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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Puh, dort steht er schon wieder am Zaun, der Samiel, das nichtswürdige Onkelexemplar, das damals so impertinent aus seiner Stubenthür herüberlachte,“ raunte sie. „Der Zaun ist hoch; man sieht kaum die Habichtsnase und den borstigen Haarschopf auf der Stirn, aber ich habe wahre Falkenaugen und ein gutes Gedächtniß; das Gesicht steht in meiner Seele, als sei es hineinphotographirt – ich habe ihn auf den ersten Blick wiedererkannt. Denken Sie an mich, Baron – der alte Fuchs hat Lunte gerochen; er guckt mir viel zu viel über den Zaun. Da – weg ist er! So verschwindet er immer, wenn man fest hinübersieht.“

Donna Mercedes hatte sich in dem Salon mit den holzgeschnitzten Wänden wohnlich eingerichtet. Nahe dem einen Fenster, die Wand entlang, die an das Klosterhaus stieß, stand der prächtige Steinway-Flügel, den sie mitgebracht, und in der andern Fensternische hatte sie einen großen Schreibtisch placirt. Er war mit elegantem Schreibgeräth, Bücherstößen und verschiedenen Schatullen voll besetzt.

Von einem der unteren Regale, aus einer dunklen Ecke, nahm die junge Dame ein Rococokästchen von Edelmetall in köstlich getriebener Arbeit; sie schloß es auf und breitete seinen Inhalt, verschiedene Papiere, auf die Tischplatte.

„Hier sind sämmtliche Papiere,“ die Felix aus Deutschland mitgebracht hat,“ sagte sie, „und hier das Schriftstück, das seine Trauung mit Lucile in Columbia bezeugt; das sind die Taufscheine seiner Kinder – diese drei Documente“ – unterbrach sie sich – „würden nicht wieder zu erlangen sein, wenn sie verloren gingen, denn die Kirchenbücher in Columbia sind mit verbrannt. Das ist –“

„Der Todtenschein des armen Felix,“ ergänzte Baron Schilling mit fallender Stimme, da sie verstummte. Aber auch er schwieg plötzlich und sah sich um. „Ah! spuken die Mäuse auch am hellen Tage?“ rief er, noch auf das Knirschen horchend, das bereits verhallt war.

„Ja – die Mäuse!“ wiederholte Lucile gedehnt und ausdrucksvoll spöttisch und machte sich schleunigst aus dem Staube.




16.

Inzwischen hatte José den allzu dienstfertigen Pirat scheltend in seinen Schlafraum, eine Kammer hinter dem Atelier, eingeschlossen. Er war dann seines verschüchterten Kaninchens unter Thränen und Mühen wieder habhaft geworden und trug es nun auf dem Arme, athemlos vor gespannter Beobachtung, denn das Thierchen fraß ihm zutraulich die Grashalme aus der Hand.

Der Kleine, über dessen blonden Scheitel noch vor Wochen die tropische Sonne geleuchtet hatte, spielte wie ein echtes Germanenkind am liebsten unter den Teichlinden. Er liebte das bienendurchsummte Wipfeldach, den kleinen Wasserspiegel mit seinen glitzernden Furchen, welche die mückenhaschenden Karpfen zogen, den ihn umschließenden Rasenring, auf den die Enten watschelnd und schnatternd heraufstiegen, um segelmüde den metallisch schillernden Leib in das weiche Gras zu ducken. Und in diesen feuchtkühlen, lockenden Schatten trug er auch jetzt seinen kleinen Spielcameraden, nachdem er den sonnenheißen Garten kreuz und quer durchwandert. Er setzte das Thierchen behutsam in das Gras und kauerte sich daneben. Mit sanften Händen streichelte er das seidenweiche Fell: er sah entzückt in die seltsamen rothglühenden Augen und beobachtete aufmerksam das Spiel der Ohren, bis ihn plötzlich ein kreischendes Lachen aufscheuchte.

Drüben im Klostergarten, auf einem dicht am Zaun stehenden hohen Birnbaum saß Mosje Veit. Er schlenkerte die langen Beine in der Luft, und die weißen Zahnreihen des weiten, lachenden Mundes blinkten wie die eines kleinen Raubthieres.

„Ach, der dumme Kerl! Der Einfaltspinsel! Er denkt wunder was er hat! ’S ist ja ein ganz gewöhnliches Karnickel; weißt Du denn das nicht?“ schrie er herüber.

„Ein Karnickel?“ wiederholte das verblüffte Kind, das neue Wort mit fremdartigem Accent betonend, und sah zweifelhaft bald das Kaninchen, bald den fremden Knaben an, den es noch nie gesehen und der sich hoch oben auf dem weit hinausragenden Ast so sicher geberdete, als säße er auf einem Stuhl. Und jetzt lief dieser wunderbare Junge mit affenartiger Geschwindigkeit auf allen Vieren den Ast entlang und glitt am Stamme nieder. Einen Augenblick war er vollständig verschwunden; man hörte nur ein Rauschen und Knicken im Gezweig; dann kam der haarstarrende Knabenkopf unten durch den Zaun, und gleich darauf stand Veit auf seinen dünnen Beinen und lief nach dem Teich.

