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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Auch heut kam sie, trat jedoch nicht sofort an den Tisch der Officiere, sondern wartete, bis das Musikstück, das gerade gespielt wurde, die letzte Note erreicht; denn sie hatte den Augen ihres Gönners längst abgemerkt, wie unliebsam ihm jede Störung war, so lange die Instrumente klangen. Das Mädchen ließ sogar noch in der Pause die Töne eine Minute in dem Hörer nachwirken, ehe sie näher trippelte und sich lächelnd präsentirte. Die gewohnte Zahlung glitt ihr in die Hand, aber ihr freundliches Dankwort überhörte Fabbris. Ihn fesselte in dem Augenblicke eine weibliche Erscheinung, die sich königlich von der Menge der Lustwandelnden abhob und fast noch mehr, als durch ihren edlen Wuchs, durch eine Fülle goldblonden Haares auffiel, wie Antonio es noch nie auf einem weiblichen Scheitel gesehen. Sie zog die Augen von allen Seiten auf sich; das Publicum wich ihr aus, stand bewundernd still und schaute ihr nach. Antonio’s Cameraden hatten sie mit ihm zu gleicher Zeit entdeckt.

„Seht, seht,“ flüsterten sie, „wer mag die Fremde sein?“

Denn daß keine Venetianerin vorüberschritt, wußte Jeder; ein solches Phänomen, wenn es der Stadt angehörte, hätte man gekannt.

„Wunderbar!“ murmelte Antonio starren Blicks und erhob sich unwillkürlich halb vom Sessel, um das Meteor zu verfolgen, bis es im Gewühl der Passanten verschwand. Die Officiere stellten jetzt allerlei Vermuthungen auf, welchem Volk der Erde das herrliche Weib entsprossen; Einer meinte, sie müsse eine Engländerin sein; der Andere hielt sie für eine Deutsche; der Dritte versetzte ihren Ursprung nach Schweden; der Vierte gar nach Amerika. Fabbris kümmerte sich nicht um ihr Vaterland; er äußerte nur: „Reicheres Goldhaar kann Lucrezia Borgia, kann Berenice nicht besessen haben.“

In demselben Augenblick klang ein frisches, bekanntes Stimmchen hinter ihm: „Befehlen die Herren zu wissen, wer die Fremde ist?“

Antonio erkannte seine Fioraja, die sich inzwischen nicht entfernt, und forderte hastig Aufschluß.

Die Kleine knixte.

„Eine polnische Gräfin!“. Und da sie sich dachte, daß der Fragende nicht zürnen werde, wenn er noch mehr erführe, ließ sie geschwind folgen: „Wohnt an der Riva, ‚Hôtel Danieli’.“

„Wer hat Dir gesagt, Angela, daß sie eine Polin?“ forschte Fabbris.

„Gestern war sie in der Marcus-Kirche; da hört’ ich’s von den Umstehenden.“

Antonio nickte und winkte dem Mädchen, zu gehen. Sie gehorchte. Er war gespannt, ob das wunderbare Wesen noch einmal sichtbar werden würde, und, was ihm nie zuvor passirt, er gab nicht Acht, als die Musik auf’s Neue begann. Seine Erwartung blieb unbefriedigt; die Polin mußte auf der entgegengesetzten Seite des Platzes längs der neuen Procuratien den Rückweg zur Riva eingeschlagen haben. Die übrigen Officiere trösteten sich mit der Hoffnung auf den nächsten Tag, wo sie dem „Hôtel Danieli“ Fensterpromenade machen wollten. Fabbris zog schweigend die Stirn kraus. Einer Dame in solcher Weise Aufmerksamkeit zu zeigen, war nicht seine Art.

Vielleicht wiederholte die Gräfin ihren Spaziergang am folgenden Abend. Aber da mußte Antonio dem Marcus-Platze fern bleiben; er hatte eine Einladung zum Herzog Bevilacqua. Sollte er absagen, nachdem er angenommen? Aus welchem Grunde? Es wäre unrecht und thöricht gewesen. Es verdroß ihn innerlich, dem Gedanken einen Moment Raum gegeben zu haben. Er stand auf, verabschiedete sich von den Cameraden unter dem Vorwand, in seiner Wohnung noch einen vergessenen Brief schreiben zu müssen, und ging.

Der Capitain Bordone lächelte hinter ihm her:

„Er will uns nur täuschen, er schreibt keinen Brief, ich weiß besser, was er vorhat.“

Die Uebrigen, neugierig gemacht, drangen in den Sprecher, sie einzuweihen, und Bordone that es.

„Fabbris ließ sich neulich mit der Feder in der Hand von mir überraschen, und ein allerdings indiscreter Blick auf das Papier orientirte mich über seine Thätigkeit. Man wird nächstens von einem neuen Militärschriftsteller hören. Er arbeitet an einem kriegswissenschaftlichen Werke.“

Ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens belohnte die Mittheilung. Der Capitain bat sie geheim zu halten, bis Fabbris selbst die Frucht seines Fleißes an’s Licht bringe. Jeder der Hörer machte sich verbindlich, zu schweigen, und Antonio ward jetzt Gegenstand einer äußerst lebhaften Unterhaltung; die Herren stimmten sämmtlich überein, er habe bei seinen vortrefflichen Eigenschaften und seiner Persönlichkeit unzweifelhaft eine Zukunft voll Glück und Ehre vor sich.

