Seite:Die Gartenlaube (1879) 798.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Allein die Baronin ließ sich entschuldigen: es sei ihr unmöglich, die leidende Schwester zu verlassen.

Da war leider nichts zu thun – er mußte warten. Auch am Nachmittag ließ er sich melden, erhielt jedoch denselben Bescheid. Koffer, Schachteln, Reisetaschen lagen und standen umher; die Zofe war eifrig mit Packen beschäftigt. Alles deutete auf eine schnelle Abreise. Auf seine Frage erfuhr Walter, daß die Baronin bereits in der Nacht ein Telegramm an ihren Gatten geschickt, um seine Ankunft zu beschleunigen.

Das war also die Antwort auf seine Enthüllung! Lucia betrachtete ihn als einen verheiratheten Mann und dachte nur noch daran, ihn zu fliehen.

Nein, so durfte es nicht enden! Sie mußte erfahren, daß er sie liebe, daß es außer ihr kein anderes Glück für ihn gab – er war sich plötzlich nicht so sicher wie früher, ob nicht eine Möglichkeit existirte, die ihn zum freien Manne machte, und Lucia durfte für ihn nicht verloren gehen, bevor er nicht ganz bestimmt wußte, daß seine Fesseln unlöslich waren.

Er kehrte in sein Zimmer zurück und schrieb an die Baronin. Seine ganze Seele strömte auf das Papier, seine Liebe, seine Kämpfe, die trostlose Vereinsamung seiner Zukunft, wenn er Lucia nicht erringen könne, und er bat zuletzt flehentlich, ihm eine Unterredung zu gewähren.

Beinahe umgehend kam die Antwort: die Baronin erwarte ihn. Mit laut pochendem Herzen und fast schwindelnd vor Aufregung legte er die wenigen Schritte bis zu ihren Zimmern zurück; er mußte sich an einer Stuhllehne halten, während die Zofe ihn zu melden ging.

Es dauerte eine kleine Weile – dann kam die Baronin. Die sonst so heitere Dame sah heute auffallend angegriffen und befangen aus.

„Und – und Lucia – Ihre Frau Schwester –?“ stammelte Walter.

Die Baronin lächelte schwach.

„Es geht besser,“ sagte sie; „hoffentlich wird es nichts von Bedeutung sein.“

Sie schwieg und schien mit sich zu kämpfen.

„Ihre Offenheit zwingt uns zu gleicher Offenheit,“ fuhr sie endlich fort. „Längeres Schweigen wäre ein Unrecht gegen Sie, und Lucia selbst dringt darauf, daß Sie die ganze Wahrheit über sie erfahren. Sie werden nicht vergessen, daß es ein Geheimniß ist, und zwar eines, welches unsere ganze Familie auf das Schmerzlichste berührt – das wir Ihrer Ehrenhaftigkeit anvertrauen.“

Hier machte sie in sichtlicher Verlegenheit eine neue Pause.

„Meine Schwester ist nicht Wittwe,“ sagte sie dann. „Ihr Mann lebt, aber leider lebt er von ihr getrennt.“

Walter erblaßte. Auf eine solche Eröffnung war er allerdings nicht vorbereitet.

„Zur Zeit ihrer Vermählung,“ fuhr die Baronin mit gesenkter Stimme fort, „befand sich meine Schwester mit ihrem Vater in Italien. Sie wissen, wie es vor einigen Jahren dort zuging. Die Trauung fand auf dem Lande statt, aber kaum war die Ceremonie vorüber, als die Kirche von einer Brigantenbande überfallen wurde; mein Stiefvater wurde im Gewühl niedergestochen und Lucia geraubt und in das Gebirge geschleppt; den Bräutigam ließ man ziehen, um für sich und seine Braut das Lösegeld zu beschaffen. Unglücklicher Weise war es uns nicht möglich, die sehr bedeutende Summe sogleich zusammen zu bringen, und als Lucia nach einigen Tagen ihrem Gatten zurückgegeben wurde, weigerte er sich sie aufzunehmen.“

Die Baronin drückte das Gesicht in die Hände, und brach in heftiges Schluchzen aus.

„Schändlich!“ murmelte der Professor. Sie schüttelte nur in stummer Verneinung den Kopf.

„Er handelte nach Grundsätzen; er glaubte, seine Ehre fordere das Opfer von ihm,“ versetzte sie traurig.

„Seine Ehre! Dieser Wicht, der einen solchen Engel so unerhört beschimpfen konnte!“

„Sie vergessen, daß Sie gestern ein ganz ähnliches Urtheil über das Ihnen angetraute Mädchen fällten.“

„Das war ein ganz anderer Fall! Bedenken Sie, welch ein roher gewissenloser Mensch dieser Melazzo war, und übrigens schleppte er jene Unglückliche bereits seit Monaten mit sich herum.“

„Dann war die Arme um so bedauernswerther, sonst ist es wohl ziemlich gleich, ob der Jammer acht Wochen oder nur acht Tage gedauert hat. Was aber die Gewissenlosigkeit betrifft, so dürfte Signor Geronimo, oder wie er sich sonst nennen mochte, jenem Melazzo schwerlich viel nachstehen, und der rohen Gewalt gegenüber sind wir Frauen am Ende Alle wehrlos.“

