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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

den Blanka sich während des Sommers hatte nachschicken lassen, weil sie behauptete, auf dem alten Clavier im Wohnzimmer nicht spielen zu können, „ich meinte, weil wir so ganz allein sind in der Familie –“

„Da haben wir wieder Deine vollständig pietätlosen Ansichten, Cornelie. Army ist kein hergelaufener Bursche, der gerade dort seine Hochzeit begeht, wo er zufällig mit seinem Mädchen zusammentrifft; er ist der Sohn eines der edelsten Geschlechter im Lande und seine Braut eine Verwandte unseres Hauses, und darum werde ich dafür sorgen, daß diese Ceremonie wenigstens in anständiger Weise vor sich geht. Es könnte ein Lamm zum Tiger machen, Cornelie, wie Du über solche Sachen denkst.“

Die alte Dame schritt mit hochgeröthetem Gesicht an ihrer Schwiegertochter vorüber und trat an’s Fenster.

„Ich muß Dich überhaupt dringend bitten, Cornelie,“ fuhr sie fort, „daß Du Deine spießbürgerlichen Ansichten in Etwas änderst, wenn Blanka im Hause ist; sie sind das geeignete Mittel, ihr den Aufenthalt hier gründlich zu verbittern; sie kann das ewige ängstliche Beobachten und Sparen, welches den Maßstab an jede Buttersemmel lege, ebenso wenig vertragen wie ich, und jetzt kommt es vor allen Dingen darauf an, daß wir sie festhalten – festhalten um jeden Preis. Ist erst das Amen hinter der Trauung gesprochen so sind wir über jede Verlegenheit hinaus.“

In die Wangen der Schwiegertochter war ein tiefes Roth getreten, und die Thränen drängten sich ihr in die Augen. Für wen sparte sie? Für wen sorgte sie? Weshalb ging sie in den elendesten Kleidern? Damit jene excentrische Frau dort so wenig wie möglich von der wirklich drückenden Armuth empfinden sollte und einigermaßen so leben konnte wie früher; sie schickte jeden Abend die Sanna mit Thee und kaltem Fleisch hinauf in ihr Zimmer, und Nelly und sie begnügten sich mit einer Suppe oder einfachem Butterbrod.

„Nun weinst Du vielleicht auch noch, Cornelie,“ klang wieder die Stimme herüber, die das Deutsche so scharf und eckig aussprach, während sie in ihrer Muttersprache in melodischer Weichheit förmlich zu schmelzen schien, „misericordia! was sind die deutschen Weiber für sentimentale Geschöpfe; es kann mich außer mir bringen, sehe ich gleich diese Thränenbäche quellen; was ich Dir eben gesagt, ist nur zu unserem Besten – wenn Du es doch einsehen wolltest!“

In diesem Moment trat Nelly wieder ein. „Es ist schon fünf Uhr, Mama, und gleich nach sechs Uhr können wir sie erwarten; unten ist schon der Tisch gedeckt, und Heinrich wird hier schnell Feuer im Kamine anmachen und die Fenster schließen – ich bin so neugierig,“ fuhr sie fort, „was sie Alles erzählen werden, wie Blanka in Trauer aussieht und wie das Testament ausgefallen ist.“ Sie sah bei diesen Worten die Mutter an und bemerkte die Thränen in ihren Augen. „Weine nicht, Mama!“ flüsterte sie, „nachher kommt ja der Army, unser lieber Army.“

„Das Testament?“ fragte die Großmutter, „mon dieu, Army die Hälfte, sie die Hälfte, und verschiedene Legate an alte Diener, Spitäler etc., und wahrscheinlich auch für den Herrn Obersten, der sicher zugesehen, wo er bleibt bei der Sache.“

„Ja, Großmamachen, aber erinnere Dich doch, damals erzählte Army, Blanka gelte überall als die alleinige Erbin –“

„Ah bah! Dann liegt die Sache noch günstiger – über das Vermögen der Frau entscheidet ja stets der Mann; freilich, ich glaube es nicht; die Stontheim liebte Army viel zu sehr.“

„Wenn aber das Testament schon vorher gemacht war, Großmamachen?“

„Dann hat sie sicher ein Codicill dazu hinterlassen,“ erwiderte ungeduldig die alte Dame.

„Wenn ich nur genau wüßte, wann sie kommen!“ sagte Nelly; „die gewöhnliche Post trifft pünktlich um siebeneinhalb Uhr ein, Army schrieb aber, daß sie mit Extrapost reisen und deshalb auf der Eisenbahnstation erst ruhen und zu Mittag essen, zwischen sieben und acht Uhr aber, da müssen sie sicher hier sein. Geduld, Geduld! Ob ich das je lernen werde?“ lachte sie über sich selbst. „Sieh’ nur das schöne Abendroth, nun wird es bald dunkel; ich freue mich so sehr auf den Army.“

Allmählich sank die Dunkelheit über Schloß und Park, und am Himmel blitzte Stern an Stern in funkelndem Glanz; noch war die Lampe im traulichen Wohnzimmer nicht angezündet, nur das Feuer des Kamins warf eine dämmernde Helle in das Gemach. Mutter und Tochter waren allein; denn die alte Baronin hatte das Zimmer verlassen. Das junge Mädchen da in der tiefen Fensternische sah mit großen träumenden Augen in das leuchtende Gewimmel dort oben; sie knieete neben dem Sessel der Mutter und hatte den Arm um sie geschlungen; die tief erregte Frau preßte ein Tuch vor die Augen, und ihre Brust hob und senkte sich in leisem Weinen.