Hätte Antonio geahnt, wie man von ihm dachte und sprach, ihm wäre leichter zu Muthe gewesen. So aber fiel ihm plötzlich ein, seine Entfernung könne den Verdacht erregen, er wolle der Polin nachspüren, und er fürchtete für den nächsten Tag Fragen und Foppereien in dem Sinne. Wenn wir Menschen von starker Gemüthsbewegung ergriffen sind, bilden wir uns gar leicht ein, Jedermann sehe uns in’s Herz und errathe die Ursache unseres Zustandes.

In seinem Quartier angelangt, schnallte der Lieutenant den Säbel ab, doch an die Arbeit, wie Capitain Bordone geglaubt, setzte er sich nicht. Er nahm nur ein Buch zur Hand, aber auch mit dem Studiren wollte es heute nicht glücken; er las Worte ohne Inhalt und sprang bald wieder auf, um bis Mitternacht nichts weiter zu thun, als im Zimmer hin und her zu marschiren. Beständig sah er das Weib mit den goldenen Haaren vor sich. Gegen seinen Willen fühlte er sich zu der fremdartigen Schönheit mächtig hingezogen, doch wie sollte er sich ihr nähern? Und wenn sich ein Weg fand, was dann? Kannte er denn ihre Verhältnisse? War sie nicht etwa vermählt? Ihr nur Anbetung wie einem Madonnenbilde zu weihen, schien ihm auf die Dauer unmöglich.

Eine wilde Jagd von Gedanken und Wünschen brauste durch sein Hirn; mit einem Schlage war die ganze leidenschaftliche Natur des Südländers in ihm erwacht. Erschöpft von selbstgeschaffenen Qualen, warf er sich endlich halb entkleidet auf’s Bett. Da erinnerte er sich der deutschen Sage von der „Lorelei“, die er einmal, in seine Muttersprache übersetzt, gelesen; die polnische Gräfin glich der bethörenden Fee des Rheinstromes, und Antonio fing an von hohen Felsen, von rauschenden Wassern zu träumen; er lag in einer venetianischen Gondel, die ohne Fährmann einem schäumenden Strudel zwischen schwarzen Klippen entgegentrieb; er wollte nicht ertrinken, aber er konnte sich nicht aufraffen und das Ruder ergreifen, bis es ihm doch zuletzt mit einem jähen Rucke gelang.

Wirklich war er vom Kissen emporgefahren und riß die Augen auf – der Morgen dämmerte, ein Fensterladen hatte sich knarrend geöffnet, losgerissen vom Sturme, der sich im adriatischen Meere erhoben und, durch die Lagune hin wie dumpfer Donner rollend, sich in der Stadt verfing. Antonio schüttelte sich und dachte über sein peinigendes Traumbild nach, bis er die Quelle wiedergefunden, der es entsprungen. Er nahm sich vor, das Goldhaar und die Frau, die es trug, zu vergessen; fester Wille vermag ja viel. Ein Sturzbad, das er seinem heißen Kopfe bereitete, so gut es sich mit zwei Händen schaffen ließ, erfrischte und kräftigte ihn dergestalt, daß er sich wieder Mann fühlte. Das Frühlicht hatte zugenommen; er suchte einen Stoß beschriebener Blätter hervor, deren Geheimniß der Capitain Bordone ausgeplaudert, und siehe da, er fand sich im vollen Besitze der nöthigen Kraft und Sammlung, seine Arbeit fortzusetzen. Als er sie abbrach, um in den Dienst zu gehen, berechnete er, daß er nach wenigen Tagen den letzten Strich an dem Werke thun könne, wenn ihn nichts ableite und zerstreue.

Am Vormittage sollte das ganze Regiment, bei dem Antonio stand, exerciren. Im Casernenhofe trat es zum Ausmarsche an. Kaum hatte Fabbris einige Officiere, die sich vor ihm eingefunden, begrüßt, da erschien der Oberst, ließ einen Kreis um sich schließen und eröffnete, er habe soeben eine Depesche erhalten: in einer Woche komme der König nach Venedig.

Es war der erste Besuch, den Victor Emanuel nach der vollendeten Einigung Italiens und der Verlegung des Herrschersitzes von Florenz nach Rom seinen Venetianern abstatten wollte. In Aussicht hatte die Königsreise schon längere Zeit gestanden, nur war der Termin noch nicht bestimmt gewesen; nun rückte er auf einmal so nahe, daß jede Stunde wichtig wurde, um den Kriegsherrn gebührend zu empfangen. Von jetzt an sollte das Regiment täglich Uebungen vornehmen, damit es Ehre einlegte, mochte nun Seine Majestät Parade oder Manöver befehlen.

Antonio freute sich auf die angestrengtere Thätigkeit, und sein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_830.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)