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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Des Kaisers Lector.


Jeden Sonnabend Morgen um sieben Uhr, im Sommer wie im Winter, konnte man einen älteren Mann, der das Aussehen eines Professors oder Hofpredigers hatte, den Weg von Meinhard’s Hotel unter den Linden nach dem königlichen Palais, der Wohnung des Kaisers, nehmen sehen. Eine nicht sehr große Figur, etwas wohlbeleibt, ein bartloses Gesicht mit frischen, freundlichen Zügen und dem unverkennbaren Ausdruck von innerer Güte und Heiterkeit; unter dem Hute langes weißes Haar, eine weiße hohe Binde um den Hals, ein sehr sauberer schwarzer Anzug, sonst keine sichtbare Auszeichnung als etwa ein großer Brillant in der feinen Chemisette, und wenn der Ueberzieher im Vorzimmer der Gemächer abgelegt wurde, das eiserne Kreuz am weißen Bande an der linken Brustseite des schwarzen Frackes – das war die äußere Erscheinung des Lectors des Kaisers, des Geh. Hofraths Schneider.

Im Vorzimmer des Kaisers war noch kein Adjutant; nur der Leibdienst war um den Kaiser, Kammerdiener, Garderobier, Leibjäger, aber keiner von ihnen brauchte dem Ankömmling die Flügelthüren zu öffnen und den Weg zu zeigen. Durch die vorderen Gemächer trat er in das Arbeitsgemach des Kaisers, an dessen einem Balconfenster sich eine seiner fleißigsten Arbeiten befand, ein Kalendarium aus dem Leben des Kaisers mit allen für den betreffenden Tag verzeichneten Daten und Facten von der Jugend des Kaisers an, geschmückt mit einem entsprechenden Sinnspruch für jeden Tag. Hier wartete er, bis der Kaiser eintrat. Der Leibjäger brachte den Kaffee, und während der Kaiser sein Frühstück nahm, hielt Schneider Vortrag. Worüber? Ueber literarische Dinge, über die Ergänzungen der Privatbibliothek des Palais, über Büchereinsendungen, Aufträge an Künstler, hauptsächlich aber über Gegenstände, welche die Armee und deren Geschichte angingen. Schneider würde sich nie erlaubt haben, dem Kaiser mit Sachen zu kommen, die nicht zu seinem Ressort gehörten. „Da würde er mich hoch anschauen!“ war seine eigene Aeußerung über dieses Capitel. Dafür aber durfte Schneider unmittelbare Fragen an den Kaiser bringen über Materien, welche in das literarische Fach einschlugen, und erhielt dann auch unmittelbare Auskunft. So sind durch seine Sorgfalt und Bemühung gar viele offene Fragen, namentlich militärisch-historische, festgestellt worden, die bis dahin ganz ungeklärt waren; vornehmlich aber wird die Nachwelt dem unermüdlich fleißigen Geheimrath die zuverlässigsten Quellen über das Leben des Kaisers zu verdanken haben. Schneider hat in dieser Beziehung wahre literarische Schätze hinterlassen. Lector war mehr ein Titel; sich vorlesen zu lassen, dazu hat ein Mann wie der Kaiser wenig Zeit, und was er lesen will, liest er selbst. Der Lector war eine Art literarischer Rath, auch in Bezug auf Vermittelung zwischen der Person des Monarchen und der Oeffentlichkeit. So gingen zum Beispiel, wenn der Kaiser irgendwo gesprochen hatte, die Reden durch Schneider’s Hand in die Oeffentlichkeit. Der Kaiser dictirte sie seinem Lector in die Feder, aber erst dann, wenn die Rede gehalten war. Bekanntlich schreibt sich der Kaiser niemals auf, was er öffentlich reden will. Er spricht stets unter Eingebung des Augenblicks, aus der Situation, aus dem Herzen heraus. Als vorsichtiger Mann gab der Lector niemals eine derartige oratorische Kundgebung an das Wolff’sche Telegraphenbureau oder den Reichs- und Staatsanzeiger, ohne daß der Kaiser sein W. darunter gesetzt hatte.

In dieser Richtung lag die Wirksamkeit des Lectors. Oftmals wurden für die Oeffentlichkeit Berichtigungen nothwendig; der Geheimrath legte dem Kaiser Journale vor, wenn ihm Artikel darin besonders bemerkenswerth erschienen, aber nur solche, welche die Person des Monarchen, allenfalls auch militärische Einrichtungen betrafen – niemals solche, welche sich auf Politik bezogen. In dieses Gebiet durfte die literarische Hand nicht übergreifen, denn für dieses hat der Kaiser seine Staatsminister. Dagegen durfte Schneider manches Wort der Fürbitte einlegen, wenn es galt, ein schriftstellerisches Verdienst anzuerkennen oder zu belohnen. Mancher Noth wurde vom Kaiser durch seine Vermittelung gewehrt, manche Freude durch kaiserliche Gnade oder Anerkennung in die stillen Arbeitsstuben gebracht. Das Alles wurde beim Frühstück abgethan – der Lector flocht auch wohl hier und da eine heitere Erinnerung aus seiner Vergangenheit und dem künstlerischen Leben Berlins in seinen Vortrag ein, aber wenn die ihm zu Gebote stehende Stunde vorüber war, nahm er seine Mappe wieder unter den Arm und empfahl sich. Während des Tages machte er seine Geschäfte in Berlin ab und kehrte Abends zu einer gewissen Stunde nach Potsdam in den Kreis seiner Familie zurück – es muß gesagt werden, in die glücklichsten häuslichen Verhältnisse, in denen er wie ein Patriarch herrschte.

