ihnen Schritte entgegen; das Rauschen eines Kleides begleitete sie, und nun drang durch die Stille eine süße klare Stimme herüber:

„Army, mein lieber, lieber Army!“

Wie berückend das klang! Dem jungen Mädchen dort unten war zu Muthe, als bohrte sich ein spitzes Messer in ihre Brust; unwillkürlich preßte sie die Hand auf’s Herz. Und jetzt ein Flüstern: das war seine Stimme, – wie gut, daß sie nicht vernahm, was er sagte! Wäre sie doch nicht mitgegangen!

Das Rauschen des Kleides und die langsamen Tritte kamen näher; sie ließ die Hand der Freundin los und flüchtete hinter den dicken Stamm einer Linde, und doch beugte sie sich vor, und da – da leuchtete ein greller Schein am Himmel auf und zeigte ihr eine hohe, edle Männergestalt, und in seinem Arm hing, wie eine Elfe so zart und licht, die schöne Cousine mit den rothgoldnen Haaren; sie hatte den Kopf zurückgebogen und er beugte sich zu ihr hernieder und küßte sie. Es war nur ein Moment, aber er reichte hin, um den zwei bangen blauen Mädchenaugen Alles zu verrathen; sie legte den Kopf an den Stamm des alten Baumes und schloß die Augen in heißem, nie gekanntem Schmerz. Nelly aber schrie gellend auf: „Army! Army!“ – wie anklagend, wie warnend tönte es. Und dann antwortete er, und so lustig klang die Stimme: „Schwesterchen, wo bist Du denn? So komm doch, sieh nur, was ich gefunden! Komm her – Du sollst voraus laufen und der Großmama sagen, daß das Glück nun wirklich eingekehrt ist, daß Blanka mein geworden!“ Und da flammte es wieder auf im grellen Schein durch die Bäume und beleuchtete eine schlanke Mädchengestalt, welche die Allee hinab heimwärts floh.

Vor dem Brautpaare stand die kleine Nelly und sah mit bangen, großen Blicken zu dem Bruder auf, und als der Schein erloschen, da rang sich ein heißes Schluchzen aus ihrer Brust und mit gesenktem Kopfe schritt sie zum Schloß, um der Mutter zu sagen, daß die Blanka und der Army – ihr lieber, guter Army – Braut und Bräutigam geworden seien. – –

Die Muhme aber saß auf der Sandsteinbank vor der Thür und wartete auf ihren Liebling; der Hausherr und seine Frau promenirten im Garten auf und ab, und Herr Selldorf begleitete sie und erzählte von seiner Heimath und seinen Geschwistern.

Die alte Frau hing ihren Gedanken nach, und jedesmal, wenn so ein flammender Schein durch die schwüle Luft fuhr, dann dachte sie: wenn nur die Liesel erst wieder daheim wär’! „O weh, es regnet morgen,“ flüsterte sie vor sich hin, da wird nichts aus der Waldpartie mit Pastors. Na, da müssen sie sich halt hier verlustiren; „’s wird zwar einen Kribbel-Krabbel geben in der alten Mühle – wie viel hab ich denn zu Tisch? Da sind aus der Pfarre allein acht Personen, und dazu die beiden Oberförsters und – – Gerechter Himmel!“ schrie sie dann auf, „Liesel, wie hast Du mich erschreckt!“ und sie bog sich zu dem jungen Mädchen hinunter, das wie leblos zu ihren Füßen niedergesunken war und den Kopf in ihren Schooß barg.

„Was ist Dir denn, mein Kind? Liesel, so sprich doch! Was ist Dir?“ fragte sie und streichelte das Köpfen. „Mein Gott,“ fuhr sie fort, „bist Du denn krank, mein Herzblättel?“ Aber sie erhielt keine Antwort. Nur der Kopf des Mädchens richtete sich empor; zwei Arme schlangen sich um ihren Hals, und heiße, zitternde Lippen preßten sich innig auf die ihren, – dann war das flüchtige Mädchen verschwunden, und die alte Frau hörte den leichten Schritt auf der Treppe und bald darauf, wie die Stubenthür geschlossen wurde.

„Wunderliches Kind,“ murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sie sah ja nicht, wie ihr Liebling dort oben ruhelos auf und ab schritt und wie endlich ihr müdes Köpfchen auf einem thränennassen Kissen lag und die kleinen Hände sich so fest falteten, um ein Gebet zu sprechen für den Army, mit dem sie einst als kleines Mädchen gespielt, und der sie jetzt so gar nichts anging auf der Welt, – ach, so gar nichts mehr!


8.

Droben im Schloß kehrte heut noch lange nicht die Ruhe ein. Die junge Braut zwar zog sich bald in ihr Zimmer zurück; sie war noch so verwirrt, wie sie sagte; es sei Alles so plötzlich, so überraschend gekommen. Sie duldete freilich die Schmeicheleien, welche die alte Baronin ihr mit strahlendem, freudig überraschtem Gesichte sagte, und hörte die bewegten Worte an, die ihres Army Mutter ihr zuflüsterte, aber dann war sie müde, und die hohe Thür ihres Gemaches flog eilig hinter ihr in’s Schloß; das kindlich süße Lächeln verschwand von dem schönen Gesichte, und Sophie, die Kammerjungfer, hatte eine sehr ungnädige Gebieterin. Endlich saß sie dann im Nachtkleide an ihrem Schreibtisch, und die Feder flog über das Papier wie gejagt, und um den Mund zuckte es wie im tiefsten Verdruß.

Um Army aber schlangen sich drunten im Wohnzimmer die Arme seiner Mutter, und ihre Augen ruhten auf den seinen, die so glücklich leuchteten. „Mein alter, guter Junge,“ flüsterte sie, „mögest Du doch glücklich werden! Es ist so rasch gekommen, Army, und Du bist noch so jung. Gott gebe Euch seinen Segen!“

Die alte Baronin, die lebhaft im Zimmer hin und her schritt, blieb nun vor der Gruppe stehen, als eben der junge Mann seinen Mund auf denn der Mutter preßte. „Army,“ begann sie, augenscheinlich ärgerlich über die sentimentale Scene, „Du weißt, was Du zunächst zu thun hast. Du reisest zur Tante und hältst in aller Form um Blanka an, und dann hoffe ich, daß alles Andere auch bald arrangirt sein wird, – an Blanka’s Vater schreibst Du nur; ich denke, mit dem Menschen kommen wir in keine weitere Berührung; jedenfalls –“

„Gewiß, Großmama, ich reise,“ unterbrach er sie mit leicher Stimme. Er war zu Nelly getreten, die, in einen großen Lehnstuhl gekauert, das Gesicht in beide Hände barg.

„Kleine,“ sagte er leise, „hast Du denn kein freundliches Wort für mich?“

„Ach, Army,“ schluchzte sie, „ich – ich erschrak so heftig,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_738.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)