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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Doctor Pflummern ausdrücklich betont, über die Rosen des ganzen Ganges zu verfügen.

„Schön! sehr schön!“

Mit diesen halblaut gesprochenen Worten trat Pranten in sein Zimmer. Die kleine Schwarzwälderin nebenan hob eben aus. Er blieb stehen und zählte wie in Erwartung ihre Schläge. „Schon Sieben!“ Sich auf dem Absatz umdrehend, begann er etwas zu pfeifen, was stark nach einer der leichtfertigsten Melodien aus der „Schönen Helena“ klang, wechselte dabei, weniger aus Wirthschaftlichkeit, als aus Nothwendigkeit, da sein Hofschneider Müller erklärt hatte, nicht ferner borgen zu können, den momentan einzigen standesgemäßen Anzug und verließ das Haus.

Ohne den geringsten Umweg, als brächte jede Minute Verspätung einen unersetzlichen Verlust mit sich, eilte Pranten heute sogar durch Winkelgäßchen, die er sonst vermied, nach dem „Grafenbräu“. Man empfing den frischen, beliebten Mann mit fröhlichen Zurufen, die lebhaft erwidert wurden; die braune Hulda brachte seinen Maßkrug, mit „eben Angestochenem“ gefüllt, dann nahm der Abend seinen ewig gleichen Verlauf. Hier und da ein Stückchen Interessantes aus dem Leben eines Alten, ein paar überdreiste Geschichten, wohl auch etwas Kannegießerei, zwischendurch immer wieder Hulda und später vor Allem die wichtige Abendbrodfrage, deren Erledigung Stunden hinnahm. Unterdeß bot eine Blumenmaid Rosenknospen an, und der Mann der schwedischen Säkerhets-Tändstickor, die uralte Zeitungsverkäuferin, ein Italiener mit seinen mandoli unterbrachen die oder jene längst bekannte Geschichte. Endlich bemerkte ein Aelterer, daß die Tabakswolken beinahe undurchdringlich geworden, daß man die letzte Halbe bestellen müßte. Als sie getrunken war – lange nach Mitternacht – verließ die Gesellschaft in sichtlicher Unbeholfenheit Einer nach dem Andern das „Grafenbräu“.

Pranten war, wie leider gewöhnlich, einer der Allerletzten und steuerte durchaus mannhaft, jedoch mit einer gewissen gespreizten Energie, seiner Wohnung zu. Den guten Göttern dank, träumte die Frau Kanzleiräthin längst vom schönen Assessor Huber, als Pranten unter ihren Fenstern hinstelzte: sie hätte sonst gewiß wieder allerlei Böses in sein spätes nach-Hause-Kommen hinein gebraut. Und doch hatte sich dieser eben so lobenswerth benommen, eben dem leichtsinnigen Krüger widerstanden, der ihn noch durchaus mit in das Nachtcafé zerren wollte, aus welchem die heiseren Soprane klangen und das wüste Bravogeschrei. Sonst war er wohl mitgegangen, warum heute nicht? Er dachte darüber, lächelte still und sah zur Venus empor, die allein am Himmel herrschte; wie von Blitzgefunkel umrissen war in dem Augenblicke, als ihn Krüger hereinziehen wollte, ein hauchzarter Kopf vor ihm aufgetaucht – hatte der ihn wirklich am Eintreten gehindert? Vielleicht – Vielleicht auch bloße Müdigkeit? Ah! – nur Müdigkeit!

(Fortsetzung folgt.)




Das neue deutsche Reichsgericht zu Leipzig.


Von Professor Karl Biedermann.



