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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

kleinen Thale gegangen; Mosje Veit schwitzte in der Wohnstube unter der Zucht seines strengen Privatlehrers, der keinen Spaß verstand, und die Mägde, die in der Küche aufwuschen, steckten lachend die Köpfe zusammen; denn dort ging die Frau Majorin richtig wieder über den Hof nach dem Garten, wie immer, wenn der Herr nicht zu Hause war.... Sie hatte nicht einmal ihren Kaffee getrunken, der noch auf dem Präsentirteller in der Küche stand und kalt wurde. Es war überhaupt in den letzten Tagen, als habe sie Essen und Trinken nahezu verlernt, und das sah man ihr auch an – die Backenknochen standen ihr scharf aus dem weißen Gesicht, und die Kleider saßen gar nicht mehr so hübsch knapp wie sonst; sie schlotterten recht auffällig um die Schultern.... Und die Leute meinten, wenn sie auch nicht spreche und ordentlich die Zähne zusammenbeiße, damit ja kein Wörtchen durchschlüpfe, sie ärgere und gräme sich doch im Stillen furchtbar über das viele Geld, welches das Unheil in den Gruben kosten würde, denn – sie hätte ja sonst keine Wolfram sein müssen.

Nun ging sie langsam zwischen den Buchsbaumrabatten auf und ab. Ihre schlanken, weißen Finger pflückten mechanisch am Schürzenband, und die Augen hingen tiefgesenkt am Boden. Sie, die sonst mit scharfem Blick nach jeder abgefallenen Obstfrucht suchte, sie bemerkte nicht, daß ihr Fuß an den ersten reifen Rosenapfel stieß, daß die goldgelben Frühbirnen wie herabgeregnet im Grase und zwischen den Kohlrabi- und Salatköpfen verstreut lagen und ganze Schaaren von Wespen herbeilockten; ihre Aufmerksamkeit schien sich im Ohr zu concentriren. Bei jedem Geräusch, das von fernher über den Zaun kam – ob sich die Enten klatschend in den Teich stürzten, oder ein Menschenfuß auf dem kreischenden Kies eines nahen Weges eilfertig hinging – zuckte sie zusammen und hemmte aufhorchend den Schritt.

Die Gießkannen brauchten heute nicht allzu fleißig in Bewegung gesetzt zu werden, denn der Himmel war vom frühen Morgen an bedeckt gewesen. Aber die Wolkenschicht, die keinen heißen Sonnenstrahl hindurchließ, war von einem festen, gleichmäßigen Grau und wölbte sich hoch wie eine granitene, kühle Domkuppel. Die Vögel schossen jubilirend droben hin, und eine köstlich erquickende, balsamische Luft wehte, ein wahrer Genesungsodem für Kranke.

Die Majorin verließ plötzlich den geradlinigen Hauptweg, und auf die Gartenbank am Zaun tretend, schlug sie die rauschenden Syringen- und Haselzweige aus einander.

Ein schwaches Rädergeräusch kam von der Platanenallee her. Jack, der Neger, schob einen eleganten Kinderfahrstuhl langsam über die Kiesbahn – der hellblaue Seidenschimmer der Auspolsterung und einer übergebreiteten Decke leuchtete herüber, und so bedeutend auch die Entfernung war, die Frau am Zaun sah doch ein blondes Köpfchen auf dem Polster liegen – fast wäre sie von der Bank gestürzt; solch ein jäher Schreck durchfuhr sie.

Das kleine Gefährt rollte noch einige Mal auf und ab; dann kam es nicht mehr zurück; es mochte droben beim Atelier Halt machen. Die Majorin stieg von der Bank herab und ging auf dem schmalen Wege am Zaun hin. Sie machte dann und wann einen Versuch, das Gezweig in der Höhe ihres Gesichts aus einander zu drängen; allein die seit langen Jahren geflissentlich gehegte und gepflegte Wildniß wies sie unerbittlich mit Dornen und Stacheln zurück. Und die einzige Bank des Gartens war nicht transportabel; ihre steinernen Träger fußten tief in der Erde, aber dort an der Mauer, die den tiefsten Theil des Gartengrundstücks, den großen mit Obstbäumen bestandenen Grasfleck von der Straße abschloß, lagen unter vorspringender Bretterverdachung die Leitern, welche im Herbste beim Obstbrechen benutzt wurden. Sie lehnte eine der Leitern an die Mauer und stieg so weit hinauf, daß sie gerade den Kopf über den seitwärts liegenden Zaun heben konnte.

Es war nur ein Wunsch, der sie beherrschte, der ihr Blut stürmisch kreisen machte – der Wunsch, so nahe wie möglich in das kleine, blasse Kindergesicht zu sehen und sich zu überzeugen, ob der Tod wirklich seine drohende Hand von demselben zurückgezogen habe.

Sie sah in das Fichtenwäldchen hinein, und dort stand, kaum fünfzehn Schritte entfernt, der Fahrstuhl zwischen den Stämmen. José’s Gesicht war ihr zugewendet. Noch lehnte der kleine Kopf müde an dem blauen Polster, und das vorquellende goldglänzende Gelock hing um ein abgezehrtes Oval, aber der lebhafte Blick und das schöne Roth des kleinen Kirschenmundes bezeugten unwiderleglich, daß der Lebensstrom in dem schwer angefochtenen Kindeskörper lebhaft rinne.

