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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


die Alte das Kaffeegeschirr von der Bank genommen und auf den Tisch gestellt hatte.

„Muhme, nicht wahr, Du trinkst Deinen Kaffee hier draußen bei uns?“ fragte Lieschen, als jene fertig war.

„Kann ich thun,“ erwiderte die Muhme, „in der Wohnstube ist ohnehin Besuch.“ Sie setzte sich zu Nelly auf die Bank und bat Lieschen, ihr eine Tasse zu holen. „So fleißig?“ meinte sie dann, als das junge Mädchen neben ihr aus einem Körbchen eine Stickerei hervorgezogen hatte und eifrig zu sticken begann.

„Für den Army ein Hochzeitsgeschenk!“ erwiderte diese freundlich.

„Lieber Gott,“ sagte die alte Frau, und nahm dankend die gefüllte Tasse aus Lieschen’s Hand, „er ist auch noch recht jung; es ist mir immer, als sei es erst gestern, da er über den Mühlensteg gesprungen kam in seinem schwarzen Sammetkittel.“ Nelly nickte, Lieschen aber sah unwillkürlich hinüber zu der kleinen Brücke, unter der das Wasser klar und straff dahinschoß.

„Wer ist denn beim Vater drinnen?“ fragte sie mit gepreßter Stimme, als wollte sie das Gespräch auf etwas Anderes lenken; zu gleicher Zeit lächelte sie ihrer Mutter zu, deren Gesicht einen Augenblick am Fenster sichtbar wurde.

„Ein fremder Herr – ich kenne ihn nicht“, antwortete die Muhme, setzte dann aber plötzlich ihre Tasse hin, schob die Brille etwas herunter und sah darüber hinweg scharf nach dem Wege jenseits des Wassers. „Heiliger Gott,“ sagte sie dann, „war das nicht die Sanna, Nellychen, die dort zwischen den Bäumen ging? Jetzt ist sie hinter den Ellern und Weiden, – ich habe sie lange nicht gesehen, aber ich meine, ihr Gang ist’s gewesen. Siehst Du, wahrhaftig sie ist’s,“ rief sie und deutete auf die große Gestalt in dem dunklen Kleide und der weißen Schürze, die eben eilig die Brücke betrat.

„Die Sanna!“ rief auch Nelly und sprang auf, „mein Gott, was ist denn da passirt?“

„Die Frau Baronin lassen bitten,“ tönte die fremdartig accentuirte Stimme der alten Dienerin, deren harte Züge von eiligem Gehen geröthet erschienen, „das gnädige Fräulein sollen sofort zu ihr kommen.“

„Um Gott, Sanna!“ fragte hastig das junge Mädchen, ihre Stickerei zusammenraffend, „was ist passirt? Zur Mama soll ich kommen oder zur Großmama?“

„Zur Frau Großmama natürlich,“ erwiderte die Alte, ohne auch nur den Blick zur Muhme oder zu Lieschen zu wenden, die der Freundin behülflich waren, die bunte Wolle in den Korb zu legen, „die Frau Großmama ist sehr böse, daß Sie nicht zu Hause waren, so böse, daß ich mich sofort aufmachte, um hierher zu laufen, weil die Frau Mama meinte, Sie wären wieder in der Mühle, und Heinrich hatte keine Zeit; er muß Briefe auf die Post tragen.“

„So sag’s doch, Sanna,“ bat Nelly und schaute angsterfüllt zu der großen hageren Frau hinauf, „ist jemand krank oder sind schlechte Nachrichten da?“

„Die Frau Großmama hat einen Brief mit einer Trauernachricht bekommen,“ erwiderte die Alte und streifte mit finsteren Blicken die Muhme, die aufgestanden war.

„Um Gotteswillen!“ schrie Nelly, und schaute mit Entsetzen zu Sanna hinüber, „es ist doch nicht Army? Sanna, liebste Sanna, Du weißt es gewiß – sag’s doch! Ich bitte Dich,“ und sie lief zu ihr hinüber und faßte flehend ihre Hände. Lieschen aber setzte sich auf die Steinbank, es war ihr, als trügen sie ihre Füße nicht länger, und sie schaute mit großen weitgeöffneten Augen wie abwesend auf die Gruppe.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte achselzuckend die alte Dienerin, während Nelly die Hände vor’s Gesicht schlug und abermals schluchzend ausrief:

„Army! Allmächtiger Gott, wenn es Army wäre!“

„Beruhige Dich, Nellychen,“ tröstete jetzt die Muhme und nahm das weinende Mädchen in die Arme, „Dein Bruder ist es nicht; sie würde sonst nicht so ruhig dastehen – geh rasch nach Hause und sei getrost! Er ist es nicht.“

„Ach, Muhme,“ schluchzte sie, „ich kann vor Angst kaum stehen.“

„Meinen Sie nicht, gnädiges Fräulein!“ sagte nun auch die alte Sanna, das „gnädige Fräulein“ scharf betonend; „die Gräfin Stontheim ist gestorben, mir hatte aber die Frau Großmama verboten, hier in der Mühle davon zu sprechen, denn sie will alles Geklatsche möglichst vermeiden, und hier –“

Sie verschluckte das Uebrige, indem sie einen feindseligen Blick auf die Muhme warf, die noch immer neben dem weinenden Mädchen stand.

