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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

gesetzt worden wäre. Fahrer und Zuschauer lächeln sich halb verlegen an, weil man erstens keinen vernünftigen Zweck für die Fahrt angeben, zweitens von einem besonderen Vergnügen dabei nicht sprechen kann, und drittens durch das Mitfahren ebenso wenig klüger wird, wie durch das Zuschauen. Aber nicht für alle Menschen wächst das Interesse an einer Sache mit dem Verständniß derselben. Die Meisten finden nur das ihnen Unbegreifliche interessant.

Am stärksten irren übrigens Diejenigen – und das ist die große Mehrzahl – welche glauben, die berühmte Firma habe hierin eine neue Erfindung vorgeführt. Es handelt sich dabei höchstens um die Anwendung untergeordneter neuer Constructionen, und was der Sache ein größeres Interesse verleiht, ist lediglich die Vorführung eines neuen Principes, dem einsichtsvolle Ingenieure eine große Zukunft zuschreiben, nämlich des Principes der elektrischen Kraftübertragung. Die Dampfmaschine, welche unsere Locomotive treibt, steht in der allgemeinen Maschinenhalle, und die von ihr erzeugte mechanische Kraft wird durch eine sogenannte dynamoelektrische Maschine in Elektricität verwandelt, die man ohne erheblichen Verlust beliebig weit fortleiten kann. Sie tritt durch die Schienen und die Laufräder in die Locomotive und kehrt von da durch eine aufrechte Mittelschiene, in einem mithin auf jedem Punkte der Bahn durch die Locomotive selbst geschlossenen Kreislaufe zu ihrem Ausgangspunkte zurück. Dieser Strom wird nun in der Locomotive durch Erzeugung starker Elektro-Magnete, welche die Räder bewegen, in mechanische Kraft zurückverwandelt und treibt das Gefährt auf diese Weise. Sobald der Strom unterbrochen wird, steht die Maschine oder kann durch Vermehrung der Reibung alsbald zum Stehen gebracht werden. Da man seit dreißig Jahren Hunderte von Maschinen erbaut hat, welche das Problem der Rückverwandelung elektrischer Kraft in mechanische mehr oder weniger vollkommen, das heißt mit dem mindesten Kraftverlust lösen, so interessirt uns auch das Wie dieser Rückverwandelung hier gar nicht – das Princip ist Alles, die Ausführung nichts; sie giebt in ihrer gesuchten Einfachheit nicht einmal dem Zeichner Stoff zu einem dankbaren Bilde.

Was ist es nun, was diese elektrische Eisenbahn zu einem dennoch höchst interessanten Schaustücke macht? Glaubt man vielleicht, später den Eisenbahnbetrieb in dieser Weise zu vereinfachen? Man erzählte allerdings, ein begeisterter Ingenieur habe sofort in der verschiedensten Herren Ländern Patente zur Erbauung elektrischer Eisenbahnen nachgesucht, allein ein solches Gesuch beruhte jedenfalls auf Selbsttäuschung; bei der vielfachen Kraftverwandelung, erstens der Hitze in mechanische Kraft, der mechanischen in elektrische und der Rückverwandelung, geht so viele Kraft verloren, daß ein solcher Betrieb nicht sehr vortheilhaft sein würde, obgleich eine Locomotive weniger vortheilhaft arbeitet, als eine stehende Dampfmaschine. Es giebt aber Arbeiten, bei denen eine nur einigermaßen zweckmäßige Kraftübertragung von außerordentlichem Werthe ist. So z. B. würde bei der Bohrung (und vielleicht selbst beim Durchfahren) langer Eisenbahntunnels der Locomotivendampf sehr lästig werden und die ohnehin schlechte Luft noch mehr verderben. Man hat deshalb bei den Tunnelbohrungen und bei manchen Bergwerksarbeiten die außen erzeugte mechanische Kraft in Form zusammengepreßter Luft durch Röhren in das Erdinnere geleitet und dadurch den vierfachen Vortheil erzielt, erstens billige Wasserkraft verwenden zu können, zweitens die Luft durch den Betrieb einer innen aufgestellten Maschine nicht zu verschlechtern, im Gegentheil drittens mit frischer Luft versorgt zu werden und viertens Abkühlung zu erhalten, denn die Luft, deren Hervortreten die Bohrer treibt, kühlt sich durch ihre Ausdehnung bedeutend ab; sie bindet Wärme. In ähnlicher Weise wie hier die Luft, benutzt man das Wasser als Kraftübertragungsmittel in den sogenannten Wassermotoren für das Kleingewerbe, indem man den Druck in den Wasserleitungen großer Städte dazu verwendet, kleine Maschinen, gleichsam Familienwassermühlen, treiben zu lassen. Ein sehr schlechtes Kraftübertragungsmittel auf größere Entfernungen ist der Dampf, weil er auch bei der besten Einhüllung unterwegs zu viel Wärme verliert, und nur bei gleichzeitiger Centralheizung einer Stadt, wie z. B. zu Lockport in Nordamerika („Gartenlaube“ 1878, Seite 472), kann eine solche Uebertragungsweise vortheilhaft sein.

