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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen.[1]

Ein Culturbild aus der Gegenwart von Fridolin Hoffmann.

I. Der Dunstkreis der Erscheinung.

„Der blühendste, aufgeklärteste, heiterste, regsamste Theil Deutschlands: Rheinland und Westfalen, schickt vierzig ultramontane Abgeordnete in die Landesvertretung. Wahrlich, eine verlorene Schlacht an der Loire wäre ein geringeres Unglück für die Nation, als diese Niederlage.“ So schrieb „ein Rheinländer“ in einem „Wunsch zur Kaiserkrönung“ betitelten Artikel der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ vom 5. December 1870, nachdem vierzehn Tage vorher die Landtagswahlen in Preußen stattgefunden hatten. Mehr als einmal ist der angeführte Passus in den Parlamenten zu Berlin gerade von der Seite selbstgefällig wiederholt worden, gegen die er vom Verfasser gemeint war; indem man der Welt immer wieder zu Gemüthe führte, daß dieser räumlich beschränkte Theil Preußens, dessen Abgeordnete zwei Dritttheile der Centrumspartei im Landtage bilden, „eingestandenermaßen“ der geistig geweckteste von ganz Deutschland sei, sollte der Welt ein günstiger Schluß über die genannte Partei geradezu auf die Lippen gelegt werden.

Die von dem „Rheinländer“ der Bevölkerung seiner Heimath zuerkannten Eigenschaften sind gewiß nicht unverdient, wenngleich, wie die erwähnten Wahlen, so auch das leichtgläubige Verhalten eines großen Theiles dieser Bevölkerung den weltbekannten Vorgängen zu Marpingen gegenüber ein anderes Urtheil herauszufordern scheint. Vielleicht gelingt es, den Widerspruch einigermaßen zu vermitteln, wenn man die guten gemüthlichen und geistigen Grundeigenschaften der in Rede stehenden Volksstämme von dem zufälligen Einfluß trennt, den ihr kirchliches Bekenntniß unter der Dauer des Culturkampfs auf sie ausübt. Auch die Marpinger Vorgänge erscheinen nach Ursprung und Verlauf in entschiedenem Zusammenhang mit dem Culturkampf. Ein in der baierischen Rheinpfalz, also in der Nähe des Wunderreviers erscheinendes „conservativ“-protestantisches und daher den Tendenzen der Centrumspartei in platonischer Liebe ergebenes Blatt drückte das mit den Worten aus: der Culturkampf dränge das Volk zum Glauben an die Wunder und zum Festhalten an denselben. Der in dem eben beendeten Marpinger Processe als Schutzzeuge geladene ehemalige Redacteur der Berliner „Germania“, Dr. Paul Majunke, erklärte das Interesse, welches er der Sache gewidmet habe, am 7. März 1879 vor dem Gerichtshofe zu Saarbrücken unter Anderem mit der sich ihm aufdrängenden Erwägung: „daß in dem großen Geisterkampfe, welcher augenblicklich in Preußen tobte, derartige Manifestationen einer übernatürlichen Welt durchaus erklärlich seien“. Von einem Pastor Schwaab zu Urexweiler wurde, gleichfalls beim Zeugenverhör, folgende Aussage constatirt: „Die Regierung hat uns so gequält; nun wollen wir ihr auch einmal ein Schnippchen schlagen." In welchen Ideenkreisen die Geistlichkeit des betreffenden Theils der Trierer Diöcese sich in den letzten Jahren bewegte, zeigt auch eine bei dem Pastor Schneider in Alsweiler bei Marpingen von der Behörde vorgefundene Broschüre, welche laut dem Titel Anleitung darüber giebt, „wie man Revolution macht“. Wenn eine Revolution, heißt es darin, Aussicht auf Erfolg haben solle, müsse sie von langer Hand vorbereitet werden. Es müsse in die breitesten Volksschichten die Unzufriedenheit mit den bestehenden staatlichen Zuständen hineingetragen und die Erbitterung gegen die Behörden dauernd genährt werden etc..

