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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sie stolz, und warf den noch immer schönen Kopf zurück, „und meine Handlungsweise verantworte ich allein. Als vor zwanzig Jahren die gänzliche Verarmung über uns hereinbrach, da schrieb er an mich; er hatte die Frau nicht vergessen, die einst sein junges Herz entzückt; ich hätte uns mit einem Schritt aus den drückenden Verhältnissen retten können – aber ich wußte, was ich dem Namen Derenberg, was ich mir selbst schuldig war.“ Sie stand mit erhobener Hand vor ihrem Enkelsohn und die großen Augen blitzten in edlem Stolze auf.

„Denkst Du, mir wird es leicht, an ihn zu schreiben?“ fuhr sie fort, „ich thue es Deinetwegen, Army, denn Dir ist die Hand gelähmt, von dem bischen Unglück, das Deine Stirn gestreift; es hat Dich zum weichlichen Träumer gemacht statt zum willensstarken Mann; so laß mich statt Deiner handeln!“ Sie schritt an ihm vorüber und verschwand im Nebenzimmer; die Thür flog so laut und heftig hinter ihr ins Schloß, daß die dunkelrothen Vorhänge ungestüm in das Zimmer wehten.

Army stand fast regungslos am Kamin; mitunter bewegte er leise schüttelnd den Kopf, und ein bittres Lächeln irrte um seinen Mund. Plötzlich war es, als wüchse seine bisher in sich zusammengekauerte Gestalt hoch auf, als durchzucke ihn eine Idee, ein Entschluß, der ihn –

„Army!“ rief da eine leise Stimmen und durch die Falten der rothen Portière lugte der blonde Kopf seiner Schwester; „Army, komm doch hinunter! Rasch! Mama schickt mich.“ Sie war in’s Zimmer gehuscht; sie schmiegte sich fest an ihn. „Weißt Du, was ich glaube?“ flüsterte sie. „Mama hat einen Tannenbaum angezündet; es glänzt so ein heller Lichtschein durch die Thürspalte.“ Er sah ihr in die dunklen Augen, die jetzt so kindlich froh zu ihm aufblickten. „Schnell!“ bat sie, „Großmama kommt doch nicht mit; sie mag ja keinen deutschen Tannenbaum sehen.“

„Ja, komm’ Nelly!“ sagte er, und seinen Arm um die kleine Schwester schlingend, zog er sie eilig aus dem Zimmer.



13.

Es dämmert bereits, als Lieschen oben in ihrer kleinen Stube ein zierliches Körbchen voll Naschereien packte; immer wieder wurde noch etwas besonders Schönes darauf gelegt, und endlich schloß sie den durchbrochenen Deckel und ein halblautes: „So, nun ist fast nur Marcipan und Chocolade darin – das ißt sie am liebsten,“ kam von den rothen Lippen. Dann fing sie an zu singen, während sie ein pelzgefüttertes Jäckchen anzog, das gestern Abend unter dem Weihnachtsbaume gelegen, und das dazu passende Mützchen aus schwarzem Sammet, mit Marder umrandet, keck auf die braunen Flechten drückte; sie sah prüfend in den Spiegel und fing plötzlich an zu lachen.

„Gerade wie ein Junge! Die Muhme hat Recht,“ sagte sie und schob die zierliche Kopfbedeckung etwas solider in die Mitte der Stirn. „Nun noch den Muff, und dann heißt es eilen, damit ich pünktlich wieder zu Hause bin.“

Sie ergriff Muff und Körbchen und sprang die Treppe hinunter. „Ich gehe zu Nelly,“ rief sie in’s Wohnzimmer, die Thür ein wenig öffnend.

„Komme nur zur rechten Zeit wieder, Liesel,“ ermahnte die Mutter, „sonst wird Onkel Pastor böse und die Kinder werden ungeduldig. Du weißt, um sieben Uhr wird der Christbaum für sie angezündet –“

„Ja, ja, ganz gewiß,“ rief Lieschen, und fort war sie.

Die Muhme schaute ihr nach, als sie über den Mühlensteg schritt. „Du lieber Gott,“ meinte sie dann, „wie wird’s auf dem Schlosse ausschauen? Da wird der Weihnachtsmann auch gerade nicht aus Reichenbach gekommen sein.“ – –

Lieschen saß schon ein Viertelstündchen plaudernd neben Nelly am Kamin; ihr gegenüber lehnte Army im Sessel; er war mit seinen Gedanken beschäftigt, und nur dann und wann lauschte er, wenn eines der Mädchen mit heiterem Auflachen ihn aus seinem Brüten weckte.

