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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sah ihn nun häufig und gegen seine bisherige Gewohnheit, gleichviel in welchem Wetter, stundenlang einsam in der Umgegend des Städtchens umherpilgern. In der Mittagsstunde und am Abend im Kreise der Freunde war er einsilbiger und verschlossener, als er sonst sich zu geben pflegte, sodaß Manche fürchteten, eine schleichende Krankheit, welche Frohsinn und Lebensfreude ihm mehr und mehr bestricke, werde plötzlich bei ihm zu Tage treten. Selbst im Verkehr mit der Hirschwirthin, mit der jungen Margret zeigte er sich verändert. Bald war er zärtlicher, weicher und hingebender, als je zuvor, bald rauher und abweisender, als sie Kern jemals gekannt hatten. Besonders eingehend und freundlich berieth er mit der Wirthin unter vier Augen. Als Vormund des „Kindes“ Margret hatte er dazu oftmals Veranlassung, die er jedesmal eifrig benutzte.

So war das Trauerjahr beinahe abgelaufen, als auch das ganze kleine Fürstenthum plötzlich von Amtswegen in Trauer versetzt wurde. Der Landesfürst segnete das Zeitliche und hinterließ Alles, was er besessen, seinem Erben. Viel war es nicht. Die officielle Trauer nahm sechs Wochen in Anspruch. Die Gerichte siegelten schwarz; die Beamten trugen schwarze Flöre um den linken Arm und den Cylinder: nur Cylinder durften von Beamten während der Landestrauer getragen werden. Die Hofschauspieler erhielten sechs Wochen Ferien und überschwemmten die Theater des deutschen „Auslandes“ mit Gastspielen. Die überschießende gute Gesinnung zeigte sich in mancherlei rührenden Zügen: man schaffte schwarze Pferde zu loyalen Equipagen an; der Hofcorsettlieferant veranstaltete in seinen Schaufenstern eine sinnige Auslegung beflorter Handschuhe und Hosenträger in den Landesfarben. Der Hofconfitürier stellte eine braunschwarze Kolossalbüste des verewigten Monarchen von Chocolade aus. Das amtliche Blatt registrirte tiefbewegt „alle diese ungeheuchelten Beweise eines allgemeinen großen Schmerzes um die heimgegangenen landesväterlichen Tugenden“.

Dem Ländchen aber blieb der schwierigere Theil des Beweises seiner Theilnahme an dem allerhöchsten Familienereignisse noch vorbehalten. Denn mit dem letzten Tage der sechs Trauerwochen sollte der große ungeheuchelte Schmerz mit einem Male versiechen, jeder Thränenquell, der aus diesem Anlaß floß, trocken gelegt werden und von Mitternacht ab die Landestrauer in eitel Landesfreude sich verwandeln. Denn am kommenden Tage gedachte der neue Thronbesitzer seinen Regierungsantritt festlich zu begehen. Da durfte kein Städtchen und kein Flecken des Landes sich ausschließen, wenn es nicht höheren Ortes ungünstig vermerkt werden sollte. Namentlich trat an die Wirthe des Landes die Aufgabe heran, für geeignete Festveranstaltungen zu sorgen.

Auch die Wittwe Margret Stephan hatte ihre Anstalten für das fürstliche Fest zu treffen, und natürlich, wie alle Anderen, schon am letzten Tage der Trauerwochen, damit der kommende Tag Küche und Keller bei ihr in Ordnung finde. Und doch war ihr das Herz schwerer und trauriger als jedem andern Landeskind an diesem Tage. Denn gerade an diesem Tage vor einem Jahre war ihr Gatte gestorben.

Es that ihr sehr weh, daß sie heute nicht selbst an das Grab ihres Gustav sollte wandern, es nicht selbst sollte bekränzen können. Aber auch Kern, der stets nur das Nöthigste an loyalen Kundgebungen empfahl, hatte der Gastwirthin dringend gerathen, sich ordentlich zum Krönungsfest zu rüsten, um dem Neide Mißgünstiger keinen Stoff zum Gerede zu geben. So mußte denn das Opfer gebracht sein.

Am frühen Morgen verließ jung Margret die Mutter, um die duftigen Kränze des Frühlings, unvergänglicher Liebe auf dem Grabe des Vaters niederzulegen. – –

Vor zwanzig Jahren war ihre Mutter denselben Weg geschritten zu demselben Zwecke, wie sie heute.

Wie damals jubelten die Lerchen. Wie damals war die Luft erfüllt von dem kräftigen Dufte der Bergwiesen. Wie damals der Mutter, so winkte heute der Tochter als süßer Lohn nach der steilen, schattenlosen Steigung vor dem Gipfel des Berges das wonnige, lichte Grün des Buchenwaldes, unter dessen Laubdom man bis zum Dorfe hinabschritt.

