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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Parlament zur Beruhigung der Gewissen ein Gesetz, welches die Ausübung der Vivisection unter die besondere Aufsicht des Ministeriums des Innern stellte, ähnlich der, wie sie in allen continentalen Instituten seit lange geübt wird.

Nachdem hierdurch allen berechtigten Anfordernden der Thierfreunde an die ärztliche Wissenschaft genügt war, stand zu erwarten, daß sich von nun an die Agitation gegen die Vivisection beruhigen werde; statt dessen gewann sie einen erhöhten Aufschwung. In heftigen Worten erklärten die Gegner der Vivisection, der Staat habe seine wahre Aufgabe verkannt, nicht zu überwachen, sondern auszurotten sei der Gebrauch der Thiere zur Vivisection, und was die Gesetzgebung versäumt, das müsse auf dem Wege der Selbsthülfe erreicht werden. Zu diesem Ende gründete die Partei einen Verein, dessen weit ausschauende Aufgabe sich schon durch seinen Namen „Internationale Association zur totalen Unterdrückung der Vivisection“ ankündigte. Da an seiner Spitze Bischöfe und Lords, Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft standen, welche über Reichthum und Einfluß geboten, so gebrach es der Assoziation nicht an dienstfertigen Kräften; zahlreiche Flugblätter, voll von falschen Anklagen gegen die Fruchtlosigkeit der grausamen Experimente mit Thieren, voll von Angriffen gegen die Gelehrten, welche dieselben ausüben, wurden im Volke verbreitet; an allen Ankündigungstafeln, in den Coupés der Eisenbahnen erschienen die jüngst auch bei uns herumgebotenen Bilder; anatomische Präparationen, wie sie nur an der Leiche ausführbar sind, werden zu Ergebnissen der Vivisection gestempelt, und um die zerfleischten Thiere sind Professoren und Studenten, junge und alte Galgengesichter, gestellt, welche sich an der Qual ihrer Opfer weiden. Nicht genug damit, auch in den Kirchen wurden die Gemüther des Volkes erhitzt, von vielen Kanzeln Englands herab ertönten Verwünschungen gegen die Wissenschaft und ihre Vertreter. Man drohte den Lehranstalten und Hospitälern mit der Entziehung der bisher gewährten Unterstützung, wenn sich die an ihnen beschäftigten Professoren und Aerzte der Vivisection nicht enthielten, und bei der Abhängigkeit, in der sich die Krankenhäuser und die mit ihnen verbundenen Facultäten der Medizin von der Unterstützung durch milde Gaben befinden, mußte die Wissenschaft der hülfsbedürftigen Armuth das Opfer bringen.

Damit war für England das vorgebliche Ziel der Association erreicht; wäre das Mitleid mit dem Thiere die Ursache der Anstrengung gewesen, so wäre nur etwa noch die Agitation im Auslande ihr als Ziel verblieben. Was kann noch immer die Gegner der Vivisection veranlassen, in Flugblättern und Annoncen gegen die einzeln namhaft gemachten Professoren der Physiologie, welche seit Jahren keine Vivisection geübt, den Haß und die Verachtung der Menge zu erwecken? Wenn es von vornherein befremdlich war, daß aus den Schichten derjenigen Gesellschaft, welche rücksichtslos nach den Genüssen dieser Welt jagt, welche sich durch die raffinirteste Pflege des Sports, der Hetzjagden und des grausamen Fischangelns auszeichnet, solch ein Angriff auf den Stand hervorging, der selbstlos gegen das Elend kämpft, so wurde jetzt offenbar, daß die Vivisection nur den Vorwand abgegeben. Nicht aus dem Bedürfnisse des Herzens, sondern aus dem Schooße der Hierarchie erhob sich der Sturm. Wie voreinst die Päpste in Copernicus und seinem Jünger Galilei die Zerstörer des traditionellen Himmels gefürchtet, so wähnt jetzt die englische Geistlichkeit, die Physiologie könne ihr die Seelen entfremden.

Vor einer Wissenschaft, welche die Brücke zwischen Physik und Philosophie schlägt, welche die Sinne, jene Außenwerke des Geistes, erfolgreich in den Kreis ihrer Forschung gezogen, wird mancher Begriff verschwinden, der einer blinden Wortgläubigkeit für den Kern der Religion gilt, aber niemals wird eine Religion, die in Wahrheit diesen Namen verdient, durch die Einsicht in den natürlichen Verlauf der Dinge verkümmert. In der freien Bewegung der Geister, welche sich seit den Tagen der Reformation in Deutschland entfaltete, ist es längst erwiesen, daß zwischen dem Glauben an eine sittliche Ordnung der Welt und der genannten Erkenntniß der irdischen Dinge kein feindlicher Gegensatz herrscht. Jene englische Agitation ist ein neues trauriges Zeugniß, wie hartnäckig sich die Feinde der freien Forschung dieser Wahrheit verschließen.

So viel über die Motive der englischen Agitation gegen die „Vivisection“!

