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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Tizian’schen Zeitalters scheint ausgegangen. Freilich weilen die vornehmen Venetianer mit ihren Familien jetzt auf ihren Landsitzen; sie kehren erst kurz vor dem Carneval heim. So sind wir denn auf die Musterung des zarten Geschlechts aus den mittleren und niederen Ständen beschränkt, und da entdecken wir häufig nicht blos geschminkte Stirnen und Wangen, sondern den bösen Puder bis über die Ohren aufgelegt. Die Kleidung zeigt mehr Nachlässigkeit als Sorgfalt; elegante Erscheinungen sind sicherlich Fremde. Stattlicher, auch straffer treten die Männer auf; den schlanken, mäßig großen Figuren ist in der Ruhe wie in der Bewegung eine unbewußte Grazie eigen, welche sie zu trefflichen Modellen für Maler macht.

Groß ist die Zahl der Besitzlosen und Armen in Venedig, allein der Mangel tödtet nicht den musikalischen Sinn der „misérables“. Auf den Stufen der Kirche und der drei kolossalen Flaggenstangen davor, die ehedem mit den Bannern der unterworfenen Königreiche Candia, Cypern und Morea geschmückt waren, kauern Männer und Weiber in Lumpen, still den Klängen der Concertstücke lauschend, die Köpfe nach dem Tacte wiegend, und im Schooße der Mütter schlummern halbnackte Kinder, von den Tönen eingelullt. Ob der Mond, der über die Piazzetta fällt, den Kleinen Träume von einem bessern Lebensloose, als ihre Eltern gezogen, in’s Herz küßt?

Doch welche Bewegung der Menge plötzlich gegen die Riva? Folgen wir dem Strome! Schwarzblauer Schimmer, den kein Pinsel treu darzustellen vermag, fließt über das lautlose Wasser. In ihm schwimmen schwarze Schwäne mit glühenden Augen und ziehen, wenn sie den Mondenstrahl streifen, lange blitzende Furchen hinter sich her. In Wahrheit sind es nur Nachtgondeln, aber die gehobene Stimmung des Menschengemüths verwandelt die Bilder der Gegenstände. Und von links her, wo die Laternenkette des Ufers goldene Pfeiler in die feuchte Tiefe wirft, wie wenn das Schloß des Meerkönigs sich dort in vollem Glanze aufthäte, nähert sich das Zauberschiff aus „Tausend und eine Nacht“, unsichtbare Sänger unter farbigen Lampen bergend. Weiße Gestalten heben sich schwankend vom dunkeln Grunde ab; das sind in schneeigen Matrosencostümen die Ruderer, die einen Männerchor zur Serenade in den Großen Canal führen. Magisch wirken die Stimmen; aller Reiz des Geheimnißvollen umfängt uns, und vernehmen wir von dem Liede gleich nur die öfter im Forte wiederkehrenden Worte deutlich: „O Venezia“ und „cosi bella“, so setzen wir sie doch, unwillkürlich nachlallend, in der Muttersprache zusammen: „O Venezia, so schön!“ Das Schiff schwebt weiter; bengalische Flammen spielen an seinem Bord, doch schöner spielt das Mondlicht mit den Rudern, die im Niedertauchen gediegenem Silber gleichen. Stiller und leerer wird’s am Ufer, die rothen Wachtlichter des großen Ostindienfahrers im Hafen funkeln wie Sterne erster Größe; sie zeigen uns die Richtung nach unserem Asyl. Halb träumend verfolgen wir sie, ohne zu sprechen; erst an der Thür, als wir den Blick noch einmal wenden, entringt sich dem Munde ein Wort. Es ist dasselbe, mit dem wir aus dem Bahnhofe an den Canal getreten; nur zittert es nicht mehr als beklommene Frage, sondern jubelt entzückt:

Das ist Venedig!“ –

Herrlich werden wir schlafen, in Hoffnung frohen Erwachens. Aber gefehlt! Wir haben vergessen, daß es hier liebe kleine geflügelte Geschöpfe giebt, die sich Zanzare oder Moskitos nennen und einen Instinct für Ausländer besitzen, gleich den Lastträgern und Bettlern. Sie lassen sich surrend und summend auf unsere Leiber nieder, daß wir uns in den breiten Betten winden wie der heilige Laurentius weiland auf seinem Rost. Unser einziger Trost ist die Erinnerung an Shakespeare’s Worte im „Macbeth“: „So lang ist keine Nacht, daß endlich nicht der helle Morgen lacht.“

Und wirklich, er lacht hell. Die aufgehende Sonne bestrahlt den rothen und weißen Marmor von San Giorgio Maggiore, daß wir einen Riesen-Flamingo schwimmen zu sehen glauben. Blicken wir dorthin, nicht in den Spiegel, wo wir vor uns selbst erschrecken; denn die Nachtmücken haben uns zugerichtet wie Masern einen Kindskopf. Beim Frühstück erklärt uns der bewanderte Kellner: „Die Deutschen werden gegessen am meisten von die Moskitos.“

Wir brechen auf, um von den 137 größeren Kirchen der Stadt die bedeutendsten in Augenschein zu nehmen. Was sie an Pracht und Reichthum aufweisen, das spottet jeder Beschreibung, namentlich aber, wo es sich um die von venetianischen Adligen gestifteten Capellen der Barfüßerkirche handelt. Armer Orden der Barfüßer, du bewährst wie kein anderer die Wahrheit des Sprüchwortes: „Wer gut zu betteln versteht, kommt gut durch die Welt.“

