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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

‚Aber, Natalie!’ warf er mir ein, ‚Sie wissen selbst, wie kleinstädtisch und exclusiv die Menschen hier sind – man wird mich niemals hier mein Meisterstück machen lassen. Und wenn auch, so wird mir Wolf immer vorgezogen werden. Ich werde nie eine ordentliche Kundschaft in der Stadt erlangen, und an den Bauern ist nichts zu verdienen – das wissen Sie. Die tragen den Schafpelz des Urgroßvaters weiter.’

‚Sie kennen unsere Bürger doch nicht,’ entgegnete ich ihm, obwohl ich wußte, daß er in der Hauptsache Recht hatte. ‚Sie sind im Anfang recht spröde und mißtrauisch gegen den Fremden – das ist wahr. Aber Sie selbst haben erfahren, Herr King, wie schnell man Ihnen gut geworden ist. Und Sie gelten Allen schon als Mitbürger.’

Er erwiderte mir darauf nichts, Herr Amtsrichter. Er schüttelte nur traurig den Kopf und sann finster nach.

‚Ist es Ihr voller Ernst, Natalie, daß Sie die Stadt nicht verlassen wollen?’ fragte er dann. Und als ich seine Frage auf das Bestimmteste bejahte, entgegnete er rasch: ‚Gut. So will ich hier Meister werden. Und vielleicht dauert’s nicht einmal ein paar Jahre, Natalie.’

Damals lächelte ich im Stillen, Herr Amtsrichter, über seine verliebte Schnellfertigkeit. Sie kennen ja unser Städtchen. Ein paar Jahre kann einer allein brauchen, bis er Bürger wird, geschweige denn Meister. Und ich meinte: ein paar Jahre gewonnen, Alles gewonnen. Ich wollte mich inzwischen immer mehr von ihm zurückziehen und habe es, denk’ ich, auch bisher gethan. Ich meinte, dann werde er selbst von mir und seiner Idee, hier Meister zu werden, abstehen. Aber nun erkenne ich deutlich, daß ich mich geirrt, daß er stetig darüber gebrütet, wie er mich recht bald zu der Seinen machen könne. Ich verstehe jetzt den furchtbaren Sinn seiner Worte: ‚Vielleicht dauert’s nicht einmal ein paar Jahre, Natalie.’ Als ich die Nachricht erhielt, Wolf sei ermordet und King der muthmaßliche Mörder, da fielen mir diese Worte mit Centnerlast auf die Seele. Und deshalb bin ich hier, Herr Amtsrichter.“

Kern war sehr ernst geworden.

Der Gedanke berührte ihn peinlich, daß King, nach den Offenbarungen Nataliens, des Mitleids doch nicht ganz unwürdig zu sein schiene. Eine reine, tiefe Neigung zu Natalie hatte ihn beseelt; er sprach sie rückhaltlos dem Mädchen seiner Liebe aus – und fand hier doppelzüngige Antwort. Die Erfüllung seiner Hoffnung wurde an die Bedingung geknüpft, daß er sich im Städtchen selbst als Meister niederlasse. Diejenige, welche diese Bedingung gestellt, dachte gar nicht daran, falls die Bedingung erfüllt wurde, Frau Meisterin King zu werden. Bis dahin schien alle Aufrichtigkeit auf seiner Seite. Daß er nun im Stillen den furchtbaren Plan faßte, Wolf zu beseitigen, um wohl zunächst Geschäftsführer der Wittwe Wolf, dann Geschäftseigenthümer zu werden, und dadurch einige Jahre früher Natalien zu gewinnen, das war freilich entsetzlich. Die Vermischung der reinsten Gefühle und der häßlichsten Pläne in demselben Menschen erschien als ein psychologisches Räthsel. Aber immer stärker drängte sich dem Richter mit der Empfindung des Mitleids für den Verbrecher entschiedene Abneigung gegen Natalie auf, wenn er daran dachte, wie kalt mit King’s Gefühl gespielt worden war, welche grausame Enttäuschung ihn erwartet hätte, wenn ihm gelungen wäre, alle Früchte seines Verbrechens zu ernten: daß nun die Heißersehnte, um deren willen King schwere Blutschuld auf dem Gewissen trug, ihm nach Jahren ein herzloses Nein gesprochen hätte. Und das Mädchen, das so gegen King gehandelt, stand nun vor dem Richter, um den Mann, der sie geliebt, auf’s Schaffot zu liefern.

So schnell, wie Gedanken aufblitzen und verschwinden, zogen diese Erwägungen durch die Seele Kern’s.

„Sie sind jung, Fräulein Becker,“ sagte er flammenden Auges. „Aber den Werth der Wahrheit müssen Sie von Kindheit an kennen, aus der Zucht der Eltern, aus den Lehren der Schule und unseres Glaubens. Ich begreife jetzt, warum Sie vorhin von Gewissensbissen sprechen konnten. Es muß Ihnen schrecklich zu Muthe sein, wenn Sie bedenken, daß Sie mit ein wenig mehr Offenheit, mit soviel Wahrheit, wie King gerade von Ihnen verlangen konnte, diese unselige That hätten hindern können. Bitten Sie Gott um die Gnade, daß Sie dieses an Ihrem Frieden nagende Bewußtsein jemals wieder los werden!“

Damit stand er auf und verbeugte sich kurz gegen das junge Mädchen.