Ein viel stärkeres Verbindungsglied zwischen den Marpinger Wunderdingen und der kirchenpolitischen Situation in Deutschland hat die Centrumspartei selbst dadurch geschaffen, daß sie, weil die Staatsbehörde gegen das Weiterwuchern des Schwindels einschreiten zu müssen glaubte, sich zum Anwalte der Marpinger aufwarf, und zwar vor dem versammelten preußischen Landtage. Und der Wortführer von damals – die Verhandlung fand am 16. Januar 1878 statt – der Advocat Julius Bachem, Stadtverordneter zu Köln, ließ es sich auch nicht nehmen, den Beschuldigten jetzt, bei den mündlichen Verhandlungen vor dem Zuchtpolizeigerichte zu Saarbrücken vom 3. bis zum 15. März, als Vertheidiger zur Seite zu stehen. Der junge Mann hat sich vor fünf Jahren als Rechtsbeistand des inzwischen abgesetzten Erzbischofs Melchers die Sporen verdient und seitdem in allen namhafteren Culturkampfs-Processen am Rhein die Rolle des St. Michael mannhaft weiter gespielt. Mag das ganze vernünftige Deutschland mit Staunen, Scham und Ekel die Dinge vernommen haben, welche in der ersten Märzhälfte zu Saarbrücken an’s Licht kamen – die Hoffnung wäre eine eitele, daß die geistlichen und politischen Anwälte der Marpinger Vorgänge ihr Selbstgefühl durch die Bloßlegung der scandalösen Fundamente jenes Wunderschwindels auch nur um einen nennenswerthen Grad sich herabmindern ließen. Wer über die clericale Jugendbildung und Schulung des Volksgeistes die schützenden Flügel ausbreitet, muß wohl oder übel auch die Früchte davon mit in den Kauf nehmen. So wahr der clericale Geist nie aufhören wird den Wunderglauben zu fördern, so sicher werden Aeußerungen desselben in der Art der Marpinger stets dessen unausweichliche Folgen bleiben. Nicht in den gegen Einzelne erhobenen Beschuldigungen liegt die culturhistorische Bedeutung des Marpinger Processes, sondern in dem, was dabei bekannt geworden ist über die Natur des römischen Kirchenthums und über die Früchte der clericalen Jugendbildung.

Als die „Gartenlaube“ – Seite 740 des Jahrgangs 1872 – ausführlich erzählte, wie Herr Laurent, Bischof von Chersonesus in partibus infidelium, als apostolischer Vicar zu Luxemburg angesichts seiner Seminaristen im Jahre 1843 einen Teufel austrieb und dabei constatirte, daß der „Böse“ verschiedener Sprachen mächtig sei, da lachte man laut auf in allen fünf Welttheilen. Die Möglichkeit solcher Vorfälle überrascht immer auf’s Neue. Die Abneigung unserer Zeit, an übernatürliche Eingriffe in den Verlauf der irdischen Dinge zu glauben, beruht in den großen Massen nicht auf tieferer wissenschaftlicher Erkenntniß, sondern auf der durch wiederholte Erfahrung bestärkten Wahrnehmung der täglich vor unseren Augen sich darlegenden klaren Naturordnung. Dieser der Orthodoxie so widerwärtige „Zeitgeist“ ist im Wachsen, und das ist begreiflich, denn mit gutem Recht sagt Tyndall, wo er in seinen „Fragmenten“ vom „brennenden Dornbusch“ redet und von dem Stillstand der Sonne und des Mondes im Buche Josua: „Hätten wir es nur mit leichtgläubigen Erzählungen der Alten zu thun, wären diese Erzählungen nicht zugleich verknüpft mit Worten unvergänglicher Weisheit und mit Beispielen von moralischer Größe, welche unerreicht dastehen in der Geschichte des Menschengeschlechts – längst schon hätten sowohl die Wunder wie die Beweise für deren Vorkommen aufgehört, zu den Ueberlieferungen der verständigen Menschheit zu gehören.“ Vielleicht stützt sie auch, daß die Wundergläubigen nach ihrem Dafürhalten Herren der Natur sind: mit ihrem Gebet vermögen sie dem Himmel – wie sie selbst oft sich ausdrücken – „Gewalt anzuthun“. Eine directe Wirkung auf die Naturvorgänge besitze, sagen sie, ihr Wille allerdings nicht, aber in ihren Bittgebeten meinen sie gleichsam den Ausheber von dem Schlagwerk der Uhr in Händen zu haben, um sie, die göttliche Macht für ihre momentanen Bedürfnisse in Bewegung setzend, schlagen zu lassen nach ihrem Belieben. Das war allerdings eine vielfach tröstende Weltanschauung, aber sie hatte ihre Kehrseite in der abergläubischen Furcht vor den Mächten der Hölle, wie sie sich in so trauriger Weise betätigte in dem Verfahren gegen Teufelsbündler, Hexen und Zauberer. Man weiß, was die zügellose Phantasie selbst der Rechtsgelehrten an der Hand der Theologen in dieser Beziehung geleistet hat. Ebensowohl wie man vom Himmel gut Wetter erbetete, konnte man auch durch Teufelsgunst verheerende Gewitter über die Felder verhaßter Nachbarn hinführen. Im Jahre 1600 wurden zu München sechs Uebelthäter auf einmal

  1. Angesichts des soeben gesprochenen Urtheils über die Veranstalter der Muttergottes-Erscheinung in Marpingen und deren Mitschuldige dürfte ein nochmaliges Zurückkommen auf diese Kundgebung des modernen Religionsschwindels, dem wir bereits in unserer Nr. 40 von 1877 einen eingehenden Artikel widmeten, an der Zeit sein. Wir bringen die nunmehr abgeschlossene Angelegenheit mit obigem Culturbild aus berufener Feder auch für unsere Leser zum Abschluß.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_266.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)