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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Posten gekommen. Seine Hauptaufgabe schien es zu sein, die Confusion, welche so wie so in Lazarethen und bei Ambulanzen herrschte, durch tolle, meist in der Trunkenheit gegebene Befehle zu vermehren. Seine Autorität war zuletzt auch dermaßen erschüttert, daß wir ihm Alle offen erklärten, wir würden keine Ordre mehr von ihm berücksichtigen. Er wurde denn auch endlich im December abberufen.

Im Militärhospital zu Orchanie waren deutsche, ungarische, englische und amerikanische Aerzte neben den etatmäßig angestellten türkischen Aerzten. Hätte man nun deutsch-ungarische und englisch-amerikanische Abtheilungen gebildet und dieselben unter die Leitung eines deutschen oder ungarischen, eines englischen oder amerikanischen Arztes gestellt, so konnte man sich von der Wirksamkeit dieser Abtheilungen etwas versprechen. So war das Hospital und ganz Orchanie mit der großen Anzahl von Krankenhäusern in verschiedene Divisionen getheilt und jede Division hatte ihren Arzt, der dort die Visiten machen und die nöthigen Operationen, größere nur mit Zustimmung der Medschlis (Conferenz oder Versammlung der Aerzte), ausführen mußte. Da es aber in der Taktik des Chefarztes lag, keinen Arzt längere Zeit bei einer Division zu lassen, sondern bald den, bald den mit Truppenkörpern oder Verwundetentransporten eine Zeitlang auf Reisen zu schicken, so entstand natürlich durch den häufigen Personenwechsel die größte Verschiedenheit, ja Verwirrung in der Behandlung der Kranken, da oft schon die Unkenntniß der Sprache einen Deutschen und Engländer an dem hier doch nothwendigen Meinungsaustausch hinderte.

Mit einer solchen Taktik verfolgte unser würdiger Chef den Zweck, die ausländischen Aerzte keinen Einblick in die Verwaltung und die inneren Verhältnisse des Militärsanitätswesens gewinnen zu lassen. Welche Niederträchtigkeiten da vorgekommen sind, habe ich später mit Gewißheit erfahren. Die Bestechlichkeit griechisch-türkischer und levantinischer Aerzte war selbst dem gemeinen Soldaten bekannt und wurde von demselben benutzt, wenn er das Geld hatte, sich einen Invalidenschein zu kaufen. In Philippopel theilten bei Anrücken der Russen die türkischen Aerzte die sogenannten Todtengelder unter sich, das heißt diejenigen Gelder, welche in den Lazarethen gestorbene Soldaten bei sich getragen hatten, und solche, welche durch Verauctionirung der von den Todten hinterlassenen Effecten zusammen gekommen waren. Es waren das viele tausend Franken.

Einen unheilvollen Einfluß auf die armen Kranken und Verwundeten, welche durch ihre bewiesene Tapferkeit und ihre Ruhe im Leiden die vollste Sympathie verdienten, hatten die Veruntreuungen und Pflichtverletzungen der Apotheker, auch zumeist griechischer Türken. Chinin wurde in großen Quantitäten gestohlen und statt dessen den Kranken Zucker gegeben. In späterer Zeit wurde trotz der religiösen Bedenken als Stärkungsmittel Rothwein eingeführt, der zum größten Theile von den Apothekern getrunken wurde. Kam man nun diesen Niederträchtigkeiten auf die Spur, so wurde eine Anzeige bei dem Chefarzt entweder todtgeschwiegen oder endigte mit der Abcommandirung des Arztes, der die Anzeige machte; denn türkische Aerzte und Apotheker mußten unter einer Decke spielen. Der Apotheker mußte den Arzt bei der Morgenvisite begleiten und sogleich die Verordnungen aufschreiben; eine zu gründliche Untersuchung eines oder mehrerer Kranker, welche die Mahlzeit des Apothekers etwas hinausschob, genügte oft, um die Versetzung des Arztes zu einer anderen Division zu verursachen.

Meine Bewunderung für die Leistungen der türkischen Soldaten ist geradezu unbegrenzt. Ich habe den gemeinen türkischen Soldat kennen gelernt im Gefecht und auf dem Marsche, im Zeltlager am Kochkessel und im Lazareth auf dem Krankenbette und dem Operationstische, und immer als tapfer und ausdauernd, mittheilsam und mäßig ohne Ruhmrederei und Geschrei nach dem Siege, ohne Klage bei den größten Entbehrungen und Schmerzen. Der gänzliche Mangel an der nöthigsten Verpflegung, die Strenge des den Meisten ganz unbekannten Winters und die erdrückende Uebermacht der Russen haben endlich die Kraft und Ausdauer dieser braven Soldaten gebrochen. Doch Soldaten konnte man sie zuletzt gar nicht mehr nennen, diese Schatten von dem, was sie gewesen, erfrorene, verhungerte, zerlumpte Gestalten mit einem Rest von Leben unter den Rippen.