Indem wir uns nun zu dem Wesen der letzteren selbst wenden, bemerken wir zunächst, daß von vornherein das unpassende Wort „Vivisection“, mit welchem man eine wissenschaftliche Operation belegte, die Schuld daran tragen dürfte, daß jeder Uneingeweihte zu der Meinung kam, der Versuch am lebenden Thier gleiche der anatomischen Section, welche in ungemessenen Schnitten Höhle um Höhle, Glied um Glied der Leiche zerlegt. Keine Annahme ist irriger als diese; mit ganz anderen Empfindungen, als an die gefühllosen Cadaver, tritt der Forscher an das lebende Thier, dessen Leiden er weit mehr als jeder Andere zu würdigen versteht; nach sorgfältigem Erwägen dessen, was nothwendig und was überflüssig ist, und getragen von der genauesten Kenntniß des anatomischen Baues, beschränkt er die Verletzung auf das unumgängliche Maß; mit Vorsicht umgeht er die empfindlichen Theile des Körpers, und so oft es nur irgend thunlich, hat er vor seiner Operation das Thier durch Narcotica betäubt. Zu dieser durch menschliches Empfinden gebotenen Vorsicht gesellen sich die Forderungen der Wissenschaft, da für diese der Versuch einen um so größeren Werth gewinnt, je mehr sich der Zustand des Geschöpfes, an welchem eine Vivisection geübt wird, der vollen Gesundheit nähert. In unserer Kunst – denn als eine solche ist sie zu bezeichnen – gilt es als ein Fortschritt, wenn es gelingt, das Maß der Verletzung zu verringern, und als ein Triumph, wenn man zur Aufklärung der geheimnißvollen Vorgänge des Lebens an die Stelle der Vivisection ein Verfahren zu setzen vermag, das sie entbehrlich macht.

Daß dieses Letztere in reichlichem Umfange geschieht, daß die Wissenschaft unserer Tage sehr oft das lebende Thier umgeht, wo es früher unentbehrlich erschien, weiß jeder Fachmann. Das Mikroskop, die organische Chemie, die Fortschritte der Physik bieten so vielfache Hülfe, es hat die Kunst, die herausgenommenen Organe des getödteten Thieres durch künstliche Mittel zu beleben, so große Fortschritte gemacht, daß gegenwärtig die Vivisection einen, wenn auch unentbehrlichen, aber doch nur geringen Theil der Verfahrungsarten ausmacht, durch welche die Einsicht in das Leben und seine Bedingungen gewonnen wird.

Daß die Physiologie und die experimentelle Pathologie von einem einseitigen Gebrauche der Vivisection weit entfernt sind, davon überzeugt den unseren Wissenschaften ferner Stehenden schon die Vergleichung der Verzeichnisse der akademischen Vorlesungen von heute mit denen von vor dreißig Jahren. Wie dürftig nimmt sich das Ehemals gegen das Jetzt aus! Und derselbe wissenschaftliche Streit, welcher den Gegnern der Physiologie zum Beweise dienen soll, daß ihre einzige Frucht in nutzlosem Gezänke bestehe, sollte vielmehr als Zeugniß angesehen werden, um wie viel mehr die Vertreter dieser Wissenschaft sich vom rohen Drauf- und Dreinexperimentiren entfernt haben und wie lebhaft sie bemüht sind, aus dem unumgänglichen Experiment den möglichsten wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen.

Daß in der That aus der Vivisection reichlicher wissenschaftlicher Nutzen geflossen und daß derselbe in eminentem Grade der Menschheit zugleich praktisch zu Gute gekommen ist, dies zu erweisen ist leicht genug. Ja, wollte man alle die Dienste aufzählen, welche der Versuch am lebenden Thier der Heilkunde geleistet, so würde man eine Geschichte der medizinischen Wissenschaft zu verfassen haben, denn es ist in dieser kein Fortschritt geschehen, an dem die Vivisection nicht mehr oder weniger betheiligt gewesen; statt dessen mag es hier genügen, in kurzen Umrissen einige ihrer großen Hülfsleistungen für die Heilung des kranken und das Gedeihen des gesunden Menschen anzuführen.

1) Ohne die Vivisection wäre es niemals gelungen, von dem Blutstrom und den Kräften, die ihn treiben, eine Kenntniß zu erlangen, wie sie zur Beherrschung derselben dem Arzte nothwendig ist. Was dieser Erwerb für die leidende Menschheit bedeutet, geht daraus hervor, daß erst er die sichere und schmerzlose Stillung großer Blutung ermöglicht hat; denn vor seiner Entdeckung konnte nur durch ein glühendes Eisen, das in die Wunde gesenkt wurde, die Blutung aus den Schlagadern gestillt werden. Welche Schmerzen hatte der zu überstehen, der auf diese Weise von dem sicheren Tode gerettet wurde, und wie Viele mußten ohne Rettung auf dem Schlachtfelde oder nach plötzlichen Verwundungen verbluten! Wie Wenigen auch, denen nur eine größere chirurgische Operation Heilung zu bringen vermochte, konnte die ersehnte Hülfe zu Theil werden!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_418.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)