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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Ich trat zu einem der Verwundeten und kniete an seinem Bette nieder – da ertönte in der Nebenstube ein Schrei des Schreckens, ein so schauervoller Schrei, daß er mir wie ein Messer durch’s Gebein fuhr. Die Thür wurde aufgerissen, und Maria rief:

„Pater, Pater! O kommt!“

Und als ich gekommen war, da sah ich einen Mann mit dem Ausdrucke höchsten Entsetzens aufrecht im Bette sitzen, sich auf seine Fäuste stützend. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten Pater Gregor an, und den bleichen, zuckenden Lippen entrangen sich die Worte:

„Entsetzliches Gespenst, verschwinde! Warum kamst Du aus dem Grabe? – Jetzt, in dieser Stunde?“

Pater Gregor stand ruhig wie ein Fels und heftete seine Augen auf das Gesicht des zitternden Mannes, bis dieser wie unter einem Zauber zusammenbrach und auf die Kissen zurücksank. Dann wandte er sich zu mir:

„Pater Josias,“ sagte er, „empfanget statt meiner die Beichte dieses Mannes!“ Und mit einem stummen Gruße zu Maria verließ er die Stube. Mich überlief es kalt.

Ich stand noch wie gebannt, als Maria meine Hand erfaßte und flüsterte: „Pater, was war das? O, bleibet bei meinem Vater – und bei mir! Ich fürchte mich.“ Und ihre Hände drückten bittend meine Hand, und ihr Blick sank bittend in den meinen. Er sank noch tiefer – er sank mir in das Herz.

„Seid ruhig, Fräulein! Ich bleibe hier,“ erwiderte ich, löste sanft meine Hand aus der ihren und trat zu ihrem Vater. Da seine Augen geschlossen waren, so fragte ich. „Könnt Ihr mir antworten?“

Er öffnete die Augen und blickte mich mit Schrecken an: „Ist der Andere fort?“ flüsterte er.

„Ja, Eure Tochter und ich sind hier; Niemand sonst.“

„War der Andere ein Gespenst?“

„Nein, ein Mensch und ein Kapuziner, wie ich.“

„Ein Kapuziner!“ Dumpf war der Ton, mit dem er diese Worte sprach.

„Wenn Ihr stark genug seid, noch mehr zu sprechen, so bin ich bereit, Euch jetzt die Beichte abzunehmen. Oder wollt Ihr bis morgen warten?“

„Nein,“ sagte er, „ich könnte sterben.“

Maria stand schluchzend am Fußende des Bettes und bedeckte ihr Gesicht mit den schmalen, feinen Händen.

„Maria,“ sagte der Kranke, „entferne Dich jetzt! Ich will mich zum Tode vorbereiten.“

„O Vater, stirb nicht!“ rief sie und entfernte sich händeringend in eine neben der Stube liegende Kammer.

Das Gewitter ließ nach; sanfte verhallende Donner zogen mit den Wolken in’s Weite. Ich stellte die brennende Lampe seitwärts, setzte mich an das Bett und sprach ein Gebet; dann bedeckte ich mein Gesicht mit einem Tuche und sagte:

„Wessen klaget Ihr Euch an?“

Was der Mann in jener Stunde mir bekannte, bleibt ein Geheimniß zwischen Gott, ihm und mir. –

Nachdem ich ihm die Absolution und die Oelung ertheilt, wurde er ruhiger und schlief ein. Ich stand auf und klopfte sanft an der Kammerthür. Maria trat mit roth geweinten Augen herein und blickte nach ihrem Vater hin.

„Er schläft,“ sagte ich leise. Wenn es Euch recht ist, bleibe ich hier und wache bei ihm; so könnt Ihr Euch niederlegen und ruhen.“

„Pater, wie ist Euer Name? Verzeiht!“

„Josias.“

„O, Pater Josias, bleibet hier und laßt mich mit Euch wachen!“

Ich rückte mir einen Stuhl an das Kopfende des Bettes. Maria setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in ihre Hand. Die natürlichste Richtung meiner Augen war die zu ihr hinüber. Es fiel ein Strahl der Lampe auf ihr goldbraunes Haar und auf ihr sanftes Profil; die schwarzen, zauberhaften, flammenden Augen verbargen ihre Gluth hinter den müden Lidern. Ich saß zwischen der Sünde und der Unschuld und draußen wandelte einsam in der Nacht Pater Gregor und erklomm den Felsen, von dem er der Welt seine Verachtung zugeschleudert hatte. Was ging jetzt wohl in seiner Seele vor? –

Maria erhob das Haupt und sagte:

„Pater Josias, warum ist mein Vater so erschrocken vor dem anderen Pater?“

„Euer Vater hat es mir nicht gesagt; allein ich vermuthe, daß ihn die Blässe und die großen dunklen Augen des Pater Gregor erschreckt haben.“

„Aber,“ entgegnete sie, „Ihr seid auch blaß und habt auch große dunkle Augen, und mein Vater ist nicht vor Euch erschrocken!“

„Vielleicht,“ stammelte ich, „weil ich noch jung bin.“

Auf diese einfältige Antwort sah sie mich mitleidig an, und ihre Augen ertödteten in mir die Gebete, welche ich für den Kranken hätte verrichten sollen.

