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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„‚Wahr ist,’ erklärte sie, daß ich am 3. Juli etwas gesehen habe; es war ein weißer Schein, und dieser hatte die Gestalt einer sitzenden Frau; ich lief erschreckt mit den Kindern, die bei mir waren, nach Haus und erzählte es. Am zweiten Tag kam ich gegen fünf Uhr in den Wald, sah aber nichts; gegen sieben und acht Uhr sah ich einen weißen Schein, etwas größer als Tags vorher.’

Ich fragte, wie groß der Schein gewesen sein; sie sagte:

‚So groß wie der Stuhl, worauf Sie sitzen.’

‚War es eine menschliche Gestalt?’

‚Nein.’

‚Sprach etwas aus dem Schein?’

,Nein; ich stellte aber Fragen an ihn und hörte auch etwas.’

‚Aber wie konntest Du erwarten, daß der Schein, der keine menschliche Gestalt hatte, Dir Antwort geben würde?’

,Ich glaubte, wenn ich fragte, würde die Gestalt sich zeigen, wie vorher; ich glaubte, es müsse so sein, und habe auch gefragt, damit die Leute es hören sollten.’

Auf die Frage: ‚Wäschen (Frauchen), wer seid Ihr?’ habe sie die Antwort gehört. ‚Unbefleckt.’ Auf die Frage: ,Was ist Euer Begehr?’ habe der Schein geantwortet: ‚Beten und fromm;’ auf die Frage: ‚Sollen wir eine Capelle bauen?’ sei bejahende Antwort erfolgt; sie habe weiter gefragt, aus welcher Quelle getrunken werden solle (außer der an der Gnadenstätte im Walde befindet sich noch ein ‚Marienborn’ im Orte selbst, bei der Kirche), da habe sie das Wort ,Owe’ (oben) vernommen, woraus sie geschlossen, daß das die obere Quelle sein solle. Am dritten Tage habe sie nur einen Schein gesehen. An diesem Tage sei ein Kranker gekommen und habe unter ihrer, der Kunz, Führung seine Hand auf den Fuß der Erscheinung gelegt. Auf meine wiederholten Fragen hat die Kunz eingestanden, der Fuß sei auch ihr nicht sichtbar gewesen; sie habe nur so gethan. Sie räumte auch ein, Rosenkränze von den Leuten angenommen, eine Weile in der Tasche behalten und sie nachher unter dem Vorgeben, daß sie mit denselben die Erscheinung angerührt, den Eigenthümern wieder eingehändigt zu haben.“

Dr. Strauß, dessen Angaben wir hiermit schließen, fungirte bei der Untersuchung als vereideter Zeuge; er ist nicht der Einzige gewesen, der die freche Verlogenheit der Kinder gründlich kennen gelernt hat; mit ihm theilen diese Erfahrung der Saarbrücker Landgerichts-Präsident Schorn, die als Untersuchungsrichter fungirenden Assessoren Remelé und Kleber, die Vorsteherin des Mariannen-Instituts und eine ältere Zimmergenossin der Margarethe in dieser Anstalt. Auch hier wurde „unter dem Bewußtsein der Allgegenwart Gottes“ und „unter Thränen“ widerrufen, dann die Widerrufe zurückgenommen und auch wieder erneut.

Als die drei Kinder einmal, Anfangs October 1876, vor dem Criminalcommissar von Meerscheidt-Hüllessem verhört wurden und Margarethe Kunz ihre Erfindungen eben Stück für Stück verleugnet hatte, postirte diese Anstifterin der Uebrigen sich vor die letzteren hin und rief ihnen zu: „Saget nur die vollständige Wahrheit!“ Sämmtlich verneinten sie jetzt, überhaupt etwas gesehen oder Fragen an die Erscheinung gestellt zu haben. Am 26. desselben Monats hörte Jemand, wie die Kinder sich über ihre Geschichten unterhielten. „Ich sage es aber nicht mehr, denn die Leute glauben es doch nicht,“ erklärte das eine, worauf das andere „Einige glauben es doch noch“ erwiderte.

Als die erwähnte ältere Zimmergenossin der Margarethe Kunz im Mariannen-Institut, welche das freundschaftliche Zutrauen des Mädchens gewonnen hatte, diesem das Grundlose einer von ihm behaupteten neuen Erscheinung in der genannten Anstalt gleich am folgenden Morgen auf’s Schlagendste nachwies, suchte Margarethe zuerst den Glauben an ihr Vorgeben zu erbetteln, dann, als dies nicht gelingen wollte, sagte sie: „Dir kann man nichts weiß machen. Du bist nicht so dumm, wie die dummen Herren.“ Mit „die Herren“ bezeichnet das Volk die Geistlichen. Auf die spätere Frage derselben Zimmergenossin an die Kunz, was sie denn eigentlich gesehen habe, ließ diese sich vorerst das Gelöbniß der Geheimhaltung geben und erklärte dann rund heraus. „Es war lauter Unsinn und Trug. Dich habe ich zu gern, als daß ich Dich belügen könnte.“

