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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


scheint auch heiß zu sein,“ fuhr er wie athemlos vor Bestürzung empor – dieses Männergesicht voll Selbstbewußtsein war kaum wiederzuerkennen mit dem Ausdruck zitternder Angst.

„Veitchen hat sich erschreckt, Herr Rath,“ sagte die Amme, die Hände über dem Leib faltend, in anklagendem Tone. „Er kann eben gar keinen Spectakel vertragen, und die Frau Majorin hat vorhin einen Teller auf den Erdboden fallen lassen – ich war halbtodt vor Schreck und dachte mir’s gleich, daß Veitchen krank würde; er schrie zu fürchterlich, Herr Rath.“

Der Rath schwieg und streifte mit einem finsteren Seitenblick seine Schwester, die, ganz bleich vor Grimm und Aerger, langsam am Eßtisch hinging und zwecklos verschiedene Gegenstände aufnahm, um sie wieder hinzulegen. Jetzt trat sie rasch an die Wiege und legte die Hand prüfend auf die Stirn des schlafenden Kindes. „Du siehst Gespenster – dem Kinde fehlt nichts,“ sagte sie in ihrer kurzen, entschiedenen Weise, aber, wie man sah, selbst erleichtert durch das Resultat ihrer Untersuchung.

„Gott sei Dank!“ rief der Rath tiefaufathmend. „Ich weiß, Du verstehst Dich darauf, Therese. – Aber es wäre jedenfalls praktischer gewesen, Felix hätte oben in Deinem Zimmer gegessen. Trine hat Recht, Veit kann kein starkes Geräusch, nicht einmal lautes Sprechen vertragen; wir werden uns deshalb, so lange Dein Sohn hier ist, im vorderen Eckzimmer aufhalten. Für jetzt muß das Kind in seine Schlafstube – die Luft hier ist zu dick, voller Speisedunst.“

Er ergriff die Wiege am Kopfende und winkte der Amme, die entgegengesetzte Seite aufzunehmen, aber die Majorin legte selbst Hand an, und so trugen die beiden alternden Geschwister den neuen Träger des Wolfram’schen Namens – ihrem Familienbewußtsein und Dünkel nach ein Menschenkind, kostbar wie ein Königssohn – durch Küche und Hausflur, und die Amme folgte, hochmüthig das fette Doppelkinn präsentirend, breitspurig mit ihrem Strickstrumpfe.




4.

Die Thüren blieben offen, und Felix fühlte den lebhaften Wunsch, auch hinauszugehen und das „alte Falkennest“, aus welchem der klägliche, kümmerliche Sproß da drüben schon jetzt mit seinen Spinnenfingerchen jeden Insassen anderen Namens stieß, auf Nimmerwiederkehr zu verlassen. Von Neid und Mißgunst war keine Spur in der Seele des jungen Mannes; er hatte im Gegentheil laut aufgejubelt bei der Nachricht, daß ein Wolfram geboren sei; denn ihm war der Gedanke, einst auf dem Klostergute hausen zu müssen, immer ein verhaßtes Schreckgespenst gewesen. Freilich hatte er sich nicht träumen lassen, daß sich mit dem ersten Athemzuge des kleinen, mißgestalteten Burschen eine Wandlung vollziehen würde, die das Leben auf dem Klostergute geradezu unerträglich und ihn damit gewissermaßen heimatlos machte. Der Onkel hatte ihm eben noch die Rolle eines Ueberflüssigen zugewiesen, der in jede beliebige Ecke gesteckt wurde, wenn seine Anwesenheit den schwachen Nerven des Wickelkindes nicht zusagte. So hart und streng der Rath den phantasievollen Knaben einst behandelt, dem angehenden jungen Manne gegenüber war er doch in den letzten Jahren rücksichtsvoller, gleichsam vertraulicher gewesen. Felix stampfte in zorniger Scham mit dem Fuße auf – das hatte nicht ihm, seinem aufrichtig gemeinten Streben, seinen erworbenen Kenntnissen gegolten, wie er fest geglaubt; es war die Rücksicht für den Einzigen gewesen, in dessen Adern noch Wolfram’sches Blut floß, die Achtung vor dem späteren Besitzer des Klostergutes. Nun schüttelte der Rath „das nothwendige Uebel“, den Lückenbüßer ab – in der seidenbehangenen Wiege lag ja sein eigen Fleisch und Blut; er trat wieder brüsk und herrisch auf, wie er einst mit dem fremden, jung einfliegenden Vöglein, dem armen „Colibri“ verfahren.

