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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

abwehrend, wie ein geängstigtes Kind, und zog die Schleppe an sich, damit das Barfüßchen sie nicht streife.

Die Kleine beschrieb einen weiten Bogen um „die gnädige Frau“ und blieb in der Nähe des Freiherrn stehen. Das von Weinen dick verschwollene Gesichtchen auf die Brust gesenkt, pflückte sie an den eigenen, bebenden Fingern, als zerzupfe sie im krampfhaften Eifer eine Blume.

„Du willst nicht zu Deiner Großmutter zurück, Hannchen?“ fragte der alte Herr, seine Stimme mühsam zur Festigkeit zwingend – man sah, der Anblick des verwaisten Kindes spielte ihm furchtbar mit.

Die Kleine sprach nicht – sie hob nur die schweren Lider, um sie mit einem finstern Blick wieder zu senken.

„Nein, sie will durchaus nicht, gnädiger Herr,“ antwortete Mamsell Birkner für sie. „Die alte Frau ist mitgegangen bis an den Schillingshof und hat sie mit Gewalt fortbringen wollen, aber das hat drüben auf der Straße einen wahren Aufruhr gegeben – Fritz hat das arme Ding um keinen Preis fortschleppen lassen. Nun ist er freilich in Angst, was die Herrschaft dazu sagen wird, daß er die Kleine in’s Haus gebracht hat –“

„Es ist gut so; er kann ruhig sein,“ sagte Baron Schilling. Er bog sich zu dem kleinen Mädchen nieder. „Ist die Großmutter so böse?“ fragte er und hob ihr das Köpfchen sanft empor.

Diese weichen, guten Laute der schönen Männerstimme lösten den starren Schmerz des Kinderherzens.

„Sie ist schuld,“ stieß sie hervor. „Sie hat mit dem Vater gezankt, weil ihn der gnädige Herr fortgeschickt hat, und – wie sie ihn gebracht haben, da hat sie gescholten und die Thür vor ihm zugeschlagen – o!“

„Bleibe Du bei uns!“ unterbrach Baron Schilling das furchtbare Aufweinen, in das die Kleine bei den letzten Worten verfiel.

„Arnold, was willst Du thun?“ fuhr die Baronin empor.

„Was ich auch thue, Frau Schwiegertochter,“ fiel der Freiherr mit seiner alten Kraft in Stimme und Haltung ein. „Das Kind bleibt bei uns – es wird im Schillingshof erzogen und damit Punctum!... Birkner, wollen Sie sich der Kleinen annehmen?“

„Ach, wie gern! Mit tausend Freuden, gnädiger Herr!“

„Nun, dann ziehen Sie ihr die nassen Kleider herunter und bringen Sie das arme Ding in’s warme Bett!“

Die Wirthschafterin führte das Kind hinaus, und die Baronin erhob sich schweigend. Die lange, graue Gestalt durchschritt langsam schleppenden Ganges das Zimmer und zog sich mit leichtem Kopfneigen und einem schwach geflüsterten „Gute Nacht!“ in ihre Appartements zurück....

In der dritten Nachmittagsstunde des anderen Tages verließ ließ der geschlossene Wagen des alten Freiherrn den Schillingshof. Das große Thor des Klostergutes stand weit offen; die Stallmagd hantierte da mit dem Besen, und das Hausmädchen wollte eben, den Marktkorb am Arm, heraus auf die Straße treten, als der Wagen vorüberfuhr. Felix bog den Kopf weit vor, und sein schmerzvoller Blick überflog suchend den Klosterhof.

Die Mägde stießen sich kichernd an.

„Da fahren sie hin,“ sagte die Hausmagd – sie hielt den Kopf steif und blinzelte mit den Augen nach rückwärts. „Die Frau steht hinter uns, drüben am Fenster; sie muß den jungen Herrn gesehen haben. Das wird sie freilich wurmen – so schlecht ist sie doch noch nicht angekommen mit ihrem Starrkopf, die stolze Frau Majorin; sie denkt immer, es könnte ihr gar nicht fehlen. Es geht ihr aber schrecklich nahe, Christel, wenn sie auch keine Miene verzieht. Sie ist gestern Abend, bis in die späte Nacht ’nein, von einem Fenster zum anderen gelaufen, weil sie immer noch gedacht hat, der junge Herr müßte wiederkommen ohne seinen Schatz – in’s Bett ist sie auch nicht gegangen, ich fand es heute früh noch so, wie ich’s gestern zurecht gemacht hatte.“

Am Bogenfenster in der Amtsstube stand währenddem die Majorin. Sie hielt den Fenstergriff umklammert und starrte hinaus durch den Thorbogen, wo eben noch einmal das tieferblaßte Gesicht des scheidenden Sohnes aufgetaucht war. Kein Seufzer hob ihre Brust – sie verharrte auf dem Platze wie eine Bildsäule. Da trat der Rath hinter sie.

