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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

feiges Erschrecken, das sie bei seinem Anblick sofort den Fuß wenden machte; es war eine unbezwingliche Scheu vor seiner Stimme, seinem Blicke und Furcht vor sich selber, daß sie einmal seinem geschlossenes Wesen gegenüber die Selbstbeherrschung verlieren und eine abermalige Niederlage erleiden könne.

In die Nähe des Säulenhauses kam er nicht. Er verließ den Schillingshof – auch zu Pferde – stets durch die Mauerthür. Er hielt Wort – Fräulein von Riedt weilte ja nach wie vor als Besuch in der Bel-Etage; sie hielt die Zügel des Hauswesens und pflegte die Baronin, denn die war krank. Oft mehrmals tagüber rannten Boten nach dem Arzt. Er kam meist mit unwilligem Gesicht und nichts weniger als beschleunigten Schrittes – dann hörte man durch die offenen Fenster seine ernst mahnende, strenge Stimme gegen das gellende Aufschreien der Kranken ankämpfen. Manchmal mochte ihm auch die Vermittlerrolle aufgedrängt werden; denn er ging nach dem Atelier, kehrte aber stets ohne Baron Schilling’s Begleitung zurück – zum heimlichen Gaudium der Domestiken, die ja seit Jahren wußten, was für eine Bewandtniß es mit den Krampfanfällen der Gnädigen hatte.

Inzwischen – und zwar am Tage nach Baron Schilling’s Zurückkunft – war auch ein Brief von Lucile an Donna Mercedes eingelaufen, ein Brief voller Schmähungen und Impertinenzen, in welchem sie kurz und bündig abermals die sofortige Herausgabe ihrer kleinen Tochter verlangte. Die Antwort erfolgte umgehend und betonte ebenso fest und entschieden, daß das Kind in den Händen Derer verbleibe, die zu seinem Schutze berufen seien – man werde es auf einen Proceß ankommen lassen.

Das reizende, kleine Geschöpf, um dessen Persönchen ein heftiger Kampf zu entbrennen drohte, tummelte sich indessen harmlos und fröhlich in Haus und Garten. Paula fragte wohl manchmal nach „Mama“, aber die gleichmäßige zärtliche Liebe und Fürsorge, die sie umgaben, ließen keine Sehnsucht aufkommen nach der kleinen Frau, die ihre Kinder oft mit stürmischen Liebkosungen fast erstickt hatte, um sie gleich darauf in übler Laune um irgend einer Geringfügigkeit willen erbost auszuschelten.

Die schwarze Deborah wich Tag und Nacht nicht von ihrem „Goldkind“. So saß sie auch heute strickend auf ihrem schattigen Lieblingsplatz unter den Fichten, während Paula einen Puppenwagen über die sich kreuzenden Wiesenwege schob, die Deborah von ihrem Sitz aus vollkommen übersehen konnte.

Es war ein schöner, stiller Morgen. Pirat, der sonst immer, zum Verdruß der Schwarzen, fast ohne Unterbrechung bellte, war in das Säulenhaus zu José gebracht worden; im Atelier rührte und regte sich nichts. Baron Schilling war ausgeritten; es schwebte eine fast feierliche Ruhe über dem Garten; man hörte jeden fernen Vogelschrei, das Piepen und Gezwitscher in den zahllosen Nestern der Boscage, den flüsternden Hauch des Morgenwindes, der die langen Bärte der Fichten leise schaukelte. Manchmal wurden auch Menschentritte jenseits der Mauer laut, oder ein Wagen rollte schwerbeladen langsam und kreischend durch die öde Straße draußen. Einmal war es auch, als halte ein leichtes, rasch dahergekommenes Gefährt vor der Thür; Deborah hörte das nur mit halbem Ohr; sie hatte an ihrer Strickarbeit einen Fehler gemacht und war ärgerlich und vor Eifer schwitzend dabei, ihn zu verbessern.

Darüber bemerkte sie nicht, daß die Mauerthür leise zurückgeschoben wurde. Ein Frauenzimmer in rundem Hut und langem, dunklem Regenmantel huschte wie ein Schemen in den Garten, und eine Andere, eine zarte, elegante Damengestalt, blieb auf der Schwelle der offenen Thür stehen und sah ihr mit verschleiertem Gesicht, in sichtlich gespannter Haltung nach. Hinter dieser Dame erschien ein schlanker junger Herr in glänzendem Cylinderhut und lavendelfarbenen Handschuhen; er stand ehrerbietig um zwei Schritte zurück, lugte aber doch auch neugierig, mit langem Halse über die Schulter der Dame in den Fichtendämmer hinein.

Die Eingetretene warf einen scharf forschenden Blick um sich; dann flog sie wie ein Stoßvogel über die nächste Rasenfläche, direct auf die kleine Paula zu.