„… Und Mutter, die bekam vom Vater eine Pillenschachtel,“ berichtete jetzt Lieschen; „oben darauf stand geschrieben: ‚Die beste Medicin‘, und darin lag Reisegeld nach Italien – Du weißt doch, Nelly, der Doctor hat Mama schon immer gesagt, sie sollte den Winter nicht hier verbringen, aber sie sträubt sich mit aller Gewalt dagegen, jetzt nun hat sie halb und halb nachgegeben –“

„Sie geht doch wohl nicht allein?“ fragte Nelly.

„Nein, jedenfalls geht Papa mit, und –“

„Nun, und?“

„Und ich,“ setzte Lieschen zögernd hinzu.

„Und freust Du Dich denn nicht?“ rief Nelly erregt. „O, nach Italien, wie schön muß es da sein!“

„Nein, ich bliebe lieber hier bei der Muhme; ich bin ja ganz gesund, und schöner wie bei uns kann es dort wohl auch nicht sein.“

„O Lieschen, Du kleiner Unverstand!“ tadelte Nelly.

„Nein, weißt Du, Nelly, Du sollst mich nicht für unverständig halten, aber sieh, ich habe noch einen anderen Grund, Du darfst mich aber nicht verrathen, denn noch habe ich Vater nichts davon gesagt. Sieh, da ist die Bertha von unserem Oberinspector in der Mühle drüben, die ist brustleidend; der Doctor sagt, es kann nur ein Aufenthalt in Vevey oder Montreux sie retten; sie ist viel kränker als die Mutter, und nun möchte ich gern, daß die Bertha an meiner Statt mit ginge; ich bin noch jung, ich komme schon noch einmal hin nach der ‚bella Italia‘, um mit Deiner Großmama zu reden.“

Army stand plötzlich auf und trat an’s Fenster. Das junge Mädchen hatte leise gesprochen, aber es war trotzdem jede Silbe deutlich in sein Ohr gedrungen. Da war sie immer noch, die alte gutherzige Liesel, die ihr Butterbrod den armen Kindern und ihre blanken Kupferdreier, welche die Muhme so sorgfältig sammelte, dem ersten besten Handwerksburschen schenkte; sie schüttelte noch genau so halb trotzig, halb verschämt den Kopf wie damals, wenn sie gescholten wurde. Und dann tauchte ein anderes Bild vor ihm auf, eine kleine feine Gestalt von rothschimmerndem Haar umflossen – die schauderte zurück vor Bettlern, und das „Gesindel“ wurde auf einen Wink ihrer kleinen Hand unbarmherzig von der Schwelle gewiesen; die zog mit dem Ausdrucke des Ekels ihre Robe an sich, wenn auf der Promenade ein Krüppel seine Hand ihr flehend entgegenstreckte. „Gieb ihm nichts, Army!“ hatte sie geboten, „mir ist ganz übel; komm, komm – Tante zahlt ja überschwenglich an die Armencasse.“ Und so war sie vorüber geeilt an fremdem Elend und hatte sich das parfümirte Spitzentuch vor das Gesicht gehalten.

Draußen lag der Park schneehell und ruhig; jeder Baum hob sich deutlich ab von dem klaren Hintergrunde, und dort unten blitzte Licht aus den Fenstern der Mühle. Das alte trauliche Haus, wie gemüthlich trat es vor seine Erinnerung! Wie geborgen mochte es sich dort wohnen in behaglicher, sorgenloser Existenz, ohne Angst vor der Zukunft, vor kommender drückender Noth!

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war –“

klang es innig und weich zu ihm herüber; er wandte sich – da stand sie an dem alten Pianino, die schlanke und doch so leicht aufgebaute Mädchengestalt; der kleine Kopf war etwas vorgeneigt, und Army meinte bei dem schwachen Lichte, das die Lampe bis in diesen Winkel warf, eine zarte Röthe in Lieschen’s Gesicht aufsteigen zu sehen.

„Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr;
als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer –“

Es klang tiefe Bewegung aus Lieschen’s Stimme.

„Noch den letzten Vers!“ bat Nelly, „Mama hört es so gern.“

„Ich kann nicht mehr,“ entgegnete sie leise und wandte sich in’s Zimmer zurück.

„O, wie schade, Lieschen,“ sagte Nelly’s Mutter jetzt, „auch nicht ein Weihnachtslied?“

Sofort trat sie wieder zum Clavier:

„Am Himmel funkelt hehr ein Stern,
Der still zur Erde sieht,
Und heil’ge Engel singen fern
Ein jubelnd Weihnachtslied.

Und um das arme Kripplein strahlt
Ein wunderglänzend Licht;
Ein Kindlein liegt auf harter Streu
Mit göttlichem Gesicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_802.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)