Vier heilige Stätten haben wir betreten, und nun erwacht der Weltsinn wieder in uns; wir steuern einem der namhaftesten Paläste zu. Der Wasserweg führt unter der Rialtobrücke hindurch, die uns Tags zuvor so wenig imponirt. Jetzt ist die Gelegenheit zu günstig, als daß wir uns nicht näher mit ihr bekannt machen sollten. Also ausgestiegen und hinauf! Ein Menschengewühl empfängt und umdrängt uns, ähnlich jenem, das Vater Jacob im Traum auf der Himmelsleiter von Engeln geschaut. Zu beiden Seiten der marmornen Brückenstufen Laden an Laden, vollgepfropft mit Trödelwaaren aller Art, zwischen denen die Verkäufer kaum Platz zum Hantiren habend. Vor Jahrhunderten hausten in diesen Läden ausschließlich Goldschmiede und Wechsler. Aber woher kommen die zahllosen Marktkörbe, deren unsanfte Berührung uns keinen festen Standpunkt gewinnen läßt? Vom nahen Fischmarkt und vom Gemüsemarkt, wo die Hausfrauen und Köchinnen ihre Tagesbedürfnisse erstanden. Der Geruchssinn ist unser Wegweiser zu den Märkten; das Treiben dort müssen wir sehen. Und wahrlich, es verlohnt sich der Mühe; denn waten wir gleich auf dem Fischmarkt durch Lachen und Pfützen, so leiden dadurch höchstens die Stiefeln; das Auge wird ergötzt durch den unfreiwilligem Congreß sämmtlicher Arten von Seegethier, die der List des Fischers erlegen und theils noch lebend, wie der Taschenkrebs und die Seespinne, in großen Kübeln krabbeln, theils zerstückelt liegen wie der riesige Tonno (Thunfisch), theils schon gekocht oder gebraten der Vertilgung warten wie der Tinten- und der Stockfisch. Es herrscht kein Mangel an Leuten, die ihre Mahlzeit hier im Freien halten, und der Gemüsemarkt liefert ihnen gekochte Bohnen, Zwiebeln, Kartoffeln, Birnen, geröstete Kastanien, rohes Obst für wenige Kupfermünzen in Fülle dazu. Gefeilscht um die Eßwaaren wird nicht: denn jeder Fruchtkorb trägt auf Stäbchen Zettel, die den Preis des Kohls, Granatapfels, der Weintraube, Apfelsine etc. anzeigen. So geht der Handel rasch von Statten. Daß uns bloße Neugier über die Märkte führen kann, stellen die Insassen sich nicht vor; denn stehen wir nur einen Moment still, so preisen uns halbwüchsige Burschen mit einer Zungengeschwindigkeit, welche die Sprache rädert, den wunderbaren Wohlgeschmack jedes Gewächses der hesperischen Flur, während die lieben Eltern der redseligen Kobolde das Koch- und Bratgeschäft auf Rosten und Handöfen besorgen.

So interessant das Geschwirr und Gewimmel ist, wir sind doch froh, wenn wir die stille Gondel wieder erreicht haben, um jenseits im Canal anzulegen und venetianische Palastgeheimnisse zu ergründen. Sie thun sich dem Eindringling auf wie alte, werthvolle Handschriften voll köstlichem Gehalt, die ein abgegriffener, modriger Einband umgiebt.

Wir steigen vor einem der glorreichsten Canalpaläste aus, der seine geschwärzte Physiognomie dem Einfluß der Meeresluft verdankt, wie alle seine marmornen Geschwister. Beim Eintritt in den quadratförmigen Vorhof schon ahnen wir an den Bildhauerwerken alter und neuer Meister, daß diese venetianischen Paläste noch heute „königliche Hallen“ bergen. Freilich gelangt man zu diesen erst im zweiten Stockwerk; das untere enthält nur niedrige und meist kleine Zimmer, die sich in langer gerader Linie, durch Portièren geschieden, an einander reihen, sodaß man aus dem ersten bis in’s letzte blickt. Aber mit welcher behaglichen Eleganz und mit welchem Geschmack sind diese Familiengemächer ausgestattet! Derselbe schwerseidene Stoff, der die Polster der Möbel überzieht, bekleidet als Tapete die Wände, und in jedem Zimmer andere Stoffe von anderer Farbe, mit der die Zierrathen, die aus Kunstschätzen vergangener Jahrhunderte bis in’s Alterthum bestehen, malerisch harmoniren. Ist es hier überall ungemein traulich, so giebt die Wanderung in die hohen Festsäle und Gemäldegallerien des oberen Geschosses einen Begriff von der Ueppigkeit bei Gelagen, von dem selbstbewußten Stolz, den der Hausherr auf sein Besitzthum haben durfte.

Die heutigen Besitzer der Paläste sind mit der Republik auch um den alten Patriziersinn gekommen; mit Fürsten- und Herzogstiteln behängt, lassen sie das ehrwürdige Erbe ihrer Vorfahren, in denen sich Handels- und Kriegergeist vereinte, meist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_086.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)