„Aber Lucia nicht! Wer nur einen Blick in ihre reinen Augen geworfen hat, der weiß, daß sie tausendmal den Tod einer gemeinen Erniedrigung vorziehen würde. Schreckte doch selbst die Gefangene Melazzo’s ihren Peiniger durch die Drohung, sich zu ermorden, siegreich von sich, und der Elende schwur mir, daß sie im Stande sei, es zu thun, wie vielmehr also Lucia!“

„Sie brauchen meine Schwester nicht bei mir zu vertheidigen,“ erwiderte die Baronin mit einem Anflug von Stolz. „Ich kenne Lucia; ich weiß, daß, wenn für sie eine beschämende Erinnerung sich mit jenem traurigen Ereigniß verbände, wir sie niemals wieder gesehen hätten, aber nicht Alle denken so –“

„Weil sie die Macht weiblicher Sittlichkeit nicht verstehen –“

„Und doch verdammten Sie jenes unglückliche Mädchen so schrankenlos,“ entgegnete die Baronin nicht ohne Bitterkeit.

„Weil ich blind, weil ich ungerecht war. Aber was kümmert uns jetzt dieses Mädchen, jetzt, wo –“

„Sehr viel. Denn eben jene schrankenlose Verurtheilung ist es, die meine arme Schwester so furchtbar erschüttert hat. Sie sah in jenem Mädchen, dessen Schicksal mit dem ihrigen eine so seltsame Aehnlichkeit hat, ihr eigenes Spiegelbild; sie sah, daß sogar von den Besten, zu welchen Lucia Sie unbedingt zählt, ihr Unglück ihr als eine Schuld angerechnet werden wird, und daß sie dadurch für immer aus dem Kreise menschlicher Theilnahme und Freuden ausgeschlossen sein wird –“

„Aber ich log ja – ich log,“ rief Walter ganz außer sich. „Was soll ich mehr sagen? Dachte ich denn überhaupt an jenes Mädchen? Es war der Zorn, der aus mir sprach. Man sagt, daß die Männer nicht eitel sind – glauben Sie es nicht, Baronin! In Jedem von uns steckt ein Stückchen dieses Erbübels, das so alt ist, wie das Menschengeschlecht. Ich war verbittert, verletzt – was weiß ich? – durch den lächelnden Gleichmuth, mit welchem Ihre Frau Schwester ein Geständniß anhörte, bei welchem mir das Herz im Stillen blutete. Nein, jenes Mädchen hat in keiner Weise eine harte Beurtheilung verdient – sie hat im Gegentheil in ihrer schwierigen Lage und bei ihrer großen Jugend eine zarte, scheue Weiblichkeit und zugleich eine Entschlossenheit bewiesen, die man von einem solchen Kinde kaum erwarten konnte. Jeder, der sie gesehen, war von ihr eingenommen; sie hatte es selbst den Rohesten wie mit einem Zauber angethan, und sogar ich, der ich sie weder gesprochen oder auch nur gesehen – nein, Frau Baronin, ich war weder gleichgültig noch theilnahmlos für sie. Liebe hatte sie mir allerdings nicht eingeflößt – Liebe kenne ich nur, seitdem ich Ihre Schwester gesehen, aber eine Art brüderlicher Zärtlichkeit lag doch in dem, was ich für das furchtsame kleine Ding empfand. Die Zukunft an ihrer Seite flößte mir kein Entsetzen mehr ein, ja, ich begann sogar zu hoffen, daß sie sich trotz Allem vielleicht für uns Beide noch freundlich gestalten könnte. Ich litt unter ihrer Flucht, unter der Vorstellung, daß sie ohne Freunde, vielleicht von dem Nöthigsten entblößt, ihr junges Leben verschollen in der Fremde enden müßte – ich hätte jedes Opfer gebracht, um wenigstens ihr Loos aus der Ferne erleichtern zu dürfen, und –“

Er schwieg. Die fast vergessene Empfindung war plötzlich so lebendig und scharf zurückgekehrt wie in jener ersten Stunde, wo die Entflohene ihm gleichsam vor den Augen verschwunden war.

„Von dem Allem sagten Sie uns gestern kein Wort,“ bemerkte die Baronin, die ihn aufmerksam beobachtete.

„Weil ich nicht daran dachte, weil ich ganz und gar nur unter dem Druck meiner peinlichen, unerträglichen Verhältnisse stand, die mich momentan auch gegen die unschuldige Ursache derselben reizten. War es denn überhaupt an der Zeit, während all’ mein Denken und Fühlen auf Ihre Schwester gerichtet war, ihr von meiner Empfindung für eine Andere zu sprechen, wenn auch diese Empfindung weiter nichts als ein starkes Mitleid war? Aber wie oft – glauben Sie es mir! – habe ich in den letzten Jahren an die arme Verlorene gedacht! Wie oft den leichten Druck ihrer kleinen Hand, als ich sie in den Wagen hob, im Traume nachgefühlt und auf der Straße nach einer Gestalt gespäht, die in der Bewegung, im Gang, in der netten Zierlichkeit der Füßchen ihr irgend ähnlich wäre! Ja, sogar Ihre Schwester, so unsinnig es klingt, erinnerte mich an

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_798.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)