Wir haben bisher der gewöhnlichsten Uebertragungsmethode nicht erwähnt, weil sie in der Regel nur auf kürzeren Entfernungen oder für ganz specielle Verhältnisse, wie z. B. bei Drahtseilbahnen in Bergwerken etc., verwendet wird, derjenigen durch Riemen, Ketten oder Drahtseile. Indessen hat man dieselbe in der Neuzeit doch in oft staunenswürdiger Weise zur Anwendung gebracht, an Orten, wo bedeutende Naturkraft nutzbar gemacht werden soll. So hat man oberhalb des Rheinfalles bei Schaffhausen das dort schon starke Gefälle des Flusses dazu benutzt, um durch einen abgeleiteten Arm kolossale Turbinen treiben zu lassen, welche die unzähligen Werkstätten dieser gewerbthätigen Stadt und Umgegend mit mechanischer Kraft versehen. Viertelstundenlang laufen die Drahtseil-Uebertragungen an dem Ufer des Rheines her, um in kurzen Entfernungen immer wieder kleine Räder zu treiben, die durch eine Welle der danebenstehenden Fabrik ihre zehn oder hundert Pferdekraft von dem Maschinenhause her übermitteln. Bei Bellegarde im Departement Ain gewinnt man durch Benutzung der Stromschnellen der Rhone und eines Nebenflusses mittelst sechs Turbinen viertausend Pferdekraft, die man über tausend Meter weit durch Drahtseile leitet, um jede Pferdekraft für nicht ganz hundert Thaler jährlich zu vermiethen. Dabei ist vorläufig nicht viel mehr als der dritte Theil der Kraft ausgenützt; man könnte, wenn sie verlangt würden, zwölftausend Pferdekraft an dieser Stelle gewinnen. Da man indessen bei solchen Drahtseilfortführungen ungefähr alle hundert Meter eine Uebertragungsstation für ein neues Seil einschalten muß, so werden solche Uebertragungen für größere Entfernungen unvortheilhaft, und nur die Fabrikstadt, die sich in unmittelbarer Nähe eines solchen Gefälles ansiedelt, kann davon Nutzen ziehen. In solchen Fällen nun wäre es vielleicht möglich, durch den elektrischen Strom die halb umsonst dargebotene Naturkraft noch weiter fortzuleiten, zumal man hierzu keiner Röhren sondern nur genügend starker Drähte oder Metallstäbe bedarf.

Seit einem Vierteljahrhundert, das heißt so lange man die Verwandlung der Naturkräfte in einander studirt hat, ist es ein Lieblingstraum der Ingenieure, die immense, ungenützt verspritzende Naturkraft der Wasserfälle den menschlichen Zwecken dienstbar zu machen, das wilde Element völlig zu zähmen und ihm womöglich alle menschliche Arbeit aufzubürden. Jeder Ingenieur beinahe, der seitdem den Niagara-Fall besucht hat, rechnete uns in irgend einem Feuilleton-Artikel irgend eines technischen oder populären Journals vor, daß hier mindestens so viel Kraft ungenutzt verloren geht, wie ganz Nordamerika brauchte, um völlig die Hände in den Schooß legen zu können. Als der Bruder des Berliner Siemens, Dr. C. William Siemens aus London, im Herbst 1876 den Niagara besuchte, prüfte er das unvermeidliche Rechenexempel nochmals durch und fand, daß der Fall dieser gewaltigen Wassermasse eine Kraftmenge erzeugte, die derjenigen von siebenzehn Millionen Pferdekräften gleichkommt, das heißt eine Kraftmenge, zu deren Erzeugung auf dem gewöhnlichen Wege circa zweihundertsechszig Millionen Tonnen Kohlen im Jahre nöthig wären, nämlich also die gesammte Kohlenmenge, die überhaupt auf der Erde producirt wird.

Ein so ungeheuerer Kraftverlust an einem einzigen Orte, der sich, wenn auch in minderem Grade, an hundert Orten der Welt wiederholt, kann einen rechtschaffenen Ingenieur zur Verzweiflung bringen, und es tröstet ihn kaum, daß solche den Naturfreunden äußerst liebe Kraftverluste meist im Hochgebirge oder an solchen Orten stattfinden, wo man die freiwerdende Kraft doch nicht verwerten könnte. Ja, wenn man sie ohne erheblichen Verlust in weite Fernen leiten könnte, bis in die Mittelpunkte der Industrie oder in die Hauptstädte des Landes! An Uebertragungen durch Drahtseile ist dabei nicht zu denken. Bei den doch nur kurzen Uebertragungen bei Schaffhausen gehen auf sechshundert Pferdekräfte bereits hundertzwanzig durch die Reibung der Drahtseile verloren, und diese nutzen sich obendrein stark ab; eine Uebertragung durch Luft- oder Wasserdruck würde beträchtliche Anlagekosten erfordern; ein Anderes wäre es, könnte man die mechanische Kraft an Ort und Stelle in Elektricität verwandeln und als solche in dicken Metallleitungen fortleiten und vertheilen.

Dr. Siemens machte sich an die Rechnung und fand, daß eine auf isolirenden Trägern ruhende Kupferstange von drei Zoll Durchmesser genügen würde, um eine tausend Pferdekräften entsprechende Elektricitätsmenge pro Stunde 48 Kilometer weit zu leiten um damit dort elektrodynamische Maschinen in Bewegung zu setzen, die eine ganze Stadt mit einem 250,000 Kerzen gleichkommenden

Lichte erleuchten könnten. Ja, diese Rechnung, welche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_631.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)