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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Thurme schwangen sich volle mächtige Glockentöne herab und verkündeten Abendruhe nach heißem Tage. Das summte und dröhnte von dem grauen Gemäuer zurück in gewaltigen Schwingungen, bis es weit in der Ferne erstarb. Jeden Abend hallten diese Töne über die Stadt – auch an jenem Abend, als der Stadtmusikus die Augen schloß.

„Hol’ mir das Kind!“ hatte er sie gebeten, die weinend am Bette niedergekniet war; sie ging und kam dann zurück und hockte sich zitternd an der Bettstatt nieder; das Herz schlug stürmisch in ihrer Brust, so stürmisch, wie das des sterbenden Mannes.

„Ich kann sie nicht finden, die Louise,“ stammelte sie, „ich habe den Lehrling nach ihr geschickt; sie muß gleich kommen.“

Sie hatte in ihrer Herzensangst ein unwahres Wort gesagt – sie wußte es, das Kind würde nicht kommen.

„Es wird Feierabend, Tine, hörst Du wohl die Glocken?“ hatte er gesagt, und dann „grüß mir die Louise, meine –“ und dann war es vorbei.

Sie hatte den Gruß nie bestellt. Wie überhaupt die nächsten Tage über sie hingegangen, das war ihr niemals ganz klar geworden. Das Sterben des Mannes war ja ein leichter Schmerz neben dem, der sie noch getroffen an jenem Abend. Sie wußte wohl noch, daß sie, das Mädchen suchend, bis hier hinauf in die Laube gekommen war – und dort, auf dem nämlichen Tische vor ihr, unter einem kleinen Stein, da lag der Brief, der schreckliche Brief –

Halb von Thränen verwischt waren die Buchstaben gewesen. „Sie wisse, daß die Eltern nie und nimmer ihre Einwilligung geben würden, sie habe ihn zu lieb, sie müsse fort, aber sie wolle wiederkommen, wenn sie was Rechtes geworden sei; sie käme ganz bestimmt, und der Vater möge gesund werden, und er und die Mutter, die liebe Mutter, die sie auch so lieb gehabt, mögen ihr verzeihen; wenn sie reich geworden und eine große Künstlerin, wie er ihr gesagt, dann wolle sie Beiden all das wieder vergelten, was sie an ihr Gutes gethan.“

Das war es – sie hatte Mann und Kind an einem Tage verloren.

„Es sei ja nicht anders möglich,“ hatte die alte halbblinde Großmutter gesagt in ihrem Lehnstuhle am Fenster, die dem lieben Gott bittere Vorwürfe machte, daß er nicht sie statt des noch rüstigen Mannes gefordert; „Kinder sind kein Spielzeug, Tine, aber Du hast nicht hören wollen.“

Das war zu viel. Sie wurde krank, sehr krank; die Nachbarn kamen, um sie zu pflegen, und schalten auf das leichtsinnige Mädchen, das heimlich davongegangen mit einem wildfremden Menschen. Dann fuhr sie jäh empor im Bette; sie konnte ihr nicht einmal zürnen in ihrem Weh. – –

Die alte Frau schrak zusammen – sie gewahrte etwas, was ihre Gedanken in die Gegenwart zurückrief. Ihre Hand fuhr mit dem Taschentuche über die Stirn, dann griff sie eifrig zu dem Strickzeug und ließ die in Thränen schwimmenden Augen die Gartentreppe hinunterschweifen.

Da kam es herauf in anmuthiger Hast, eine leichte Mädchengestalt im einfachen Sommerkleide, goldblonde Flechten um den Kopf gewunden.

„Großmutter!“ rief sie, und blieb ungefähr auf der Hälfte der Treppe stehen, „darf ich mit Minna in’s Theater gehen? Sie geben ,Anne Liese’ – bitte, bitte, erlaube es mir nur dies einzige Mal, liebe Großmutter!“

„Nein!“ klang es zurück, fast schroff und rauh.

Ein Schatten getäuschter Erwartung flog über das eben noch so fröhliche Gesicht, und die dunklen Augen sahen beredt und flehend empor.

„Warum denn nicht?“ fragte sie betreten, „die andern Mädchen gehen alle – und das hübsche Lied, das darin vorkommt, höre doch nur, Großmutter:

,Flieg’ auf, flieg’ auf, Frau Schwalbe mein,
Du sollst mein Liebesbote sein!“

Sie sang es glockenhell.

„Komm herauf, Louise, und schnitze die Bohnen fertig!“ unterbrach die Stimme der Großmutter den Gesang.

Sofort wandte sich das Mädchen.

„Minna,“ rief sie hinunter, „geh’ nur allein! Ich darf nicht mit.“

Dann kam sie herauf, zog einen Stuhl aus der Laube, band sich die Schürze um und fing, die Schüssel auf dem Schooße, in etwas aufgeregter Hast an die Bohnen zu schneiden.