Auch Natalie hatte sich erhoben. Sie war bei seinen letzten Worten dunkelroth geworden, und zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen.

„Herr Amtsrichter, Sie thun mir unrecht,“ stammelte sie. „Ich gebe zu, ich habe King nicht Alles gesagt, was ich von ihm dachte. Vielleicht wäre der Mord Wolf’s nicht geschehen, wenn ich ganz offen gewesen wäre. Aber warum war ich es nicht, Herr Amtsrichter? Ich will Ihnen etwas sagen, was ich noch keinem Menschen gesagt: Ich war auf dem Wege, King zu lieben. Es kann sein, daß ich ihn schon liebte. Da versuchte er, sich durch Lüge und Täuschung in mein Vertrauen, in mein Herz zu stehlen, und nun wurde mein Herz kalt gegen ihn; er wurde mir immer unheimlicher und furchtbarer. Ich war auf meiner Hut; ich erwiderte seine Lügen zwar nicht mit gleicher Münze, aber ich suchte ihn hinzuhalten, um ganz und voll hinter seine wahre Natur zu kommen, hinter das Geheimniß seiner Herkunft, seiner Vergangenheit, über welche er uns Alle getäuscht hat.“

Kern blickte verwundert auf.

„Wollen Sie mich deshalb sofort verurtheilen, Herr Amtsrichter?“

„Sie erheben schwere Anschuldigungen gegen King, Fräulein Becker. Wenn Sie dieselben beweisen können, so nehme ich Alles zurück, was ich gesagt habe.“

„Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß King so bedeutete Ausgaben machte?“ fragte sie.

„Nun, er stand in sehr guten Lohnverhältnissen und soll der Sohn bemittelter Eltern sein,“ erwiderte er.

„Das Letztere, Herr Amtsrichter, ist nicht wahr, wie Sie sehen werden. Es war dies seine erste Lüge mir gegenüber.“

„Die amtlichen Mittheilungen aus seiner Heimath fehlen mir allerdings noch,“ erklärte Kern. „Woher wissen Sie, daß King’s Aussagen unwahr sind?“

„Wohin haben Sie sich gewendet, um Nachrichten über King zu erhalten, Herr Amtsrichter?“ fragte das Mädchen zurück.

„Nach Königsberg natürlich,“ antwortete Kern. „Er ist von dort her.“

„Herr Amtsrichter, Sie werden dasselbe hören, was mein Vater erfuhr, als er dort insgeheim anfragte.“

„Nun, mein Fräulein, daß die Eltern King’s todt sind und daß man sein Vermögen gerichtlich verwaltet, bis er die Volljährigkeit erlangt haben wird – das hat er uns selbst erzählt.“

„Nichts von alledem werden Sie erfahren, Herr Amtsrichter. Die Eheleute King, die in Königsberg vor Jahren gestorben sind, haben keine Kinder und kein Vermögen hinterlassen; sie waren King’s Onkel und Tante.“

„Woher wissen Sie das?“

„Haben Sie schon Briefe der Eltern King’s gesehen?“ fragte sie weiter, ohne auf die Frage Kern’s zu antworten.

„Nein. Ich habe gar nicht danach gesucht, da ich annahm, daß sie todt seien.“

„Aber Briefe von dieser Schrift werden Sie gesehen haben,“ fragte Natalie, indem sie ihm ein ungestempeltes Couvert vor Augen hielt, auf dem mit steifen, altfränkischen Schriftzügen ihr Name und Wohnort stand.

„Ja, Briefe von dieser Hand habe ich in seinem Besitze gesehen,“ bestätigte der Richter. „Er sagte, sie kämen von seinem älteren Bruder. Sie enthielten nichts Wichtiges, Familiengeplauder, Ermahnungen zum Guten.“

„Von welchem Orte waren sie datirt?“

„Sie trugen kein Datum. Das ist bei gewöhnlichen Leuten nichts Auffallendes, mein Fräulein.“

„Das kann sein,“ entgegnete sie. „Aber auffallend ist es gewiß, daß ein Sohn seine Eltern für todt ausgiebt, während sie leben, und daß er die Briefe seines Vaters als diejenigen seines Bruders bezeichnet. Und da er sich in einer Stadt als heimathsberechtigt bezeichnet, die er gar nicht kennt, so wird wohl das Weglassen des Datums auf Verabredung beruhen und das ganze Manöver King’s den Zweck verfolgt haben, seine wahre Heimath, sein Herkommen zu verheimlichen.“

„Aber was sollten seine Eltern für ein Interesse daran haben, ihn bei dieser Verheimlichung zu unterstützen?“

„Es hat lange genug gedauert, ehe ich mir eine klare Antwort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_639.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)