Im alten deutschen Reiche war der Kaiser geborener und berufener Schützer des Rechts in allen Landen. Die alten Kaiser hielten selbst Gericht, oder ließen in ihrem Namen Recht sprechen durch ihre Vertreter, die Pfalzgrafen oder Hofrichter. Nur freilich reichte ihr Blick und ihr Arm nicht immer weit genug, um jedes Unrecht zu entdecken oder jedes Urtheil nachdrücklich zu vollziehen. Auch die Gaugrafen übten ursprünglich, als Statthalter des Kaisers, in dessen Namen und Auftrage die Rechtspflege, allein allmählich verwandelte sich diese übertragene Justizgewalt in eine eigene der Grafen selbst, welche letztere sich dadurch mehr und mehr in vom Kaiser unabhängige Landesherren verwandelten. Dennoch blieb das Kaiserthum der höchste Rechtsschutz; man empfand die Abwesenheit eines solchen schmerzlich in jener „kaiserlosen, schrecklichen Zeit“, die nach dem Absterben der großen Kaiserdynastien über Deutschland hereinbrach, und „das Volk jauchzte“, als „ein Richter war wieder auf Erden“.

Leider nur riß, der Hoffnung des Volks entgegen, unter den nun folgenden Kaisern bald durch die Eigensucht der einen, bald durch die Ohnmacht der andern gegenüber den immer übermächtiger und unbotmäßiger werdenden Vasallen abermals eine immer wachsende Rechtlosigkeit ein. Ja, so groß ward dieselbe, daß zuletzt die Fürsten selbst die Dringlichkeit einer Abhülfe empfanden und, mit dem Kaiser vereint, auf solche bedacht waren.

So entstand vor nunmehr nahezu vierhundert Jahren, 1495, der erste oberste Gerichtshof für Deutschland, das Reichskammergericht; es hatte in der ersten Zeit seinen Sitz in verschiedenen Reichsstädten, namentlich zu Speyer, seit 1689 aber zu Wetzlar. Wie alle Einrichtungen des alten deutschen Reichs, auch die bestgemeinten, an der allgemeinen Schwäche des Reichskörpers krankten, an der Verkümmerung der Gewalt des Hauptes und dem Ueberwuchern der Glieder, so entging auch das damalige Reichsgericht diesem traurigen Schicksal nicht. Weite Gebiete des Reichs wurden bald, und in immer wachsender Zahl, seiner Gerichtsbarkeit gänzlich entzogen, denn die großen Fürsten, vor allen die Kurfürsten, erlangten das bedauerliche Vorrecht, daß von ihren Gerichten nicht an das Reichsgericht Berufung eingelegt werden konnte außer in ganz besonderen Fällen, bei einer förmlichen Rechtsverweigerung, und thatsächlich selbst da wohl kaum. Auch für solche Zweige der Rechtspflege, bei denen das Interesse der Fürsten nicht direct in Frage kam, wie die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, ward die Wirksamkeit reichsrichterlicher Entscheidungen durch den schleppenden Geschäftsgang gelähmt, eine Folge der Knauserei, mit welcher die Stände des Reichs (Fürsten und städtische Magistrate) die Mittel zur Unterhaltung des Reichsgerichts schmälerten, vorenthielten, wo nicht gar verweigerten. So geschah es, daß die Zahl der Räthe (oder, wie es damals hieß, „Beisitzer“) des Reichskammergerichts, die im westfälischen Frieden 1648 auf fünfzig festgesetzt worden war, schon 1719 durch einen Reichstagsbeschluß auf fünfundzwanzig herabgemindert ward, weil man die andern nicht bezahlen konnte, daß aber auch von diesen fünfundzwanzig selten mehr als die Hälfte, weit öfter viel weniger, wirklich besoldet waren und selbst diese meist sehr unregelmäßig. Natürlich waren die bezahlten die einzigen, welche arbeiteten. Kein Wunder, wenn die Zahl der unerledigten Rechtshändel beim Reichskammergericht, die schon 1620 auf 50,000 geschätzt wurde, 1772 auf 61,233 angewachsen war, daß einzelne solcher Rechtshändel von bedeutenderem Umfange und größerem Belange weit über hundert Jahre sich hinzogen. Zuletzt kam es dahin (wie Goethe, der bekanntlich eine Zeitlang selbst beim Reichskammergericht zu Wetzlar thätig war, in „Dichtung und Wahrheit“ so drastisch erzählt), daß überhaupt nur noch solche Sachen zur Bearbeitung kamen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_660.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)