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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

er wirft es weg und krümmt sich zusammen, um einzuschlafen, denn er kommt vor Schlafsucht fast um. Kaum aber hat er die Augen geschlossen, so wacht er ungestüm auf, als wenn ein Mensch im heftigen Aerger ihn geschüttelt hätte; er fühlt die Hitze steigen; die innere Unruhe vermehrt sich. Nach langem Kampfe schläft er endlich ein; den Schlaf bevölkern die schwärzesten verworrensten Träume. Ueber einem von ihm selbst ausgestoßenen furchtbaren Geheul erwacht er und strengt sich an, gänzlich wieder zu sich zu kommen und die Augen zu öffnen; denn das Licht des Tages ist ihm nicht weniger lästig als der Glanz der Kerze. Er erkennt sein Bett, sein Zimmer, begreift, daß Alles ein Traum gewesen, nur eins nicht – ein heftiger Schmerz an der linken Seite. Zugleich empfindet er im Herzen einen beschleunigten ängstlichen Schlag, in den Ohren ein summendes Geräusch, ein inneres Feuer, eine Schwere in allen Gliedern, schlimmer als da er zu Bett gegangen. Er zaudert einige Secunden, ehe er nach der schmerzenden Stelle sieht; endlich entdeckt er sie deutlicher, betastet sie mit den Fingern, blickt hin und schaudert – er wird eine Beule von mißfarbigem Violet gewahr. Er sieht sich verloren.

Nicht immer kam es zum Wiedererwachen, zu einer Erkenntniß des eigenen Zustandes. In den schwersten Pestfällen ging der rauschartige Zustand in den einer tiefen Bewußtlosigkeit über; in 24 bis 48 Stunden erfolgte der Tod, ohne daß es zu einer Ausbildung der äußerlichen Drüsengeschwülste, der Achsel- und Leistenbeulen, gekommen wäre. Innerlich allerdings waren starke Anschwellungen der Lymphdrüsen am Darm und an der Lungenwurzel fast ausnahmslos erfolgt; sie gingen den äußerlichen Auftreibungen voran und wurden bei den Sectionen kaum je vermißt. In den Erscheinungen der Blutzersetzung und der Vergiftung des Lymphsystems gesellten sich die einer gänzlichen Unterdrückung aller Absonderungen und eine Reihe sichtlicher Veränderungen an der Haut. Nicht nur daß dieselbe über den Drüsenbeulen auffällig verfärbt erschien – Blutgeschwüre größten Umfangs, harte ausgedehnte Carbunkel wie beim Milzbrand, Flecke, denen beim ansteckenden Typhus ähnlich, dunkle Blutaustritte, schwärzliche Streifen und Punkte bildeten sich an den verschiedensten Körperstellen.

Doch bezieht sich die Benennung Beulenpest in erster Reihe auf die Lymphdrüsengeschwülste, und der Name des „schwarzen Todes“ leitet sich nicht von den Hautverfärbungen, sondern von jener übertragenen Bedeutung her, in welcher das „Schwarz“ schon bei den Alten das dunkle, unvermeidliche, grauenvolle Fatum bezeichnete. Denn die Epidemien des „schwarzen Todes“, die Erscheinungen der indischen Pest, wie sie seit den ersten Jahrzehnten dieses Säculums an den südlichen Abhängen des Himalayagebirges ohne jemals ganz nachzulassen herrscht, gehören ihres furchtbar schnellen Verlaufes wegen zu den gefährlichsten Pestformen. Zu den Symptomen der Hitze, des verschwindenden Pulses, der Unterdrückung aller Absonderungen, der Hinfälligkeit, des Kopfschmerzes, des rauschähnlichen Zustandes und der Herzbeklemmung gesellen sich Athemnoth, Bluthusten und die Zeichen totaler Lungenentzündung, denen die Befallenen schnell erliegen.

Die etwas milderen Formen deuten sich dadurch an, daß die Ausscheidungen des Körpers nicht ganz unterdrückt sind, und daß mit Beginn des dritten Tages eine theilweise Rückkehr der Besinnung erfolgt. Nach seinen Klagen gefragt, deutet der Patient auf Kopf und Herzgrube, läßt aber dann, wie nach ungeheurer Anstrengung und zum Tode matt, die Hand wieder sinken und ist selten im Stande, sich in zusammenhängenden Lauten auszudrücken. Nun zeigt sich auch die Anschwellung der Drüsenbeulen sehr energisch, sodaß dieselben oft einen beträchtlichen Umfang erreichen. Die günstige Bedeutung, welche diesem Vorgange beigelegt wurde, ist jedoch keine unbedingte, die anscheinende Besserung oft trügerisch; noch bis zum fünften und sechsten Tage kann der Kranke schnell wieder bewußtlos werden, in wenigen Minuten gänzlich verfallen, sich bis zur Unkenntlichkeit verändern und sterben. Gelangt er jedoch unter unregelmäßigen Fieberanfällen, zwischen Halbschlaf und dämmerndem Bewußtsein schwankend, über den siebenten Tag hinaus, so stellen sich die Körperabsonderungen, besonders auch starker Schweiß, stellt sich klares Bewußtsein, natürlicher Schlaf, Appetit und Lebenslust wieder ein. Die größte Gefahr droht dann noch von einer Eiterung und Verjauchung der inneren Lymphdrüsengeschwülste, während die äußeren unter geeigneter Behandlung schnell der Heilung entgegen gehen.

