Seite:Die Gartenlaube (1879) 068.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


fein, die Stirn mächtig, die Nase edel, der Mund reich und fest, aber in manchen Augenblicken verschwand dies Alles vor der Gewalt seiner Augen. Wenn er einem Redenden zuhörte – und er verstand es, zuzuhören – dann war es, als ob er nicht mit dem Ohre, sondern mit dem Auge hörte. Manche seiner Befehle gab er nicht mit Worten, nur durch einen Blick und eine Handbewegung.

Pater Gregor war in seinem fünfunddreißigsten Jahre in den Orden getreten und stand jetzt im fünfzigsten; die gebeugte Haltung seines Kopfes und sein ergrauender Bart ließen ihn älter erscheinen, als er war. Er predigte nicht gern und nicht oft; dagegen war er ein eifriger Beichtehörer und Besucher der Kranken. Wenn wir um Mitternacht zum Gebete in der Capelle zusammentrafen, war Pater Gregor der Einzige, auf dessen Zügen die Spur des Schlafe nicht lag, und kam er von einem mühseligen Gang im Gebirge zurück, so war sein Schritt so fest und würdevoll wie immer. Manche Tage las er viel, zuweilen blickte er mit unbeschreiblichem Ausdruck zu den Bergen hinüber, wo die Spitzen und Grate schwarz oder dunkelroth aus dem Schnee ragten. Pater Gregor hatte eine Vergangenheit, aber Keiner erfuhr sie je – er hatte sie in seiner Seele begraben. Es muß entsetzlich sein, wenn die Todten aufstehen. Ich glaube, in Pater Gregor’s Seele standen sie manchmal auf und versuchten seine Stärke, denn er hatte Tage, wo er den Kopf noch tiefer als gewöhnlich trug, und wenn er dann die Augen langsam aufschlug, so war es, als ob sie sagten: Es ist begraben. –

Ich litt seit einigen Monaten an einem seltsamen Heimweh, am Heimweh nach dem Unbekannten. Ich hatte nichts von der Welt gesehen; die Gleichgültigkeit, mit der ich stets zugehört hatte, wenn Einer oder der Andere der Patres von weltlichen Verhältnissen sprach, hatte mich an dem Tage verlassen, an welchem ich dem Pater Gregor zum ersten Male gegenüber gestanden. Da schlug ein Gewitter in meine Seele. O, hinter jenen Bergen, die ich niemals überschritten, lag gewiß in süßem Dufte ein Paradies voller Wohlgerüche, voll Farben und Musik. Pater Gregor war darin gewesen – ich fühlte es. Das Schweigen, welches auf ihm lag, verbarg, was er geschaut und gehört hatte, allein es verbarg nicht, daß er geschaut und gehört hatte.

Wie war ich arm in meiner Unerfahrenheit! Und wenn der Himmel vielleicht nicht so war, wie meine fromme Seele ihn noch glaubte, wenn im Vertrauen auf ein anderes, besseres Leben ich dieses versäumte! Wenn die Welt vielleicht nicht so schlimm war, wie man mir gesagt! – Ich hatte im Beichtstuhle stets so unschuldige Sünden bekennen und sie so aufrichtig bereuen gehört. Die Menschen waren außer dem Kloster gewiß nicht schlimmer, als die Menschen im Kloster. Wenn ich meine Lebenskraft und mein Leben an einen Wahn vergeudet hätte! O – wenn ich einmal zu dieser Erkenntniß käme – ich müßte wahnsinnig werden!

Diese Gedanken arbeiteten in mir wie die Wasser in den Felsenschichten, wenn sie dieselben lockerten. Eine heimliche Verzweiflung schüttelte mir manchmal das Herz, und die düstere Umgebung des Klosters goß alle ihre Traurigkeit in meine Seele. Die Kapuziner haben keine Orgel und keinen Gesang; nie hörte ich andere Musik, als das Heulen des Südwindes; wenn er aus der Schlucht hervor raste, und der ärmliche Ton unseres Glöckleins läutete mir nur Schwermuth in’s Herz.

Pater Gregor bemerkte, daß etwas in mir vorging: er zeigte mir zwar keine besondere Theilnahme, aber sein Auge ruhte oft mit erkenntnißvollem Blicke auf mir. Wenn er mir einen Auftrag gab, so schien mir seine tiefe Stimme weicher zu klingen als wenn er zu den Anderen sprach, und eines Tages sagte er zu mir:

„Pater Josias, ich meine, Ihr sitzet zu viel und brütet über den Büchern! Ich will Euch eine andere Beschäftigung geben: helfet dem Bruder Anton bei der Gartenarbeit!“

Darauf reichte er mir die Hand und drückte sie und dieser Druck sagte: Ich verstehe Dich.