„Nun, nun,“ bemerkte diese, „Ihr könnt’s immer für Euch behalten, Jungfer Sanna, was geht’s mich an, ob die Tante gestorben ist oder nicht. Aber Ihr braucht darum dem armen Kinde nicht solchen Schrecken in die Glieder zu jagen mit der Todesnachricht; es war noch Zeit, wenn sie es zu Hause erfuhr.“

„Ich habe mit Ihnen gar nichts zu verhandeln; ich thue, was mich meine Herrschaft heißt,“ erwiderte die alte Dienerin geringschätzig.

„O ja! Dafür kenne ich Euch noch von früher“, sagte die Muhme, der das Blut plötzlich hell in das Gesicht stieg; sie sah ihre Freundin durchdringend an.

„Ich komme ein Stückchen mit Dir, Nelly,“ rief Lieschen, wie aus einer Erstarrung erwachend, und folgte der voran eilenden Freundin, während Sanna keine Miene machte, ihr zu folgen, vielmehr wie angewurzelt stehen blieb.

„Was meinen Sie denn?“ fragte sie und schaute mit dem Ausdruck unversöhnlicher Feindschaft zu der Muhme hinüber, die eben das Kaffeeservice zusammensetzte. Wie diese beiden Frauen sich gegenüberstanden, war es unverkennbar, daß hier ein alter, lange verhaltener Haß in einem Augenblick wieder in vollen lodernden Flammen emporschlug.

„Was ich meine?“ erwiderte die Muhme und trat, ihre ehrlichen Augen auf die große dunkle Gestalt richtend, furchtlos einen Schritt näher. „Was ich meine? Ei, Jungfer Sanna, das solltet Ihr doch nicht erst fragen; ich seh es an Eurem Gesicht, daß Ihr es wißt, gar genau wißt – es hat doch gewiß oft genug an Eurem Kopfkissen geruckt und gezuckt und Euch nicht schlafen lassen in langen bangen Nächten, und hat auf Eurer Brust gelegen wie ein Alp, der nicht gewichen ist, und wenn Ihr hundertmal Euren Rosenkranz abgebetet habt und alle Heiligen angerufen – das war das Gewissen, Jungfer Sanna, und ein böses Gewissen hat Wolfszähne; die fassen scharf und tief –“


(Fortsetzung folgt.)


Die Socialisten des Ostens.

Die Geschichte lehrt uns, daß der menschliche Gedanke da, wo ihm im praktischen Leben am wenigsten Raum zu seiner Bethätigung gelassen wird, sich häufig in die entlegensten Winkel der Geisteswelt flüchtet und sehr oft sich schließlich in die närrischsten, wunderlichsten Träumereien eines idealen Daseins verirrt. Dies geschieht sowohl in der Religion wie in der Politik.

Nun liegt allerdings die Politik dem einfachen Naturmenschen stets ferner, als die Religion, und eben deshalb ist das russische gemeine Volk weit entfernt, politischen Ideen, neuen Gedanken oder Einrichtungen auf diesem Gebiete nachzujagen. Ihm ist alle Politik beschlossen in dem Väterchen Czar, und allenfalls knüpft sich eine politische Empfindung noch an das Mütterchen Moskau. Der politische Gedanke beginnt erst mit dem Zöglinge einer Lehranstalt, dem Officier, dem Beamten, dem Sohne der wohlhabenderen Stände, kurz mit dem sogenannten gebildeten Russen, dessen Bildung jedoch wiederum einer eigenthümlichen Beschränkung unterliegt. Der Russe ist seiner ganzen Naturanlage nach dem harten, andauernden Studium abgeneigt. Er ist begabt: rasch faßt sein Verstand die Dinge auf; nach allen Seiten wendet sich sein Scharfblick; er ist im Ganzen, was man geistvoll nennt. Aber in die Tiefen dringt dieser bewegliche Geist schwer ein, während anderseits das ebenso bewegliche Gefühl des Russen ihn auch wieder zu raschem Wechsel im Seelenleben anstachelt.

So war es von jeher eine Eigenthümlichkeit der studirenden russischen Jugend, daß sie sich mit den verschiedensten Zweigen des Wissens oberflächlich bekannt machte, daß sie sich encyclopädisch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_756.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2016)