Außer Jack war Niemand bei dem Knaben. Der Schwarze watete im Wiesengras und pflückte die Stengel des Löwenzahnes, welche die Händchen des kleinen Reconvalescenten auf der Decke zu einer großen Kette verarbeiteten. Man sah, wie sich die Brust des Kindes in tiefen Athemzügen hob und die freie, von kräftigem Fichtenduft durchtränkte Luft gierig einsog. Auch ein stilles Lächeln der Freude ging über das Gesichtchen.

„Geh, Jack, sei gut – lasse Pirat heraus zu mir!“ sagte der Knabe, denn vom Atelier her erscholl Hundegewinsel.

„Nein, Kind, noch nicht! Doctor hat’s verboten!“ rief der Schwarze von der Wiese herüber. „Pirat ist wild, regt Dich auf. Heute nicht – morgen! Will nachher gleich hingehen und ihn zur Ruhe bringen.“ Damit stampfte er immer tiefer in das Gras und machte Jagd auf die gelben Blumen und die dicken Federbälle, die unter seiner Berührung aus einander stäubten.

Die Augen der Majorin glühten plötzlich auf, und so voller Hast, als habe es ihr eine dämonische Gewalt angethan, die sie vorwärts treibe, verließ sie die Leiter und ging in das Haus. Den Hof betrat sie nicht; sie nahm den Weg durch die Hintergebäude, den der kleine José neulich gegangen war – über die dunklen Böden hinweg kam sie ungesehen in das Giebelzimmer. Fast wie ein Dieb, der sich auf fremdes Gebiet schleicht, bemühte sich diese Frau mit dem sonst so majestätisch festen Gang, geräuschlos in ihr eigenes Zimmer zu treten.

Sie schloß den Wandschrank auf, der ihr reiches Silbergeräth enthielt. In der einen tiefen Ecke des Schrankes hatte einst auch das verhaßte Pathengeschenk mit dem eingravirten Namen Lucian, den Augen der Welt möglichst entrückt, gelegen. Die Majorin nahm einen kleinen, schwervergoldeten Silberbecher von herrlicher Form und Arbeit heraus. Das war auch ein Pathengeschenk, das einst ein reicher Freund des Hauses der kleinen Therese Wolfram in das Taufzeug gesteckt hatte. Hastig fuhr sie noch einmal mit dem Staubtuch über das goldfunkelnde Innere des Bechers; dann ließ sie ihn in die Tasche gleiten und ging auf demselben Wege, den sie gekommen, in den Garten zurück.

Ein Blick über den Zaun überzeugte sie, daß der Neger zu dem Hund gegangen sei, um ihn zu beruhigen. Mit bebenden Fingern zog sie einen Schlüssel aus dem klirrenden Bund, der an ihrem Gürtel hing, riß die Küchenschürze ab, um sie hinter den nächsten Busch zu werfen, und schloß die kleine Mauerthür auf, die hinaus auf die Straße führte.

Das alte Brettergefüge ächzte und kreischte in den Angeln – die Majorin fuhr zurück und biß die Zähne auf einander. Vor langen Jahren hatte diese Thür auch so feindselig gemurrt, als gehöre sie auch zu Denen auf Wolfram’schem Gebiet, die es so ungern sahen, daß die schöne Tochter des Hauses, das bräutliche Mädchen im weißen Kleide, da hinausschlüpfte, um drüben im Schillingsgarten dem schlanken Soldaten in die Arme zu eilen. Ja, weiß wie eine Taube war sie immer hinüber geflattert – er hatte das so sehr geliebt.

Die Majorin hatte den Fuß unwillkürlich zurückgezogen: aber nur für einen Moment – dann trat sie entschlossen hinaus, und die Thür fiel hinter ihr zu.

Die an sich schon öde Straße, mit den verlorenen Häusern zwischen langen Gartenmauern, war in diesem Augenblick völlig menschenleer. Es bedurfte auch nur weniger Schritte, um die Thür des nachbarlichen Gartens zu erreichen. Sie wurde tagsüber nie verschlossen – der Farbenreiber, die Modells und auch die Dienerschaft gingen meist da aus und ein. Die Majorin wußte das – sie klinkte die Thür auf und trat ein.

Das grüne Dämmerlicht unter den uralten, langbärtigen Fichten hauchte sie an wie ein Traum, der längst versunkene Zeiten auferstehen läßt, und im ersten Augenblick war es ihr, als müßten jenseits der Walddämmerung goldene Epauletten im hellen Tagesschein aufblitzen. Die großen, dunklen Augen der Majorin blickten umflort, bis sie auf die blaue Seidendecke fielen, die zwischen den Fichtenstämmen hervorleuchtete. Dort glänzte es ja auch golden – das Knabenköpfchen, das sich bei dem Thürgeräusch emporrichtete.

Der kleine José sah erstaunt, aber nicht erschrocken zu der Frau empor, die mit wenigen Schritten neben ihm stand – die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_547.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)