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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 13. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.




Der Hiob von Unterach.
Eine Skizze von Karl Emil Franzos.


Ich habe den verwichenen Sommer zu Unterach verlebt, einem lieben, stillen Berg- und Seedörfchen im Hausruckviertel, welches – allen Göttern sei es gedankt! – bisher noch keine moderne und berühmte Sommerfrische geworden ist. Eben darum läßt sich dort gut und schön hausen, und wer auf dem Lande nichts sucht, als einen erhebenden Ausblick für’s Auge, ein erquickliches Seebad und eine tiefe, tiefe Stille, in welcher sich die Qual überreizter Nerven langsam lindert und löst, der mag für künftige Zeiten den Namen im Gedächtniß behalten und wird mir dankbar sein. Und wenn er auch, gleich mir, zuweilen den Kopf wird schütteln müssen über die ortsübliche Auffassung eines Wiener Schnitzels und eines englischen Beefsteaks, und wenn er, des Rumohr’schen Wortes, daß jede gute Speise ein Gedicht ist, eingedenk, allmählich zur Ueberzeugung kommt, daß des Postwirths Nettl eine prosaische Natur ist, welche nie Gedichte macht, so wird er doch besänftigt und versöhnt sein, sobald er wieder vom Teller aufblickt. Denn der hungrige Magen wird schließlich doch satt, gleichviel wie, das durstige Auge aber kann nie satt werden, die ernste und doch liebliche Schönheit dieses Landschaftsbildes einzusaugen, welche jeder Tag für ihn ausbreitet, immer dieselbe und doch täglich von entzückender Neuheit. Da schimmert, breit und mächtig ausgegossen, die azurne Fluth des „österreichischen Meeres“, des Attersees; da heben sich die grauen, ernsten Felsen des Höllengebirges; da rauscht der tiefgrüne Bergwald des Attergaus, und wer eine halbe Wegmeile nicht scheut, kann von diesem begnadeten Dörfchen aus die drei schönsten Seen des Kammerguts zu seinen Füßen blinken sehen und rauschen hören. Freilich ist nichts auf dieser armen Erde so licht und schön, daß es nicht auch seine schauerliche und grauenhafte Seite hätte, und so ereignen sich allsommerlich im Fremdenbuch von Unterach um dieser Schönheit willen viele und lange Gedichte. Aber diese werden doch gewöhnlich nur von Jenen gelesen, welche selbst neue hinzuschreiben, und so erweist es sich zugleich auch hier tröstlich, daß jede böse That meist schon ihre Strafe in sich trägt.

Fast nur die Natur wird von diesen Dichtern gefeiert; der Menschen hat nur Einer gedacht, ein Wiener Börsianer, und der hat mit jenem feinen Tacte, welcher diese Menschenclasse auszeichnet, sich über das viele Beten im Attergau lustig gemacht. Nun will mich freilich bedünken, als ob es gut wäre, wenn in jedem dieser Bergdörfer neben der stattlichen Kirche auch ein stattlich Schulhaus stünde, aber nur ein frivoler Thor wird darüber spötteln können, daß ein Volk, welches in diesen Bergen den Kampf um’s Dasein führen muß, täglich von Neuem in langen, durstigen Zügen aus dem Quell seines Glaubens trinkt. Denn dieselbe Natur, welche uns Städtern den kurzen Sommer hindurch so lieblich lächelt, weist den Eingebornen durch acht Monate des Jahres ein düsteres, erbarmungsloses Antlitz, und ihr Walten ist ein grausam strenges, und grenzenlos sind die Schrecken, wenn sie wüthet. Ich bin vielleicht kein genügend moderner Mensch, – das ist ja möglich – aber ich habe nie über diese unzähligen Kreuze und Capellen lächeln können, mit denen alle Wege übersäet sind, und nie über jenes monotone halbstündige Chorgebet, welches viermal am Tage aus diesen niedrigen Hütten dringt. Ich muß dabei immer denken: über diese Hütten braust ja vom November bis zum April der Schneesturm, und die Menschen, die darin wohnen, müssen sich als Holzknechte und Flößer ihr Brod verdienen! Denn der Ackerbau giebt in diesem rauhen Strich geringen Ertrag, und die Hausindustrie ist leider noch wenig verbreitet und kann auch, verschiedener trauriger Verhältnisse wegen auf Jahrzehnte hinaus nicht zur rechten Blüthe gelangen. So geben nur der Wald und der See diesen Menschen das dürftige Brod, aber beide sind auch hart und tückisch, und statt des ersehnten Lohnes findet da Mancher den Tod – täglich auf das Schlimmste gefaßt zu sein, gebietet leider nicht etwa die übertriebene Furcht, sondern die tägliche Erfahrung. Ach! was würde aus diesen beladenen Menschen werden, wenn sie nicht auch immer wieder aus dem Quell des Uebersinnlichen trinken könnten, welcher sie stählt und tröstet? Und was wäre dann aus dem Ebenhiesel zu Unterach geworden?

Der Ebenhiesel ist nur ein armer alter Holzknecht in einem entlegenen Winkel der Erde und wahrlich kein Mensch auffälligen Geistes. Und doch will ich die Antwort auf eine ewige Frage suchen, indem ich seine Geschichte erzähle. Ist es denn aber der Ebenhiesel auch werth? Vor Gott, steht geschrieben, sind alle Menschen gleich viel werth – auch vor jenem Gott, dem ich mich beuge und dessen Satzungen nirgendwo aufgezeichnet sind in bündigen Geboten, aber vielleicht um so deutlicher in dem Walten der Natur und den Empfindungen des Menschenherzens. Und auch bezüglich der weiteren Frage, ob dieser arme, beschränkte Greis interessant genug ist, will es mir scheinen, als ob sie grundlos wäre: alle Menschen sind, im Tiefsten besehen, gleich interessant, wenn man sie recht verstehen lernt – über Leben und Entwickelung des Unbedeutendsten ließe sich ein stattliches Buch schreiben. Und dieses Buch wäre sogar, sofern man Alles darlegen könnte, wie es sich wirklich gefügt, das merkwürdigste und spannendste, welches je erschienen. Der Thautropfen gleicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_209.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)