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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

das Gemach. Ihre Haltung war gebeugt, bleich ihr Antlitz. Was sie gehört hatte, genügte, einen furchtbaren Verdacht in ihr anzuregen, einen Verdacht, welchem bestimmte Formen zu verleihen sie sich mit aller Macht sträubte.

In ihrem Zimmer warf sie sich auf ihr Lager. Sie löschte das Licht aus, aber vergeblich sehnte sie den Schlaf herbei. Es war eine unheimliche Nacht. Erfolglos beschwor Kordel das Bild des ehrlichen Bertus vor ihre Seele; erfolglos suchte sie die von dem Vater unbewußt ausgestoßenen Worte als von einer unzurechnungsfähigen Phantasie geboren zu deuten, erfolglos in dem Fremden nur einen früheren Gefährten zu entdecken, dessen Bekanntschaft ihr Vater sich heute schämte, und den zurückzuweisen er das Herz nicht hatte. Denn nimmermehr – sagte sie sich – hätte er einem solchen eine entscheidende Gewalt über sich eingeräumt. Wie sie so dachte, warf der Sturm den Regen ungestüm an die Fensterscheiben.




5.

Im Dorfe hatte man sich allmählich an den Anblick des fremden Mannes gewöhnt. Man erstaunte nicht länger, daß Seiling sich dazu bequemte, die langjährige Abgeschiedenheit seines Lebens durch Aufnahme eines Verwandten zu unterbrechen, und zwar eines Mannes, der in jeder Beziehung so gänzlich verschieden von ihm war.

In der Dorfschenke war Klaas sehr bald heimisch geworden. Hinter dem Glase erzählte er geräuschvoll seine Seegeschichten, welche ein nichts weniger als günstiges Licht auf seine Vergangenheit warfen, und geberdete sich zeitweise sogar, als ob ohne seinen Willen kein Ziegel auf dem Dache des Schluchthauses verschoben werden dürfe. Seiling war noch verschlossener geworden. Nur selten sah man ihn aus der Ferne, und dann schlich er grübelnd einher, wie seufzend unter einer schweren Last oder heimgesucht von Krankheit. Im Geheimen bedauerte man den stillen Nachbar, zu welchem der leichtfertige Verwandte so wenig paßte, wie eine kreischende Möve in einen Taubenschlag. Mehr noch bemitleidete man die schöne Kordel, von welcher man voraussetzte, daß sie empfindlicher denn je zuvor unter der Mißstimmung ihres Vaters zu leiden habe. Ihre Besuche bei der Fischerwittwe wiederholte sie nach alter Weise, und wie gewöhnlich fuhr Bertus sie des Abends heimwärts. Schweigend saß sie ihm dann gegenüber.

Auch Bertus war ernster geworden. Das veränderte Wesen Kordel’s entging ihm so wenig, wie seiner Mutter. Letztere meinte den Grund dafür in der unwillkommenen Vergrößerung von Seiling’s Hausstand zu entdecken. Bertus dagegen dachte anders. Denn gerade seit jenem Abend, als sie die Fahrt über die Einbuchtung wagten, war Kordel eine Andere geworden.

Und wieder saßen sie, wie damals, beisammen im Boot. Sie waren so früh von der Landzunge aufgebrochen, daß Kordel vor Abend zu Hause sein konnte. Die See war rauh, die Luft kalt. Eine ziemliche Strecke hatten sie zurückgelegt, ohne daß ein Wort gewechselt worden wäre. Kordel spähte düster über Bord in die Wogen hinein. Bertus hielt das Steuer und beobachtete eine Möve, welche in geringer Höhe die gleiche Richtung mit dem Boot verfolgte. Sein Herz war voll zum Ueberströmen, allein so oft er einen Blick auf Kordel warf, sank ihm der Muth wieder – und doch mußte es einmal herunter von seiner Seele. „Ein Gotteszeichen,“ dachte er, „soll entscheiden.“ Begleitete der Vogel sie ganz hinüber, so wollte er nichts sagen. Kehrte er dagegen um, so sollte ihm das als ein Zeichen gelten, Kordel anzureden. Und er kehrte um, als etwa ein Drittheil der Entfernung hinter dem Boote lag. „Kordel!“ stieß Bertus hervor.

Kordel sah auf; den Blick fest auf des jungen Mannes ehrliches Antlitz heftend, gewahrte sie in demselben einen Ausdruck des Zagens und der Besorgniß, der ihre ganze Theilnahme weckte.

Bertus wartete nicht auf eine Frage, sondern fuhr mit eigenthümlicher Hast fort: „Verzeihe mir, wenn ich Deine Gedanken störe, allein ich möchte Dich bitten, mir Auskunft über etwas zu ertheilen. Fürchte auch nicht Reden, deren ich hinterher mich schämen müßte!“

„So sprich!“ antwortete Kordel und sah wieder seitwärts, um zu verheimlichen, daß die angeregte Erinnerung ihr Antlitz dunkel erglühen machte, „sprich in Gottes Namen! Zu verzeihen habe ich Dir nichts, und woran Du vielleicht in diesem Augenblicke denkst, das habe ich längst vergessen.“

„Alles?“ fragte Bertus ängstlich.

