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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

meinem Schlafgenossen, daß er gewiß an nervösen Zuständen leide. Er blickte mich einen Moment, wie um eine Antwort verlegen, an. Endlich machte er eine entschlossene Bewegung und sagte: „Ich glaube Ihnen zu Ihrer Beruhigung vollständige Offenheit schuldig zu sein. So hören Sie denn! Während der Strapazen des deutsch-französischen Feldzuges hatte ich mir eine rheumatische Neuralgie zugezogen, welche mit unsäglichen Schmerzen verbunden war; einzig und allein durch Morphinmeinspritzungen [1] unter der Haut konnten meine Leiden gemildert werden. Das wurde mein Unglück. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß die Opiumesser und Opiumraucher in neuerer Zeit vornehmlich unter den höheren Classen unserer westeuropäischen Bevölkerung eine ziemlich weit verzweigte Bruderschaft gefunden haben, nämlich die Morphiumverzehrer, jene glückselig-unglücklichen Menschen, welche durch gewohnheitsmäßigen Morphiumgenuß sich in die wonnigen Gefilde eines orientalischen Opiumessers hinüberträumen. Ebenso wie im Orient ganze Völkerschaften durch fortgesetzten Opiumgenuß entnervt und in ihren gesammten Lebenskräften zerrüttet werden, finden wir bei uns eine große Zahl einzelner Individuen, welche durch Gewöhnung an Morphium ihre Säfte zerstören, ihre Nerven aufreiben und ihren Geist zerrütten. Selbst der energischste persönliche Wille, die beste Absicht für’s eigene Wohl, die tiefste Erkenntniß von dem Nachtheile der erwähnten Unsitte reichen nicht hin, die Morphiumsucht zu bezwingen.

Sie sehen in mir einen solchen Unglücklichen. Die ursprüngliche Nothwendigkeit, meine schmerzhafte Krankheit durch Morphiumeinspritzungen zu übertäuben, machte, daß ich mich an das verführerische Mittel gewöhnte, und während der Arzt täglich höchstens etwa sechs Hundertstel Gramm gestattet, verbrauchte ich bis vor drei Jahren je nach Bedarf und Stimmung binnen vierundzwanzig Stunden ein halbes Gramm Morphium – nicht etwa um Schmerzen zu lindern – denn von meinem ursprünglichen Leiden war ich befreit – sondern nur um träumerischen Sinnengenüssen zu fröhnen.

Als nun gar in den letzten Jahren häufige Kümmernisse über unverschuldete Vermögensverluste und die Entwerthung industrieller Unternehmungen, an denen ich mich durch die unglückselige Ritterschaftliche Privatbank zu Stettin betheiligt hatte, meine Stimmung noch mehr zerrütteten, suchte ich durch Erhöhung der Dosis die trüben Gedanken, die mich täglich überkamen und in meiner Dienstfähigkeit beeinträchtigten, zu verscheuchen, sodaß ich es in neuerer Zeit bis zu einem ganzen Gramm Morphium auf den Tag gebracht habe. Ich pflege mir alle zwei bis drei Stunden eine Spritze voll Lösung von einem Decigramm Morphiumgehalt direct in das Blut überzuführen, indem ich mir mit einer sogenannten Pravaz’schen Spritze die Flüssigkeit –“ hier unterbrach mein Nachbar seine Schilderung und schnarrte zum zweiten Male den Namen „Conrad“ gegen die Thür des Cabinets. Conrad erschien. Der Officier verlangte ungestüm die Morphiumspritze und das Medicament. Der Diener verweigerte Alles auf Grund des erhaltenen Befehls. Diese vermeintliche Insubordination aber brachte den Leidenden in eine solche Erregung, daß er den armen Pommeraner krampfhaft am Halse packte und mehrmals schüttelte, sodaß dem armen Teufel Hören und Sehen vergehen mußte.

Jetzt sah ich die Hünengestalt meines zum ersten Male seit unserer Abfahrt sich erhebenden Genossen und konnte bemessen, in welch erschreckender Weise sein riesenhafter Knochenbau und die Kraft seiner Körpermuskulatur von der Fahlheit und Blässe seines Gesichtes abstachen. Ich beruhigte den aufgeregten Herrn mit der Versicherung, ich würde trotz seines eigenen Verbotes ihm die Morphiumspritze verschaffen, worauf er sich wieder in seinen Sessel niederließ. Da überkam ihn eine plötzliche Apathie, welche die Aerzte mit dem Namen Collapsus zu bezeichnen pflegen. Er preßte nur noch das Wort „Morphium!“ durch die Lippen und sank, sich total verfärbend, wie todt von dem Sitze herab. Conrad hatte sich, als er von den Fäusten seines Herrn durch mich befreit war, wieder aus dem Cabinet entfernt, aber bei dem stürmischen Angriffe das erwähnte lederne Täschchen fallen lassen; ich entdeckte solches am Boden, hob es rasch auf und riß in meiner verzweifelten Lage und in der Meinung, einen Sterbenden zu Füßen zu haben, das Schloß rasch aus einander. Ich entdeckte die Morphiumspritze und ein weithalsiges Gläschen mit Morphiumlösung.