„Wie konnten,“ so fragt der Laie und der Arzt angesichts der gegenwärtig in den südöstlichen Provinzen Rußlands herrschenden Pest, „wie konnten so auffällige Zeichen mißdeutet werden? Wie war es möglich, daß die Berichte eines russischen Stabsarztes, noch nach Hunderten von Todesfällen, von Flecktyphus und schnell tödlichen Lungenentzündungen zu erzählen wußten?“ Gestehen wir es zunächst ein, daß die Kenntnisse in der geographisch-historischen Pathologie, der Wissenschaft, welche sich mit den erloschenen oder erloschen geglaubten und mit denjenigen Krankheiten beschäftigt, welche in außereuropäischen Ländern, in einzelnen klimatischen und geographischen Bezirken herrschen, ganz allgemein eine beklagenswerth geringe ist. Die heute vorherrschende sinnlich-praktische Ausbildung in der Medicin gönnt derartigen für theoretisch verschrieenen Studien keinen Raum. Demnächst sei erwähnt, daß die Pest von manchen Forschern wegen der Symptome der Blutvergiftung, der Betheiligung des Gehirns und der des Haut- und Lymphgefäßsystems den typhösen Krankheiten im weiteren Sinne angereiht worden ist, und daß ja in der That großartige Lungenentzündungen sie begleiten können. Aber die Art der Entwickelung, die Form des Fiebers, eine Reihe sonstiger Symptome, vor Allem aber die ungeheure Sterblichkeit und der kurze Verlauf sprechen auf’s Schreiendste gegen jede Form des Flecktyphus und gegen jede bekannte Art von selbstständiger Lungenentzündung. Keine noch so crasse Unwissenheit, keine noch so systemklügelnde Spitzfindigkeit kann jene unwahren ärztlichen Berichte rechtfertigen; die Verantwortlichkeit ihres Verfassers wäre eine ungeheure geworden, wenn, wie es leicht hätte geschehen können, die Ortsregierung des Astrachaner Bezirks die Absperrung der Seucheherde aufgehoben hätte.

Noch an zwei anderen Stellen müssen wir den vertuschenden Berichten über die heutige Epidemie jede Stütze entziehen. Ihr ungewöhnlicher Weg kann schon deshalb nicht zur Entschuldigung des Verkennens dienen, weil die Seuche ihn nicht unangemeldet beschritt. Kleinere Epidemien hatten 1863 in den Bergdistricten des nordöstlichen Persiens, 1870 im persischen Kurdistan geherrscht, zunächst ohne die türkische Grenze zu überschreiten. Im Jahre 1873 bis 1875 trafen Ausbrüche der Pest das südliche Mesopotamien; 1876 wurde Bagdad ergriffen, wo 4000 Einwohner starben, und eine in Reschd am Kaspischen Meere im Jahre 1877 wüthende Seuche wurde von dem Leibarzt des Schahs von Persien bereits im April desselben Jahres als Pest erkannt. Von Reschd nach den Wolgamündungen und den Handelsplätzen des östlichen russischen Kaukasus mag sie dann schnell gelangt sein, – unerwartet oder gar verkannt jedoch nur von Denen, welche sie verkennen wollten. – Endlich konnte man fragen: „Wie sollte aber gerade die Form der Pest hier erwartet und sofort erkannt werden, welche man in Indien heimisch glaubte, da doch sicher Lungenblutungen in der diesjährigen Epidemie vorgekommen sind?“ Es ist vor Allem nirgends erwiesen, daß die indische Pest (der schwarze Tod) und die orientalische Pest sich gegenseitig ausschließen. Der Schrecken war zur Zeit der Epidemien so groß, daß Niemand genau darauf achtete, ob nur Fälle mit Lungenblutungen oder daneben auch solche reiner Beulenausbrüche vorkamen. Ging doch in der allgemeinen Aufregung das Unterscheidungsvermögen derart verloren, daß die Aerzte behaupteten, alle anderen Krankheiten hörten während der Pestzeit auf. Wahrscheinlich kommt eine Betheiligung der Lungen auch bei der orientalischen Pest weit häufiger vor, als dies in den älteren Beschreibungen erwähnt wird.

So fallen bei näherem Zusehen fast alle Entschuldigungen für jene Vertuschungsversuche fort, wenn man nicht den Umstand dafür nehmen will, daß ein Bestreben, die Pest zu verleugnen, nicht blos in der Pestgeschichte Rußlands, sondern auch anderswo schon öfter dagewesen ist. Klingt es nicht wie in unseren Tagen geschrieben, wenn Ripamonti, der oberitalische Chronist, sich 1640 wörtlich äußert: „Im Anfange also keine Pest, durchaus keine; selbst das Wort hören zu lassen verboten. Dann großartige Fieber; der Begriff durch ein untergeschobenes Wort verdreht. Nachher keine wahre Pest; nämlich eine Pest, aber nur in einem gewissen Sinne; nicht eine eigentliche Pest, sondern etwas, wofür sich kein anderer Name findet. Endlich Pest ohne Widerrede.“

Wir sehen jetzt, da alle Zweifel über den Charakter der Seuche beseitigt sind, Rußland in einem neuen Kriege, im Kampfe mit der Pest, und interessiren uns aus Gründen, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_146.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)