In diesem Augenblick waren aber auch die entwischten Maschen von Deborah gefangen und wieder auf die Stricknadel gereiht worden; mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sah die Schwarze empor und – ihre runden Augen wurden weit vor Erstaunen und Bestürzung. Eine Frau griff eben nach dem „Goldkind“, das, ihr den Rücken wendend, ahnungslos neben dem kleinen Korbwagen im Wege kauerte und emsig das Puppenbettzeug aufschüttelte – diese plötzlich wie hereingewehte Person aber war Minna, die Kammerjungfer der kleinen Frau.

Sie hob das Kind blitzschnell vom Boden auf und sagte ihm etwas in das Ohr.

„Ach ja – zu Mama!“ rief die Kleine und schlang die Aermchen um den Hals der Kammerjungfer, die zu spät die Linke auf den jubelnden Kindermund legte.

Mit einem wilden Schrei sprang Deborah empor, schleuderte das Strickzeug fort und stürzte sich mit weit ausgebreitete Armen aufhaltend der in Sturmeseile nach dem Ausgang Strebenden entgegen.

„Zu Hülfe, Jack! Hülfe! Sie wollen das Kind stehlen!“ rief sie über den Garten hinweg.

Die Kammerjungfer stieß mit der freien Linken kräftig nach ihr und suchte sie aus dem Wege zu schleudern; zugleich packten Männerhände die Schwarze von rückwärts an den Schultern; spitze, scharfe Fingernägel schlugen sich wie Raubthierkrallen in ihren nackten Arm, während ihr ein berauschend duftendes Taschentuch auf den Mund gedrückt wurde.

„Wirst Du wohl still sein, albernes Geschöpf!“ murmelte Lucile erbost – sie war’s, die den Arm der schwarzen Wärterin umkrallte und, den zarten Körper schlangenhaft und fest an Deborah’s robuste Gestalt gepreßt, ihr den Mund zu verstopfen suchte. „Glaubt Ihr denn hier in Eurem Schillingshof, ich werde in lammfrommer Geduld warten, bis es den Herren Juristen gefällig ist, mir mein gutes Recht zuzusprechen?“

Sie warf einen raschen Blick nach der Mauerthür und sah, wie Minna mit dem Kinde hinauslief. Augenblicklich wurde die Schwarze freigelassen – Lucile flog hinaus auf die Straße, und der Herr im Cylinderhut folgte ihr. Jetzt aber war es nicht Deborah, die den über den Garten hingellenden Schrei des Schreckens, der Wuth und Erbitterung ausstieß – er kam von der Straße herein.

Zwischen der Thür und der draußen haltenden Equipage erschien, wie aus der Erde gewachsen, eine Frau, eine gewaltige Erscheinung mit bleichem Gesicht und geschlossenen Lippen; noch wogte ihr Gewand, wehte das Haar auf der Stirn vom schnellen Lauf. Mit festem Griff riß sie das Kind aus den Armen der Kammerjungfer und hielt es hoch über den Köpfen der Entsetzten, so daß Lucile abermals aufschrie.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Schüler Dawison’s.


Die „Gartenlaube“ hat vor Kurzem Charakteristiken Ludwig Barnay’s und Franziska Ellmenreich’s aus der Feder des Unterzeichneten gebracht; der dritte in diesem leider jetzt gesprengten Verein darstellender Kunst, welcher dem Hamburger Stadttheater zu einem erfreulichen Aufschwung verholfen und die erfolgreichste Aufführung classischer Dramen ermöglicht hatte, ist Siegwart Friedmann, der treffliche Charakterdarsteller, der Schüler Bogumil Dawison’s.

Eine eigentliche Schule konnte der geniale Dawison, der durch die hochgesteigerte Macht einer eigenartigen Begabung wirkte, nicht begründen, noch weniger als Emil Devrient, obgleich auch die Erfolge dieses Künstlers durch seine Persönlichkeit und zwar durch den idealen Zauber derselben bedingt waren, aber Dawison war ein scharfer Kopf, der über die Aufgaben seiner Kunst und die Mittel, sie wirksam zu lösen, viel nachgedacht hatte, wenn er auch zuletzt durch seine Inspiration und sein zündendes Feuer entscheidende Siege auf der Bühne erfocht. Eine Schule zu begründen durch Lehre und Beispiel mit absichtlicher Pädagogik, mußte ihm fern liegen; was bei ihm den Ausschlag gab, war ja etwas nicht zu Erlernendes, etwas Unnachahmliches; gleichwohl strömte von ihm im intimsten Umgang eine Fülle von Anregungen aus, und wenn er keine Schule bildete, so hat er doch einmal einen Schüler gehabt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_564.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)