Der Liebe, die er in seiner Familie genoß, entsprach eine entschiedene Popularität in der öffentlichen Meinung. Das allgemeine Interesse, welches sich an die Person Schneider’s knüpfte, hatte namentlich in der früheren Vergangenheit desselben seinen Grund. Derselbe Mann, der aus dem Cabinete seines Kaisers kam, bei Feierlichkeiten mit Orden um den Hals, mit Sternen auf der Brust erschien, dem die Vornehmsten des Hofes und Staates mit einer Mischung von Respect und Cordialität entgegen kamen – er hatte seine Carrière als singender Knabe in der alten Oper Salieri’s „Azor“ begonnen. Er war ein Theaterkind. Seine Eltern waren an dem Theater des alten Prinzen Heinrich in Rheinsberg engagirt gewesen, und die zuverlässigsten Nachrichten über diesen Hof und das Treiben desselben verdanken wir dem späteren königlichen Hofschauspieler Louis Schneider. Aus den Erzählungen seiner Eltern hat er diesen Hof namentlich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in seinen Theaternovellen geschildert. Neigung und Talent führten ihn wieder zum Theater. Vom Jahre 1820 bis 1848 gehörte er als darstellendes Mitglied im Gebiete der Oper und des Schauspiels dem königliche Theater in Berlin an. Trotz seiner Thätigkeit als ausübender Künstler, später als Regisseur, hatte der junge Mann noch Zeit, fünf Sprachen zu lernen, Romane, Novellen, Artikel, Komödien zu schreiben, Theaterstücke zu übersetzen, Sprachunterricht an einer Kriegsakademie zu geben, Translator beim Gerichte zu sein, ein militärisches Journal, „Der Soldatenfreund“, zu gründen und sich in militärische Dinge derart einzuarbeiten, daß einst Prinz August, der damalige Chef der preußischen Artillerie, über eine der Arbeiten Schneider’s äußerte: „Der Schauspieler Schneider hat einen Artikel über Artillerie geschrieben wie ein Artillerist, und der Artilleriegeneral einen solchen wie ein Schauspieler.“ Außerdem hatte Schneider in dieser Zeit noch Muße gefunden, eine Theaterbibliothek anzulegen, wie sie vollständiger vielleicht nicht wieder existirt. Sie ist gegenwärtig im Besitze der königliche Bibliothek zu Berlin.

An diese Zeit seiner jugendlichen Sturm- und Drangperiode auf der Bühne hat sich Schneider noch bis zu seinem Lebensende gern erinnert. Im Jahre 1848 hatte er der Bühne den Rücken gewandt; die Thätigkeit derselben füllte sein von Jugendkraft strotzendes Leben nicht aus, und dann hatten ihm manche Erfahrungen den Verkehr mit dem Publicum verleidet. Er war Royalist bis auf die Knochen – und ist es geblieben bis zum letzten Athemzuge. Das hatte er in jenem Sturmjahre oft in demonstrativer Weise bethätigt, und auch die Gegner seiner Ueberzeugung werden nicht bestreiten, daß er es mit Mannesmuth gethan. Das Publicum aber war mit ihm über diese neue Rolle nicht einverstanden, zog vor sein Haus und gab ihm seinen Widerspruch durch Steine und klirrende Fensterscheiben, auch durch Katzenmusik zu erkennen. Das war die letzte Berührung zwischen den Beiden. „Nun, dann nicht mehr!“ dachte Schneider. Von da ab betrat er die Bühne nicht wieder, besuchte aber auch ebenso wenig das Theater, nur zweimal vielleicht in diesen dreißig Jahren abgerechnet. Das letzte Mal sah er das „Wintermärchen“, von den Meiningern dargestellt, und davon war er entzückt.

„Sie wissen,“ äußerte er, „ich halte nicht viel von der Gegenwart weder in der Politik noch im Theater. Es wurde zu allen Zeiten gut und schlecht gespielt – und um halb zehn Uhr ist der Vorhang ’runter. Heute aber – das muß ich gestehen – habe ich etwas gesehen, das mir im höchsten Grade imponirt hat. Hier ist der Weg gegeben, auf dem das deutsche Schauspiel einer weiteren Entwickelung fähig ist.“

Schneider war mit Leib und Seele seinem früheren Berufe ergeben gewesen; sonst würde er nicht eine Wirkung auf das Publicum ausgeübt haben, welche, aus dem Augenblicke geboren,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_028.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)