Die Untersuchung hat keinen Zweifel gelassen über das Senfkorn, aus welchem mit all seinem Gezweige der Lügenbaum emporwuchs, unter den die Völker zu wohnen kamen – nicht nur die Bauern und Bürger zu Tausenden, sondern auch Leute, die auf der Menschheit Höhen stehen: Erzherzog Ludwig Victor, der jüngste Bruder des Kaisers Franz Joseph von Oesterreich, die Fürstin Helene Karoline von Thurn und Taxis, Tochter des Herzogs Maximilian Joseph in Baiern, ältere Schwester der österreichischen Kaiserin, Edmund Prinz von Radziwill, Vicar zu Ostrowo etc. etc.. Auf dieses Senfkorn deutet eine vor der Vorsteherin des Mariannen-Instituts gemachte vertrauliche Aussage der Margarethe Kunz hin: sie hat in einem Buche gelesen, daß andere Leute solche Erscheinungen gehabt haben, und da kam ihr der Gedanke. „Warte, das sagst Du aber auch so einmal!“

Mögen die Reden und Widerreden der Margarethe Kunz strotzen von Lügen – dieses Eine hat sie sicher nicht erfunden. Wie wir unter den Studienköpfen in dem Atelier eines Malers oder Bildhauers sofort diejenigen herauskennen, zu welchen die lebendige Natur, ein individuelles Original, die Züge geliehen hat, so drängt sich bei der angeführten Aeußerung uns sofort die Gewißheit auf, daß wir in ihr den Embryo des ganzen Wundergebildes vor uns haben. Das Uranfängliche war eine freiwillige Lüge; die weitere Ausschmückung entwickelte sich dann theils in der Phantasie des Kindes bei dem vorwitzigen Nachforschen nach den Einzelheiten des Gesehenen, theils wurde es den „Begnadigten“ geradezu auf die Zunge gelegt. Zeugeneidlich ist erhärtet, daß die an die vorgebliche Erscheinung gerichteten Fragen: ob eine Capelle gebaut werden solle, ob diese von Holz oder von Stein sein müsse, ob Kranke geheilt würden etc., der Wortführerin Margarethe Kunz von bigotten Weibsbildern – z. B. der Lehrerin Andrée – in den Mund gegeben wurden. Auch in der Schule war von den Muttergottes-Erscheinungen an den früher genannten Orten als von ebenso vielen Manifestationen der nahen göttlichen Hülfe für die „bedrängte Kirche“ mehr als einmal die Rede gewesen.

Und trotz all diesem himmelschreienden Blödsinn, trotz erhaltener Kenntniß von den Widerrufen der Kinder verharrten Pastor Neureuter und seine benachbarten Amtsbrüder im Glauben an das ihren Heerden widerfahrene himmlische Heil, und zwar auf Grund der – „Glaubwürdigkeit der Kinder“! Erst als nach dem 2. Juli 1877 noch vierzehn andere Kinder aus Marpingen ebenfalls übernatürliche Gesichte haben wollten, da wurde es dem guten Neureuter, zu dessen Rechtfertigung selbst sein Vertheidiger Dr. J. Bachem nichts Besseres zu sagen wußte, als: man könne Niemanden darob bestrafen, daß er nicht kritisch veranlagt und seinem Posten nicht gewachsen sei, doch zu viel; Ende 1877 sagt er in einem Schriftstücke. „Mit den Concurrenzkindern ist es nichts, aber das Andere beruht auf Wahrheit; das kommt von Gott.“

Diese Concurrenzkinder, von denen drei zehn- bis elfjährige bei der öffentlichen Verhandlung am 13. März vernommen wurden, trieben die Sache in der That zu bunt selbst für die crasseste Gläubigkeit. Die ursprünglich Begnadigten warteten wenigstens ihre Besuche aus Himmel und Hölle ab, und zwar auf Erden – auch der Teufel ließ es sich nicht nehmen, ihnen zu erscheinen, wie sie ihn denn einmal auf Geheiß der gleichzeitig anwesenden Muttergottes mit einem geschwungenen Stiefel zur Thür hinausprügelten, darauf mit wurmstichigen Aepfeln warfen und zuguterletzt dem unglücklichen Beelzebub, als er über den draußen ihn durchnässenden Regen klagte, die Hohnrede zuwarfen: er möge „in die Hölle zurückfahren, da sei es trocken und warm“. Die Concurrenzkinder dagegen hatten ihre Gesichte nicht nur andauernd bis zum Vorabend und sogar bis zum Tage ihres gerichtlichen Verhörs, sondern sie stiegen auch in eigener Person hinauf in den Himmel und hinab an der Hölle vorbei. „Im Himmel,“ sagte die Concurrentin Anna Thomé, wie früher vor dem Untersuchungsrichter, so später auf Befragen des Präsidenten, „da ist es schön. Da war der liebe Gott mit langem grauem Bart und der heilige Geist und Engel und Seelen. Die Seelen waren weiß. Der heilige Geist hatte die Gestalt einer Taube; er flog oben an der goldigblauen Himmelsdecke herum. In die Hölle habe ich nur hineingesehen, als ich aus dem Himmel kam; darinnen war’s schwarz und ein großes Feuer. Eine Seele habe ich daraus erlöst, indem ich sie fragte, womit ihr zu helfen sei, und die verlangten fünf Vaterunser dann gebetet habe.“

Wen es nach Allem, was wir gesagt haben, noch gelüstet,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_285.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)