Es war eine auffallend feine Erscheinung, dieses junge Mädchen im schmucklosen Kattunkleide, selbst der Trotz, der um den rothen Mund lag, stand ihr gut, aber er wich bald einem wehmüthigen Zuge, der die Mundwinkel herabzog, und im Umsehen waren zwei große Tropfen über die Wangen herabgerollt und fielen auf die flinken kleinen Hände.

Der alten Frau in der Laube wurde es sichtlich schwer, dies mit anzusehen, aber sie blieb scheinbar gleichgültig beim Stricken und begnügte sich, das Mädchen mit ihren guten klaren Augen unverwandt zu betrachten. So saßen sie schweigend lange Zeit; es war schon dunkel geworden, und das lichtscheue Volk der Fledermäuse begann seine Schlupfwinkel in den Spalten des alten Gemäuers zu verlassen.

„Ich will die Bohnen hinunter tragen,“ sagte das Mädchen endlich und schon sprang sie, die Schüssel in den Händen, die Treppe hinab.

„Falle nicht mit dem Messer, Kind!“ rief ihr die alte Frau nach, aber sie erhielt keine Antwort mehr.

Wohl eine Stunde lang saß sie noch dort oben, allein mit ihren Gedanken; jene schrecklichen Tage zogen wieder an ihr vorüber, die Stunden, als sie in ihrer Stube auf den Knieen gelegen und sich die Hände wund gerungen nach ihrem Liebling. „Wende dich zu mir, Herr, und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend!“ war ihr tägliches Gebet gewesen. Aber sie kam nicht wieder, und alles Nachforschen war vergeblich.

Da endlich, nach drei Jahren, ein Lebenszeichen. „Es sei ihr nicht geglückt, wie sie gehofft,“ hieß es in dem in sichtlicher Eile geschriebenen Briefe, „sie wolle nun mit ihrem Manne nach Amerika, aber – das Kind, das kleine Kind! Ob wohl die Mutter es aufnehmen möge? Sie selbst komme nicht; sie schäme sich vor den Leuten daheim.“

Das war der Brief, der in dem Händchen des Kindes lag, das eine auffällig gekleidete schlumperhafte Person eines Abends im Zwielichte in das Haus unter dem Schlosse brachte, oder vielmehr zur Haustür hinein schob, um dann spurlos zu verschwinden.

Sie hatte das Kind mit einer Freude aufgenommen, als sei ihr die Verlorene wiedergeschenkt, mit Dank gegen Gott, der sich ihrer Verlassenheit erbarmte; sie wollte gut machen, was sie an der Tochter gefehlt, aber sie wollte auch diese wiedergewinnen. Auf’s Neue begannen die Nachforschungen; sie ließ in amerikanische Blätter die Aufforderung setzen, die Tochter möge zurückkehren; sie brauche sich nicht zu schämen, denn die Mutter schäme sich ihrer nicht; das Haus unter dem Schlosse sei groß genug für Alle. –

Erst nach ohngefähr einem Jahre des Wartens traf ein Brief ein, vielfach mit fremden Marken beklebt, und mit nicht zu entzifferndem Poststempel versehen. Es war eine feine Männerhandschrift, welche die Adresse geschrieben, und im Briefe stand von derselben feinen Schrift so klar und deutlich, als sei das Geschreibsel gestochen: wie Unterzeichneter die traurige Pflicht zu erfüllen habe, den Eltern anzuzeigen, daß seine unvergeßliche Frau auf einer Gastspielreise in den Südstaaten nach längerem Kränkeln gestorben sei. Ihr letztes Wort sei ein Gruß an die Mutter gewesen und die Bitte, die Kleine nicht zu verlassen.

Wie die Stadt hieß, in der ihr Kind das müde Haupt zum Sterben gelegt, war nicht angegeben; auch hatte der Gatte es nicht für nöthig befunden, seine Adresse hinzuzufügen; er hatte den Brief nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens unterzeichnet. Es war keine Frage nach seinem Kinde in den wenigen Zeilen enthalten; Alles, was einen ferneren Anknüpfungspunkt gestatten konnte, war sorgfältig vermieden. Sie wußte jetzt nur, daß sie keine Tochter mehr hatte, daß diese gestorben – verdorben war.

Nun durchlebte sie in ihrem armen jammernden Mutterherzen Alles, was ihr Kind erlitten, sah sie mit dem bunten leichtlebigen Theatervölklein von Stadt zu Stadt ziehen, sah sie Abends auf einer elenden Bühne mit Theaterfähnchen behangen in leichtsinnigen Stücken leichtsinnige Rollen spielen, fühlte mit ihr, wie ihr jedes Lächeln zur Qual wurde – sie war ja schon längere Zeit leidend gewesen, wie der Mann schrieb – ob er wohl je ein freundlich Wort für die Erschöpfte gehabt, ob er liebevoll an ihrem Sterbelager gestanden und ihr die heiße Stirn gekühlt hatte? Wer wußte, was für ein Elend sie durchlebt! Wie mochte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_815.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)