„Er ist Dir für immer verloren, Therese – der elende Bursche geht zu seinem leichtsinnigen Vater,“ sagte er kalt.

Sie fuhr herum, als habe er ihr einen Dolch in das Fleisch gestoßen, aber sie fragte nicht. „Woher weißt Du das?“ – Sie warf ihm nur einen wilden Blick zu, biß die Zähne wie im Krampfe zusammen und ging hinaus. –




10.

Man schrieb das Jahr 1868. In dem Zeitraum von acht Jahren hatten sich gewaltige Ereignisse in zwei Welttheilen abgespielt; es war viel Blut geflossen in Schleswig-Holstein und Böhmen, und auf dem Boden der Vereinigten Staaten hatte der große Secessionskrieg, in welchem der Racenhaß und der langjährige Widerstreit zwischen Ackerbau- und Pflanzerstaaten endlich zum Austrag kamen, in vier Jahre langer Wuth und Erbitterung getobt.

Diese acht Jahre waren verhängnißvoll gewesen für Millionen von Menschenseelen, auch für das Geschick des Verstoßenen, der an einem schönen Junitage das deutsche Vaterland verlassen, um mit seinem Mädchen über das Meer, zu dem wiedergefundenen Vater zu flüchten – verhängnißvoll auch für den Schillingshof, in welchem der Senior des Hauses, der alte Freiherr Krafft, nach einem abermaligen Schlaganfall die lustigen, feurigblickenden Augen für immer geschlossen hatte; in Folge dessen stand das herrliche alte Säulenhaus oft verwaist und verlassen – scheinbar unberührt aber war das Klostergut geblieben; der Wechsel war an ihm vorbei geschritten, als läge es ihm zu weit abseits vom Wege.

Nach wie vor, pünktlich um dieselbe Abendstunde, rasselte das Seitenpförtchen in der Straßenmauer, und die Leute kamen, um die gute, unverfälschte „Klostermilch“ zu holen. Im Hofe hantierten dieselben Knechte und Tagelöhner und fuhren mit Egge, Pflug und Aexten hinaus in das weite Wolfram’sche Acker- und Waldgebiet, und durch das große Thor schwankten die Erntewagen, die Holzfuhren zurück – Alles nach jahrhundertaltem Brauch und abhold jeder Veränderung. Und in das Hühnervolk, in die Taubenschwärme durften sich keine fremden Arten mischen; es waren immer dieselben Formen und Farben im Hofe und auf den Dächern des Klostergutes – unveränderlich, meinten die umwohnenden Leute, wie die alte, mißfarbene Joppe des Herrn Rathes, wie die stolze Haltung und das verschlossene, kalte Gesicht der Frau Majorin. Aber sie mußten doch zugeben, daß die Gestalt mit dem steifgetragenen Haupt an den Schultern spitz geworden war, daß die braune Flechte auf dem Scheitel ein starker Silberschein überspielte und die ganze Frauenerscheinung an Energie und Raschheit der Bewegungen bedeutend verloren hatte.

Wenn etwas an der altüberlieferten Physiognomie des Klostergutes störend befremdete, so war es der wilde Junge, der oft plötzlich die rasselnde, kleine Pforte aufriß und herausspringend die Spaziergänger erschreckte. Er stand auch wohl im offenen Hofthor, schlug mit der Peitsche nach den vorübergehenden Kindern, zupfte die promenirenden Damen an den Kleidern, trat auf ihre Schleppen und machte ihnen lange Nasen nach. Und wenn er in den Hof zurücklief, dann rannte ganz gewiß das geängstigte Federvieh schreiend in alle Ecken, der grimme Kettenhund schlich mit eingeklemmtem Schwanze nach seiner Hütte, und selbst die grobe Stallmagd wich scheu zur Seite, denn vor der stets vibrirenden Peitschenschmitze oder dem Knüppel in der Hand des Mosje Veit war nichts sicher.

Für den Spätling des Wolfram’schen Geschlechts war von dem gesunden Mark, der robusten Körperkraft der Ackerbau treibenden Vorfahren nicht viel verblieben – er hatte ein reizbares Nervensystem und neigte zu Krämpfen. Bis zum elften Monat war er im Wickelkissen getragen worden, und dann hatte es der kostspieligsten Stärkungsmittel bedurft, um ihn auf die dürren Spinnenbeinchen zu bringen. Unglaublich dünn und mager war dieses Piedestal auch heute noch; das braune, kleine Gesicht zwischen den abstehenden Ohren hatte sich nicht gerundet, und der unheimliche Haarbusch, der, wie bei dem Rath, als Schneppe hartlinig und tief in die Stirn hineinschnitt, umstarrte noch ebenso borstig den schmalen Kopf.

Aber Veit war ein hochaufgeschossener Junge geworden – er war seinen Jahren voraus an Körperlänge und Gliedergeschmeidigkeit. Er kletterte affenartig an den Weinspalieren der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_332.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)