„Alles,“ bestätigte Kordel, ohne aufzuschauen.

Bertus seufzte tief auf. Kordel’s Antwort hatte ihn bis in’s Herz hinein getroffen. Er schwankte einige Secunden, wie zweifelnd, ob fernere Erörterungen nicht überflüssig seien, dann hob er mit mühsam erzwungener Ruhe an:

„Es muß herunter von meiner Seele, denn es quält mich Tag und Nacht, daß Du seit dem unseligen Abend anders geworden bist. Du sagst zwar, Du habest Alles vergessen aber ich fürchte, es nagt noch immer an Deinem Gedächtnisse, daß ich durch meine Tollheit Dich erschreckte.“

„Beunruhige Dich nicht!“ versetzte Kordel milder, und die düsteren Falten verschwanden zwischen ihren Brauen, „der Mensch ist oft nicht Herr seiner Sinne, und in einer guten Stunde soll man ihn nicht verantwortlich für das machen, was er in einer bösen beging.“

„Du hast wohl Recht, Kordel, und bist so viel besser als ich,“ erklärte Bertus herbe, „ich denke auch nicht daran, Dich für das Gute verantwortlich zu machen, welches Du in einer großen Erregung mir erwiesest – ich meine, als Du von mir gingst – Kordel, wie ich hernach über die Bucht gekommen bin, weiß ich heute noch nicht, aber ich meinte, die Seen wären Wolken, von welchen ich getragen würde, und das Brausen des Wassers tönte mir wie Gesang in die Ohren. Dann kamen vermessene Gedanken. Ich glaubte, eine Frage an Dich richten zu dürfen, obwohl ich mir immer sagte, daß ich Deiner nicht würdig sei. Aber als ich Dich darauf zum ersten Male wieder sah und in Deine Augen schaute, da entdeckte ich, daß etwas in meiner Rechnung nicht stimmte. Ich überlegte und härmte mich ab, weil ich wußte, daß ich selber die Aenderung verschuldete und Du Dich vielleicht schämtest. Thu’ das nicht, liebe Kordel! Durch nichts mehr sollst Du an die böse Stunde erinnert werden – wenn ich selbst es auch nicht vergessen mag – und nur um das Eine bitte ich Dich: wenn Dich etwas grämt und wurmt, so verschließe es nicht in Dir! Vertraue mir es an! Und wenn es in meiner Macht liegt, Dir zu helfen, und kostete es mein Leben, so findest Du mich stets zu Deinen Diensten.“

Ruhig hatte Kordel ihn ausreden lassen. Dann antwortete sie in warmem Tone, obwohl ihre Stirn sich dabei wieder ein wenig kraus zog:

„Warum nennst Du es nicht beim rechten Namen? Ja, ich habe Dich geküßt, und dessen brauche ich mich nicht zu schämen. Deine Hände hielten Steuer und Leine, so daß Du die meinige nicht ergreifen konntest. Und einen freundlichen Dank war ich Dir für Deine Mühe schuldig. Auch wollte ich Dich nicht mit herbem Andenken zu Deiner Mutter heimkehren lassen. Daß Du Anderes daraus entnehmen solltest – nein, Bertus, das beabsichtigte ich nicht. Du bist nicht schlechter als ich, und ich kenne keinen Mann, zu dem ich mehr Vertrauen besäße, als zu Dir, doch Dein Weib kann ich niemals werden. Ich will damit nicht sagen, daß ich Dir nicht herzlich gut wäre, nein, Bertus, mit einer Unwahrheit möchte ich mein Gewissen nicht beschweren, aber ich kann nicht Dein sein, weil ich überhaupt keines Mannes Weib sein will oder kann. Mit dieser Erklärung sei zufrieden. Hörst Du’s aber gern von mir, so bekenne ich offen, daß, wenn ich fremden Rath brauche, ich zu Dir komme, zu Dir, meinem besten Freunde – ja, Bertus, so groß ist mein Vertrauen zu Dir, und hier ist meine Hand darauf.“

Sie reichte ihm die Hand, und schaute sie jetzt düsterer, so geschah’s nur, weil sie gewahrte, daß die frische Lebensfarbe Bertus’ Antlitz verlassen hatte und er so traurig in ihre Augen sah, wie Jemand, dem jede Hoffnung auf irdisches Glück unwiderruflich abgesprochen wurde.

„Das schneidet in’s Herz und klingt zugleich tröstlich,“ versetzte Bertus zögernd, „ich will daher nicht klagen. Da aber Du selber behauptest, Niemand angehören zu wollen, darf ich’s wohl verrathen, womit man Dich in’s Gerede gebracht hat, ohne daß Du mich verdächtigst, ich möchte einen Anderen in Deinen Augen herabsetzen.“

„In’s Gerede?" fuhr Kordel leidenschaftlich auf, und heftig zog sie die Hand, welche Bertus noch immer hielt, zurück.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_160.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)