„Mein gutes Mütterchen,“ bat die Kleine mit ihrer süßen Stimme, „weine doch nicht Deine lieben Augen roth! Was soll Army denken, wenn er kommt? Sieh’, Großmama meint es nicht so böse –“

„Ach, Nelly, das ist es nicht,“ erwiderte leise die weinende Frau, „aber mich verfolgt heute schon den ganzen Tag eine Angst, eine Unruhe, die ich kaum beschreiben kann – Gott gebe nur, daß dem Jungen nichts passirt ist!“

„Aber Mama,“ tröstete die Tochter und schmiegte das blonde Köpfchen fest an ihre Brust, „was soll ihm denn geschehen sein? Er fährt sicher augenblicklich in der alten gelben Postkutsche und sitzt seiner Blanka gegenüber, also in der behaglichsten Situation, die es für ihn geben kann; der Oberst erzählt Anekdoten, und sie freuen sich Alle auf ein warmes Abendbrod und auf Dein liebes freundliches Gesicht, mein Mütterchen.“

Die Frau in dem Sessel schreckte auf. „Was hast Du nur, Mama?“ fragte Nelly ängstlich.

„Es war nur, als hörte ich seinen Tritt,“ erwiderte flüsternd die Mutter, „hast Du es nicht auch gehört, Nelly?“

„Nein, Mama, es ist ja auch nicht möglich.“

Es wurde still in dem großen Gemach; die flüsternden Stimmen schwiegen; ringsum kein Laut als das Knistern des Feuers im Kamine, und dann und wann ein banges Aufseufzen aus beklommenem Mutterherzen.

Aber da – da – ja, das war sein Tritt auf dem Corridor; „Nelly!“ rief die Baronin mit halberstickter Stimme, und das junge Mädchen flog empor und durch das Zimmer, und da öffnete sich die Thür – eine hohe Gestalt trat herein.

„Army!“ jubelte die Schwester. „Army!“ kam’s auch von den Lippen der Mutter. „Army, bist Du es?“

„Ja, Mama,“ erwiderte er, aber seine Stimme klang gepreßt, als müsse er sich mit Gewalt zwingen, ruhig zu scheinen.

„Mein guter Junge,“ sagte innig die Mutter und schlang den Arm um ihn. „Army, lieber Army,“ schmeichelte Nelly „aber sag’ doch, wo ist denn Blanka?“

Er stand in der Nähe des Kamins, noch in Mantel und Mütze, und der schwache Schein des verlöschenden Feuers ließ seine Züge nicht genau erkennen.

„Army, wo ist Deine Braut?“ rief nun auch die Mutter.

„Ich habe keine Braut mehr.“ Seine Stimme erstickte fast im Schmerze. Nelly stieß einen Laut des Schreckens aus, die Mutter aber hatte keine Antwort, da war ja das Unglück, das sie geahnt – sie preßte ihres Sohnes Hand fester in die ihre, als könne sie ihn hinwegreißen aus einem schrecklichen wüsten Traume.

„Mach’ mich nicht weich, Mama!“ bat er und drängte sie langsam zu dem nächsten Sessel, „es kann nichts nützen; wie konnte ich mir auch einbilden“ – er lachte bitter – „daß sie – Mach’ Licht, Nelly!“ sagte er dann kurz und rauh, „und bereite die Großmama vor! Ich habe nicht lange Zeit; ich muß morgen schon wieder fort.“

Mit zitternden Händen ergriff Nelly die Lampe; der helle Schein derselben beleuchtete das blasse Gesicht Army’s, der noch auf demselben Flecke stand und wie abwesend in’s Leere starrte.

„Army, mein lieber Army!“ flüsterte die Schwester und schlang aufschluchzend die Arme um ihn. Er strich gedankenlos über ihre Haare.

„Die Großmama!“ schrie sie dann auf und lief der alten Dame entgegen.

„Army,“ fragte diese, hastig eintretend, „was soll das? Ich wollte es nicht glauben, als Sanna behauptete, sie sei Dir auf dem Corridor begegnet. Wo ist Blanka? Wo ist der Oberst? Was bedeutet es, daß Du allein –?“

„Das bedeutet,“ erwiderte er langsam und jede Silbe betonend, „daß mich meine Braut heute früh, kurz vor unserer Abreise, in Gnaden entlassen hat; sie liebe mich nicht, ließ sie mir als Grund für ihren plötzlichen Entschluß sagen, und, weiß Gott, der Grund ist doch wohl triftig genug!“ Wieder lachte er

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