Und diese Reste von Menschenleben aus den Kämpfen bei Kamerli sollten wir am 28. December, als die Russen die Straße nach Sofia abgeschnitten hatten und Taskissi bedrohten, nach der Ordre Baker Pascha’s auf Fußwegen über den Balkan nach Ichtiman bringen. Von dreißig Wagen, die uns für die schwersten Kranken zur Disposition gestellt wurden, kamen vier, von mehr als tausend Kranken ungefähr dreihundert nach Ichtiman. Die übrigen liegen begraben in den Schluchten des Gebirges, in die sie die Schneestürme warfen, welche uns hoch oben mit solcher Heftigkeit überfielen, daß ich mich, obgleich gesund und kräftig, oft minutenlang an einem Baum festhalten mußte und drei- bis viermal kopfüber in den Schnee gestürzt wurde. Noch kommt mir oft das Jammergeschrei der Unglücklichen in Erinnerung, die uns flehend die Kniee umklammerten und die Schuhe küßten. Und es war nicht zu helfen, selbst mit Aufopferung des eigenen Lebens nicht.

Wenn nun meine Hochachtung für die Leistungen der regulären türkischen Soldaten eine unbegrenzte ist, dann möchte der Leser wohl auch gern meine Meinung über die „schrecklichsten der Schrecken“, über die Baschibozuks und Tscherkessen hören.

Man hat im letzten Kriege, in Zeitungen aller Nationen, zum Theil Entsetzen erregende Berichte von den Gräuelthaten dieser Leute gelesen. Ich will den Hang dieser irregulären Kämpfer für den Islam zu Grausamkeiten, zu Mord und Plünderung gar nicht in Abrede stellen; aber so schlimm, wie man sich Baschibozuks und Tscherkessen denkt und nach den Berichten denken muß, sind sie doch nicht, und vielleicht zwei Drittel der ihnen zur Last gelegten Gräuelthaten sind nie verübt worden. Der Tscherkesse ist stolz und tapfer, habsüchtig und grausam; seinen Nationalstolz verleugnet er nie, er mischt sich fast nie unter türkische Soldaten. Selbst in den Zeiten des größten Wirrwarrs hatten die Tscherkessen in Städten und Dörfern eigene, streng exclusive Theestuben, und höchstens ein Europäer von unserem Stande konnte es wagen in denselben einzukehren, ohne den Unwillen der Gäste hervorzurufen. Merkwürdig schlau ist der Tscherkesse in Geldsachen; er hatte immer den Cours des Papiergeldes im Kopfe, in zweifelhaften Fällen zu seinen Gunsten, wußte sehr gut Gold von Gold zu unterscheiden und machte alles, was er raubte, am liebsten so rasch wie möglich zu Napoleons und Sovereigns. Er ist gebildeter als der Türke, und wenn auch von der Natur nicht besser beanlagt, so doch geweckter und wißbegieriger.

Die Grausamkeit des Tscherkessen gegen die Bulgaren läßt sich, relativ wenigstens, rechtfertigen oder erklären. Die türkische Regierung hatte bekanntlich die muselmanischen Tscherkessen in Bulgarien zum größten Aerger der christlichen Einwohner angesiedelt. Nun wußten die Tscherkessen, daß sie nicht allein für den Glauben, für den Sultan und die Existenz der Türkeit, sondern vor allen Dingen für Haus und Hof, für Weib und Kind zu kämpfen hatten; und sie hatten es erfahren in den bulgarischen Aufständen und jetzt überall, wo sich die türkische Armee rasch zurückziehen mußte, daß die erste und größte Wuth der befreiten Bulgaren sich mit Mord und Brand gegen die Familien und Wohnungen der Tscherkessen richtete. Zwischen Bulgaren und Tscherkessen wüthete eben ein Racenkampf in des Wortes entsetzlichster Bedeutung.

Schöne, imposante Gestalten sind die Tscherkessen, mit scharf geschnittenen Gesichtern, in geschmackvoller, malerischer Tracht. Den langen, eng anschließenden, meist braunen Rock mit Silbereinfassung schmückten auf der Brust zwei Reihen von häufig kostbaren Patronkapseln. Der Tscherkesse gehört auf das Pferd, ohne das ist er gar nicht denkbar. „Er lebt und stirbt auf demselben“ ist eine banale Redensart, doch will ich hier einen kleinen Beweis bringen, daß sie bei den Tscherkessen ihre Anwendung finden kann. In Orchanie war’s. Wir waren eben mit dem Verbinden eines großen Verwundeten-Transportes fertig geworden, meine Collegen waren in die Locanda zum Essen gegangen; ich blieb allein zurück, da ich die garde hatte, und stand in der Hausthür des Hospitals. Eben nahm die Herbstsonne, ihren kühlen rosigen Gruß über den Kamm der steilen Gebirgswand schickend, Abschied, da ritt langsam in den Hof auf jungem schwarzem Hengst ein alter, uralter Tscherkesse mit schneeweißem Barte. Er saß aufrecht im Sattel, aber der Ausdruck im Gesicht fiel mir schon von Weitem auf; ich ging ihm rasch die Treppe hinab entgegen und fragte nach seinem Begehr. Da zeigte er nur auf seinen Oberschenkel, und als ihn zwei rasch herbeigerufene Krankenträger mit mir vom Pferde hoben, da sah ich schon in ein lächelndes sterbendes Gesicht. Kaum hatten wir ihn im Corridor niedergelassen, so war er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_782.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)