Ja, die Mutter hatte der Tochter oft erzählt von jenem Gang nach dem Grabe der Eltern, den sie vor beinahe zwanzig Jahren gethan. War an diesem Morgen doch zum ersten Male in den Mai ihrer Liebe der tödtliche Frost gefallen, den das Wort Scheiden der jungen Liebesblüthe bringt. Und wie furchtbar hatte der Tag geendet – mit dem Morde der Johannisnacht!

Genau kannte jung Margret alle Einzelheiten jenes Morgens, jenes Tages, der nun fast zwanzig Jahre zurücklag. Hier oben stand noch der Feldstein, auf dem vor zwanzig Jahren ihr Vater als junger Mensch gesessen und die Braut erwartet hatte. Sie kannte auch den Stein genau, der das Merkzeichen war, daß die Höhe gewonnen sei. Ihr Auge heftete sich mit dem Ausdruck der Verwunderung auf diese Stelle. Ein alter Mann lag schlafend an demselben. Er hatte die Rechte um den Stein geschlungen, hatte eine rauhe Decke wie ein Kissen an den Stein und unter den Kopf gelegt und schlief in dieser Lage, den Körper im weichen Grase ausgestreckt.

Margret mußte an dem Manne vorüber; sie schritt leise näher, um ihn nicht zu wecken. Einen Augenblick blieb sie stehen, um das Gesicht des Fremden zu betrachten, das dem Wege zugekehrt war.

Sie hatte anfangs geglaubt, es könne ein alter Landarbeiter sein, der so früh schon vor Müdigkeit raste. Aber dem widersprach der Schnitt der Kleidung des Unbekannten. Sie schien nicht lange getragen und in einer Mode zugeschnitten, die jung Margret in ihren achtzehn Jahren noch nie gesehen. Auch das bleiche, blutleere Gesicht, die blassen, mageren Hände des Fremden gehörten sicherlich keinem Landmann an. Für einen Handwerksburschen war der Mann viel zu alt, für einen Bettler zu reinlich und zu gut gekleidet. Ein wandernder Krämer konnte er nicht sein, da er keine Waaren mit sich führte.

Wenig kurzgeschorenes graues Haar bedeckte das Haupt des Unbekannten. Die breite Stirn zeigte Furchen des Grams und tief in ihren Höhlen ruhten die geschlossenen Augen. Die Backenknochen sprangen weit hervor; verfallen waren die Wangen und der dichte graue Bart kurz rasirt. Der Athem des Fremden ging unruhig und schwer. Auch die lange, breitschulterige Gestalt schien gebeugt, verfallen vor Alter. Von den alten Männern, die Margret gesehen, war dieser weitaus am hinfälligsten. Und dennoch erhöhte eine genauere Prüfung seiner Züge nicht das Mitleid für den schwachen, alten Mann; denn es lag etwas so Gemeines, Wildes um den Mund des Schlafenden, daß Margret zurückschreckte. Die Muskeln und Bänder der Kiefern schienen so straff angezogen wie bei einem Raubthier, das Beute erspäht.

Alle diese Beobachtungen hatte Margret in wenigen Minuten gemacht. Sie war auf den Fremden zugetreten in der stillen Absicht, eine Blume als Frühlingsgruß bei ihm zurückzulassen, oder eine Geldspende, wenn er ihrer bedürftig scheinen sollte. Sie trat jetzt rasch und ohne jede Spende von ihm zurück, ihren Weg fortzusetzen, um den fremden Menschen so schnell wie möglich aus den Augen zu verlieren.

In diesem Augenblicke hustete er laut und heftig, und der Anfall schüttelte und weckte ihn, noch ehe Margret sechs Schritte von ihm entfernt stand.

(Fortsetzung folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 45. Eine Bärenhatze.


Vor vielen Jahren, auf einer Fußreise nach Italien, begegnete ich unterwegs da, wo das Karstplateau von Krain sein weites steinbesäetes, ödes Gebiet erstreckt, einem Jägersmann, in welchem ich schon nach den ersten mit ihm gewechselten Worten einen unleugbaren guten Sachsen erkannte. Erwiderte derselbe doch meinen ihm entbotenen Morgengruß zu meiner freudigsten Ueberraschung in so unverfälscht sächsisch-erzgebirgischer Mundart, daß ich keinen Augenblick zweifelte, einen rasse-reinen Abkommen meiner heimathlichen „Blechlöffelleut“ vor mit zu haben. Aber auch er, der alte gemüthliche Grünrock, hatte alsbald an meiner Aussprache

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 672. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_672.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)