Pater Anton war der glücklichste aller Kapuziner; er liebte die Blumen, wie ein Vater seiner Kinder liebt, und sein Leben verfloß in Gebet und Blumenduft. Er hatte ein fünf Fuß hohes, freistehendes Rosenspalier gezogen, welches durch die ganze Länge des Gartens lief, und wenn in manchen Stunden durch den Einfluß der Atmosphäre diese Rosen ganz besonders stark dufteten, dann sagte er: „Die Rosen beten!“

Es ergriff mich, aber ich glaubte ihm nicht. Der Rosenduft drang ganz anders in meine Sinne. Es war kein Gebet, es war ein stiller Rausch. Pater Anton war nicht mit mir zufrieden.

„Er hat heftige Hände und thut den Blumen weh,“ sagte er zum Pater Gregor.

Da rief mich dieser zu sich. Er hatte mich am Vormittag vor der Maria, welche über’s Wasser geht, stehen gefunden und seine Hand leise auf meine Schulter legend gesagt:

„Pater Josias, studiret Ihr die Malerei?“

Ich hatte nichts darauf geantwortet, sondern war gesenkten Blickes in’s Oratorium, wie wir die Capelle nannten, gegangen, wo ich das Vorgebet zu sprechen hatten. Aber meine Augen trübten sich; die Buchstaben im Brevier wurden wie Feuer, Feuer schoß auch in meinen Kopf; meine Hände wurden eiskalt und schwach, und meine Stimme erlosch.

„Pater Josias, Ihr fühlet Euch unwohl; geht in Eure Zelle hinauf!“ sagte Pater Gregor.

Taumelnd erstieg ich die Treppe, und in meiner Zelle warf ich mich mit dem Angesicht auf den Boden.

„Weh!“ schrie es in mir, „ich bin verloren. In wessen Gewalt bin ich? Engel, an die ich nicht mehr glaube, kommt mir zu Hülfe! Maria, die über’s Wasser geht, nimm mich an der Hand, damit ich nicht ertrinke! Schlage Deine Augen auf und zerschmettere mich mit einem Blick voll himmlischen Zornes! Und von Deinen Lippen nimm die Süßigkeit hinweg, die mich vergiftet!“

Ein Krampf in der Brust verschlang das Uebermaß meines Seelenleidens; ich erhob mich und riß das Fenster auf. Die Berge waren von einem blaßgoldenen Dufte überhaucht, ihre Schrecknisse gemildert, ihre herben Formen verschleiert. Das that mir wohl. Das Herz wurde mir weich, und ich konnte weinen. O Thränen, wohlthätige Löserinnen der Qual!

Als ich am Nachmittage in Pater Gregor’s Zelle trat, stand er sinnend am Fenster. Ich fühlte, daß die Stunde gekommen war, in der ich sprechen mußte, und es war mir recht.

„Ihr leidet, Pater Josias?“ fragte er mit theilnehmendem Tone.

„Ja, ich leide.“

„Woran leidet Ihr?“

„An einem Weh, das keinen Namen hat.“

Pater Gregor griff gesenkten Blickes in seinen langen Bart.

„Es ist kein körperliches Weh, nicht wahr?“ fragte er.

„Nein, Pater Gregor. Ich bin krank im Gemüth.“

„Seit wann?“

„Verzeihet die Kühnheit, mit der ich Euch jetzt antworten werde. Ich bin krank, seit ich Euch sah.“

Pater Gregor blieb eine Weile stumm, dann sagte er:

„Erkläret mir das!“

„Ihr habt den Menschen im Mönch erweckt.“

„Ich erinnere mich nicht, jemals mehr mit Euch gesprochen zu haben, als mit den andern Patres.“

„Ihr thatet es nicht – es ist wahr, aber Ihr seid mächtig, auch wenn Ihr schweiget. Es ist etwas ganz Besonderes über Euch ausgegossen, etwas, was sonst die Mönche nicht haben – Pater Gregor, ich fühle, daß Ihr das Leben draußen in der Welt mit allen Euren Kräften genossen habt – und das hat mich zum Nachdenken geführt und hat mir Zweifel an meinem Beruf zum Klosterleben und eine brennende Sehnsucht nach jenen irdischen Paradiesen in’s Herz gepflanzt, die mir für immer verschlossen sind.“

„Die irdischen Paradiese!“ wiederholte er sanft. „Pater Josias, kannst Du mir sagen, was Du Dir unter einem Paradiese vorstellst?“

„Das Gegentheil vom Kloster.“

„Du bist ein aufrichtiger Kapuziner, Pater Josias. Also, eines Deiner Paradiese wäre zum Beispiel: Die Freiheit der Bewegung?“

„Ja!“

„Ein anderes: Die Geltung Deiner Person?“

„Ja!“

„Noch ein anderes: Die geistige Freiheit?“

„Ja!“

„Dann: Der Verkehr mit den Menschen, die Vergnügungen, die Reisen, das Gewühl, die feinen Sitten, die Künste, die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_068.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)