„Seid Ihr schon lange Kapuziner, Pater Josias?“ fragte sie.

„Seit acht Jahren.“

„Acht Jahre! – Ich hatte auch schon den Wunsch, in ein Kloster zu gehen, aber meine Mutter, welche todt ist, sagte, man sei im Kloster nicht glücklich. – Seid Ihr glücklich, Pater Josias?“

O Marter! Was sollte ich ihr antworten? „Verzeiht,“ sagte ich, mich erhebend, „ich will einen Augenblick nach den anderen Verwundeten sehen.“

Sie hatten Schmerzen und fieberten; während ich bei ihnen blieb, ging der Arzt in die Nebenstube, wo Maria’s Vater lag. Maria war sehr jung, und ich hoffte, sie habe den Grund meiner Entfernung nicht errathen. Als der Arzt zurück kam, sagte er: „Ich habe Hoffnung, daß jener Herr zu retten ist.“

Der Morgen graute, ich ging in die Stube zurück und setzte mich wieder an’s Bett; Maria war eingeschlafen; ihr Kopf lag auf dem Arme. Was in meinem Herzen vorging , als ich neben ihr saß, das kann Keiner, der nicht Mönch war, errathen noch empfinden. Ich vermöchte auch nicht, es auszudrücken, aber es war süß, heilig und entsetzlich.

Zuweilen erwachte der Kranke, und ich gab ihm dann zu trinken; einmal erwachte auch Maria, und da sie mich gewahrte, erröthete sie. Langsam zum Bette tretend, beugte sie sich über ihren Vater:

„Glaubt Ihr, Pater Josias, daß mein Vater sterben muß?“

„Es ist möglich, daß er stirbt, aber es ist wahrscheinlich, daß er nicht stirbt.“

„Wenn man Gott recht inbrünstig um die Erhaltung eines Lebens bittet, wird die Bitte erhört?“

Maria, was für Dinge fragtest Du mich! Ich senkte den Blick und erwiderte:

„Wenn es zu unserm Besten ist.“

„Aber, Pater Josias, der Tod meines Vaters wäre ja ein Unglück für mich. Wie könnte er zu meinem Besten sein?!“

„Wir wissen das nicht. Gott ist weiser, als wir sind.“

Sie blickte eine Weile vor sich nieder.

„Nicht wahr, ich bin nicht fromm?“ sagte sie dann und sah mich schüchtern an. „Wenn mein Vater ein wenig besser ist, so möchte ich Euch wohl auch beichten.“

Mir wurde schwül in der Seele und in den Sinnen.

„Möchtet Ihr Euch jetzt nicht zur Ruhe legen?“ fragte ich, und ich erschrak über den harten Ton meiner Stimme.

Maria erschrak auch; sie faltete die Hände und flüsterte:

„O, seid nicht ungehalten auf mich, Pater Josias! Ich habe noch zu keinem Geistlichen ein so – ein so wunderbares Vertrauen gehabt wie zu Euch. Zürnt mir nicht, weil ich so viel zu Euch spreche; es würde mich sicher unglücklich machen! Ich habe ja nicht gewußt, daß man mit den Kapuzinern nicht sprechen darf.“

„Man darf mit uns sprechen,“ entgegnete ich leise, meine zitternden Hände in den Aermeln meiner Kutte verbergend.

„Ich gehe jetzt. Wenn mein Vater nach mir fragt, so klopfet mir, Pater Josias!“

Darauf ging sie in die Kammer und schloß geräuschlos die Thür.

„Mönch, Du bist selig und unselig,“ rief es in mir. „Diese Maria ist noch mächtiger, als die andere. Wenn sie fort geht, was wirst Du dann thun? Wirst Du die Hände zum Gebete falten oder wirst Du Dir die Brust mit Fäusten zerschlagen? O Pater Gregor, wenn Du wüßtest, was mir geschah! Soll ich zu ihm gehen und ihn bitten: Schicket einen Anderen hinunter, es ist eine Maria dort, an der ich vergehen muß? Oder soll ich bleiben, bleiben und die süße Marter austrinken bis zum letzten Tropfen?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_088.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)