Sein Erscheinen hatte auch hier dieselbe Wirkung wie im Klosterhof – das Kaninchen flüchtete in die Boscage, und einige Enten, die behaglich im Grase gelegen, fuhren schnatternd empor und stürzten sich kopfüber in das Wasser.

„Laß es doch laufen, Du dummer Junge!“ rief er und vertrat José, der das kleine Thier wieder einzufangen suchte, den Weg. Und der Kleine blieb gehorsam stehen und sah in scheuer Bewunderung zu dem kecken Burschen empor, der, vielleicht nur um ein Jahr älter als er, ihn fast um Kopfeslänge überragte.

José hatte bis dahin nie einen Spielgefährten gehabt, und nun stand da plötzlich einer vor ihm, der wundervoll klettern konnte, der mir nichts dir nichts durch stachlige Zäune kroch und die imponirende Thatsache wußte, daß das Kaninchen eigentlich nur ein Karnickel sei.

„Die kennen mich,“ sagte Veit, nach den fliehenden Enten zeigend. „Paß auf, wenn ich ihnen Eines auf den Pelz brenne!“ Und mit behender Geschicklichkeit warf er Kiesel um Kiesel hinüber und machte die erschrockenen Thiere der Reihe nach untertauchen. Sie peitschten mit ihren Flügeln das hochaufspritzende Wasser und schrieen mit vorgestreckten Hälsen um die Wette, und dazwischen lachte Veit wie toll und patschte sich vor Wonne mit seinen dürren, sonnenverbrannten Händen die Kniee.

Der kleine José verwandte kein Auge von ihm. Der frechkluge Blick der tiefliegenden, schmalgeschlitzten Funkelangen, die Sicherheit und Gewandtheit in jeder Bewegung dieses langen Jungen, seine rohen Manieren, die er den Knechten des Klostergutes abgelernt, übten eine dämonisch anziehende Wirkung auf das Kind.

„So, die haben genug für heute!“ sagte Veit und ließ mit einem leisen Pfiff den letzten Stein über das Wasser sausen. „Jetzt kömmst Du mit! Ich will Dir meine Lapins zeigen. Da wirst Du gucken. Die sind freilich anders, als Dein schauderhaftes Stallkarnickel.“

José sah scheu nach der Stelle im Zaun, aus welcher Veit gekommen war. Undurchdringliches Blattwerk breitete sich dort aus – man bemerkte nicht die kleinste Lücke. „Ich kann nicht durch,“ meinte er verzagt.

„Dummes Zeug! Kann ich doch durchkriechen. Ich habe mir das Loch selbst durch den Zaun gemacht und bin alle Tage drüben in Eurem Garten – Ihr wißt’s nur nicht.... Komm’ nur mit – es geht ganz gut.“

Er sprang hinüber, schob die Blätter aus einander und war im nächsten Augenblick verschwunden. Und José kroch ihm nach. Sein kleines Herz pochte heftig in einem Gemisch von Angst und geheimnißvoller Wonne; die Dornen zerrten schmerzhaft an seinen Locken und für das blaue Cachemirhöschen war die stachlige Passage sehr bedenklich, aber es ging tapfer weiter in dem grünen Tunnel, der schräg durch den Zaun lief und drüben vor einem Zwiebelbeet mündete.

Das war nun eine ganz andere Welt, jenseits des struppigen Zaunes. Da gab es keine schlängelnden Kieswege, keinen Teich, keine Allee mit eleganten, gußeisernen Möbeln. Wie lange, geradlinige Dominosteine reihten sich die Gemüsebeete an einander, nur einmal von dem schmalen, mit Buchsbaum eingefaßten Mittelweg durchschnitten. – Für herumtollende Kinderfüße gab es hier keinen Platz, selbst auf dem Stücke Grasboden nicht, das sich weit hinten nach der Straßenmauer zu an die Beetreihen anschloß, dort breiteten sich, festgepflöckt, lange, lange Streifen bleichender Leinewand hin, ein Laufbrunnen rauschte und um seinen Steintrog stand ein ganzes Regiment Gießkannen. Das sah Alles so ernsthaft aus – drum kroch Mosje Veit immer durch den Zaun. Es war nur Etwas da für Kinderaugen – die schönen Beerensträucher hinter den Buchsbaumguirlanden des Hauptweges. Die grünen, dickköpfigen Früchte der Stachelbeere zogen schwer die Zweige zu Boden, und die schaukelnden Johannisbeertrauben nahmen schon Farbe an und leuchteten schön hellroth in der Sonne.

Veit hob seine Reitpeitsche auf, die er vorhin unter dem Birnbaume zurückgelassen, und hieb im Vorüberlaufen so derb in die Sträucher, daß ein förmlicher Blätter- und Beerenregen zwischen die Selleriestauden und Salatköpfe niederfiel „Man kann sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_411.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)