Während meiner Feldzugszeit oftmals zum Lazarethdienste beordert, hatte ich die Technik der Morphiumeinspritzungen kennen gelernt. Die Procedur besteht bekanntlich darin, daß man eine nadelförmig zugespitzte kleine gläserne Spritze mit der Lösung des Medikamentes füllt, die Spitze durch die Haut in das Unterhautzellgewebe einsticht und nun durch Einschieben des Pistons die nöthige Anzahl Tropfen aus der Spritze in das Körpergewebe des Kranken einfließen läßt. Ich füllte rasch das Instrumentchen und spritzte dem zu meinen Füßen Liegenden die volle Ladung unter die zu einer Falte emporgezogene Haut des bloßliegenden Nackens.

Kaum war die Morphiumlösung in das Blut des Armen eingedrungen, als er die Augen aufschlug und wieder ein Lebenszeichen von sich gab. Ich hob ihn auf den Sitz empor und brachte ihm noch einen kräftigen Schluck Cognac bei; er erholte sich und war bald wieder vollkommen seiner Sinne mächtig. Es verging kaum eine Viertelstunde und ein sichtliches Wohlbehagen überkam meinen Begleiter, welcher der Dankesbezeigungen für meinen ihm erwiesenen Liebesdienst nicht müde werden konnte. Ich riet ihm, nun sich das Lager bereiten zu lassen und einem erholenden Schlaf sich hinzugeben, was er denn auch selbst für rathsam fand. Bald hatte ihn die Einspritzung dem Schlafgotte überwiesen. In den milden Zügen des Schlafenden zeigte sich eine wohlthuende Behaglichkeit, und das Spiel seiner Lippen verrieth wonnige Träume, welche sein morphiumberauschtes Gehirn umgaukelten.

Mich selbst floh nach dieser Aufregung der Schlaf. Ein Büchlein, welches mein Gefährte scheinbar als Reiselectüre hinter seinem Sitze verwahrt hatte, sollte mir die Zeit verkürzen. Es war eine Monographie über das Leiden, von welchem er heimgesucht, betitelt: „Die Morphiumsucht von Dr. Ed. Levinstein.“ Ich entnahm aus demselben, daß die Morphiuminjectionen in Deutschland bis vor etwa fünfzehn Jahren nur selten ausgeführt wurden. Die Methode war in England im Jahre 1857 von Dr. Alexander Wood erfunden worden. Die wundergleiche Wirkung gegen den Schmerz hatte der neuen Behandlungsweise rasch den Weg gebahnt, und die praktischen Aerzte benutzten anfangs allein die Morphiumspritze gegen jegliche Art von Unbehagen ihrer Patienten. Wäre die Technik der Morphium-Injectionen in den Händen der Aerzte geblieben und hätte durch deren imponirende Wirkung sich nicht auch der Laie der Handhabung dieses Instruments bemächtigt, so würde die moderne Verbannungsmethode des Schmerzes ein Segen für die Menschheit geblieben sein. Als aber die Laien besonders der höheren Gesellschaftskreise erkannt hatten, daß auch psychischer Schmerz durch Morphium-Injectionen vernichtet werde, erlernten sie die Selbstapplikation der Methode, und von diesem Augenblicke beginnt die Geschichte des schrecklichen Leidens, welches mit dem Namen „Morphiumsucht“ bezeichnet wird. Urheber und Verbreiter der Krankheit waren jene Aerzte, welche bei mehr oder weniger schmerzhaften oder langandauernden Krankheiten dem Patienten die Morphiumspritze selbst überließen. Die verführerische Wirkung der Morphiumeinspritzung besteht, wie bereits angedeutet, außer in der Bekämpfung der Schlaflosigkeit und des Schmerzes in einer gleichzeitigen glücklichen Umwandlung im ganzen Wesen. Der Betrübte wird heiter; der Ohnmächtige erhält Kraft, der Geschwächte Energie; der Schweigsame wird beredt, der Zurückhaltende verwegen. Ist aber das Gift aus dem Körper wieder ausgeschieden, was allmählich geschieht, so folgt dieser hochgradigen Steigerung des behaglichen Selbstgefühls, der sogenannten Euphorie, ein Zustand tiefer Ermattung und Niedergeschlagenheit.

Um diese physischen Unbequemlichkeiten zu verscheuchen, greift dann der Betäubungssüchtige wiederum zur Injectionsspritze, wie der Trunkenbold zur Schnapsflasche. Er vertrinkt seinen Unmuth, seinen häuslichen Aerger, seine geschäftlichen Unannehmlichkeiten. Er macht, wie der Branntweintrinker durch seinen Morgenschnaps, die zitternden Glieder mit Morphium wieder fest, und wenn die Wirkung des letzteren aufhört und die Gemüthsverstimmung, verbunden mit körperlicher Unbehaglichkeit, einen eigenthümlichen

  1. Das Morphium ist ein specifischer Bestandtheil des orientalischen Opiums, jenes bekannten Medicaments, welches aus dem Safte halbreifer Kapseln des gewöhnlichen einährigen Mohnes, Papaver somniferum, gewonnen wird. Der wichtigste Bestandtheil, welchen der Milchsaft dieser Pflanze enthält, ist dessen schlafbringende Substanz, das Morphium, ein weißer, fast durchsichtiger, in feinen Blättchen krystallisirender Stoff, der mit Säuren Salze bildet und, in Wasser aufgelöst, vielfach als schmerzstillendes Medicament benutzt wird. Bekanntlich hat die Wirkung des Opiums solches im Orient zu einem berauschenden Genußmittel gemacht, das den Alkoholgenuß des Abendlandes ersetzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_722.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)