Und die Mutter? Der Sohn zweifelte nicht an ihrer mütterlichen Liebe, wenn sie auch mit den äußeren Zeichen derselben kargte, wie beim Geldausgeben – sie verachtete jede lebhaftere Gefühlsäußerung als „geziertes Wesen“. Von dem Verstand und Charakter ihres Bruders hatte sie die höchste Meinung; seine unbeugsame Härte und Strenge gehörte zum Manne, wie der Ordnungssinn und die Häuslichkeit zur Frau – sie ging blindlings mit ihm. In Bezug auf das Haus aber, dem sie entstammt, sollte sie geradezu spartanisch hart denken; das Interesse ihres Sohnes käme erst in zweiter Linie, behaupteten die wenigen näheren Bekannten, die auf dem Klostergute verkehrten. Das vermeintliche Aussterben der länger als drei Jahrhunderte hindurch blühenden, hoch angesehenen Familie war ihr stets ein nagender Kummer gewesen; sie hatte die kleinen, flachshaarigen Nichten nie geliebt, und für die Mutter, die ihnen das Leben gegeben, eine Art Mißachtung im Herzen getragen. Das wußte Felix so gut, wie er stets den tiefen Schatten beobachtet hatte, der über ihre Stirn hinzog bei der Bemerkung Anderer, daß die Namen Lucian-Wolfram dereinst vereint dem Besitzthum ihrer Familie vorstehen sollten – die unversöhnliche Frau gönnte diese Auszeichnung dem Namen dessen nicht, der „sie unglücklich gemacht hatte“. – Sie war mithin am wenigsten geeignet, die schlimmen Eindrücke, die ihr Sohn eben empfangen, zu mildern, ihm im Hause des Bruders den Boden unter den Füßen wiederzugeben. Aber wozu denn auch? Er brauchte und wünschte diese ungastliche Heimath nicht mehr!

Der junge Mann, der eben noch in zorniger Aufwallung den Fuß zum Fortgehen auf die Schwelle gesetzt hatte, kehrte rasch zurück und trat an das Fenster der Wohnstube – trotzig und empfindlich durfte er jetzt nicht sein; er war ja nicht zu seiner Erholung, wie er fälschlich geschrieben, sondern zu einer dringenden Besprechung gekommen.

Eine heiße Angst machte ihm plötzlich das Herz heftig schlagen; er hatte sich in Berlin diese Unterredung bei weitem leichter gedacht; jetzt, wo er die zwei ernsten, verschlossenen Gesichter auf dem streng einfachen Hintergrund eines bürgerlich geregelten Hausstandes wiedergesehen, erschien ihm sein Vorhaben riesengroß an Schwierigkeit. „Lucile!“ flüsterte er aufseufzend, und sein Blick irrte durch das laubbeladene Geäst der draußen stehenden Rüster, das die Spätnachmittagssonne hier und da in prangendem Maiengrün transparent aufleuchten machte. Und wie auf seinen Ruf hergelockt, schlüpfte über diesen goldgrünen Grund hin die geschmeidige Gestalt mit den lang über den Nacken rollenden Locken, jeden Nerv voll prickelnden, siebenzehnjährigen Uebermuthes, die lieblich geschwungenen Lippen übersprudelnd von Tollheiten und Mutwillen. Er fühlte die weißen warmen Kinderarme um seinen Nacken verstrickt, fühlte das Wehen ihres Athems auf seiner Wange, und der ganze Rausch der Liebesseligkeit, der ihn seit Monden trunken machte, kam über ihn und gab ihm Kampfesmuth und die Zuversicht seiner jugendlich idealen Lebensanschauung zurück.

(Fortsetzung folgt.)




Osternacht.


Im tiefen Schnee ruht Berg und Thal,
Die Nacht durchdämmert der Mondenstrahl.
Das ist die heimliche Wundernacht!
Von den Bäumen sacht

5
Fallen die thauenden Flocken,

Und die Lüfte wandeln so feucht, so schwer,
Vom Kirchhof dröhnt es und schwingt sich her:
     Es läuten die Osterglocken.

Drei Leute wandern die Kluft entlang,

10
Wo die Wasser schäumen am Bergeshang;

Der Priester trägt das heiligste Gut.
Bei der Leuchte Gluth
Schreiten sie sonder Stocken;
Des Meßners Schelle verloren tönt;

15
Nah schimmert der Hof, und die Bäurin stöhnt:

     Es läuten die Osterglocken.

In der frostigen Kammer der Bauer wacht;
Schwer drückt das Bett in der Fiebernacht,
Und er hat das Leben so lieb, so lieb,

20
Und er fühlt so trüb

Fliehende Freuden locken!
Verlöschend harrt er der letzten Qual –
Da reißt’s ihn empor mit einem Mal:
     Es läuten die Osterglocken.

25
Das klingt wie der Ruf vom jüngsten Tag,

Wie Wipfelbrausen und Finkenschlag,
Und im Herzen sprudelt’s ihm frisch und warm;
Und er streicht mit dem Arm
Selig die Stirn sich trocken:

30
„Gottlob, nun wird mir wieder frei

Und das Kind bekommt noch sein Osterei –“
     Es läuten die Osterglocken.

Die Thür springt auf, und die Tröster nah’n,
Und lächelnd sieht sie der Kranke an:

35
„Grüß Gott, Herr Pfarrer! es thut nicht noth;

Frau, bringe das Brod –
Trinket und eßt einen Brocken!“
Dann sinkt er zurück und schlummert ein
Und schläft sich in’s volle Leben hinein –

40
     Es läuten die Osterglocken.
Victor Blüthgen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_248.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)