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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Von der Stätte des Elends.
Reisebriefe aus den Nothstandsbezirken in Oberschlesien.[1]
Von Otto Kotze.
II.


In der opferfreudigen Theilnahme, welche dem unglücklichen Oberschlesien aus allen Gegenden Deutschlands und aus allen Landen zugewendet wird, wo deutsche Herzen schlagen, in dieser imposanten Liebesbethätigung zeigt unsere Nation wieder einmal eine ebenso erhebende wie ergreifende Bethätigung des Dichterwortes: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“. Das in immer stärker anschwellenden Gabenströmen sich bekundende Mitgefühl ist so einzig, daß es in Bezug auf die Macht des Eindrucks nur von der Größe der Heimsuchung übertroffen wird, die es lindern will.

So nothwendig aber im Hinblick hierauf die ausgiebigste Hülfe von außen ist, so dringend ist es geboten, bei der Anwendung und Vertheilung der Liebesgaben gewisse Charaktereigenthümlichkeiten und Eigenarten der armen, fast durchweg polnischen Bevölkerung Oberschlesiens auf dem Lande und in den kleinen Städten in Rechnung zu ziehen. Wenn sich in der Art und Lebensführung dieser Leute wesentliche Fehler offenbaren, so ist es unrecht und unklug zugleich, dieselben ihrer slavischen Nationalität in die Schuhe zu schieben, oder sie überhaupt ernstlich dafür verantwortlich zu machen. Zur Erklärung genügt es vollständig, daß sie Jahrhunderte hindurch als ausgebeutete und mißhandelte Leibeigene unter dem härtesten Drucke der Feudalherren und der Geistlichkeit gelebt. Wie es möglich war, daß ihr Culturzustand in der Reihe von Jahrzehnten seit ihrer Befreiung aus diesem Joche und dem Eintritt in den preußischen Staat sich nicht annähernd zu der Gesittungsstufe der deutschen Bevölkerungen aufgeschwungen hat, in deren Mitte sie leben, das werden spätere Verhandlungen und Untersuchungen darthun, zu welchen dieser so erschreckend an der Grenze des deutschen Reiches sich aufthuende Abgrund von Massenelend und Verkommenheit noch Anlaß geben muß. In diesem Augenblicke aber haben wir es mit dem oberschlesischen Landmann und Arbeiter zu thun, wie er nun einmal ist und voraussichtlich noch längere Zeit wird bleiben müssen. Verwöhnt war er niemals, und zu seinen Tugenden gehörte jederzeit eine außerordentliche Genügsamkeit, die auch ihre Schattenseiten hat. In Lagen wie jetzt begnügt er sich mit rohen Kartoffeln, schlimmsten Falls auch ohne Salz, und sucht sich durch Einhüllen in Lumpen nach Möglichkeit gegen die grimmige Kälte seiner entweder sehr spärlich oder gar nicht erwärmten Hütte zu schützen. Zu einem energischen Handeln aber, um eine Besserung seiner erbärmlichen Lage herbeizuführen, wird er sich nur selten aufraffen und meist fehlt ihm auch vollständig die Erkenntniß der Gefahr, in welcher er schwebt. Von seiner Kindheit ab an Entschlußlosigkeit und passive Ergebung gewöhnt, läßt er widerstandlos über sich ergehen, was kommen mag, und verfällt so allmählich in einen Geisteszustand, welcher dem wirklichen Stumpfsinn nicht unähnlich ist. Dabei ist der Oberschlesier im Allgemeinen und in rein mechanischen Thätigkeiten ein brauchbarer Arbeiter, aber auch das ist er nur, wenn er genügend angeleitet und beaufsichtigt wird.

Diese Gesichtspunkte müssen bei der Beurtheilung der traurigen Angelegenheit festgehalten werden, wenn die nothwendig gewordene Rettung durch Unterstützungen den Unglücklichen nicht moralisches Verderben bringen und ihre Unselbstständigkeit noch vermehren soll. Es kommt aber noch ein Anderes hinzu. Die Lage der Nothleidenden in den von der Calamität betroffenen Kreisen und Ortschaften ist in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse und ihre Arbeitsfähigkeit eine verschiedene. Wird da nicht eine möglichst genaue Sonderung vorgenommen, so kann es nicht ausbleiben, daß Vieles von den immerhin doch beschränkten Unterstützungsmitteln Solchen zufließt, die durch eigene Belastung oder Anstrengung sich noch selber helfen könnten, aber lieber aus dem Nothstande ihren Vortheil ziehen wollen. Bereits wurden Ortschaften namhaft gemacht, wo gutsituirte Leute sich an der Entnahme freier Kartoffeln betheiligt, ja dieselben sogar unter dem Preise wieder verkauft hatten, sodaß zuletzt Polizei und Gensd’armerie einschreiten mußten. Aus verschiedenen Orten führt der „Oberschlesische Anzeiger“ Beispiele an, daß Einwohner, die noch hinlänglich mit Bekleidung versehen sind, sich doch geweigert haben, ihnen angebotene Arbeiten zu übernehmen, „weil sie während des Nothstandes nicht arbeiten könnten“ oder „weil überall Gelder für sie gesammelt, Suppenanstalten errichtet würden und es Zeit wäre, daß für sie auch etwas geschähe“ etc. Das heimische Blatt bemerkt dazu: „Solchen Unverschämtheiten darf Niemand nachgeben, es kommt sonst eine nicht zu bändigende Corruption auf und wir können es noch erleben, daß der Arbeitsscheue droht: Fütterst du mich nicht auch, so bringe ich mit Hungertyphus die Pestilenz über’s Land! Hier eröffnet sich der Geistlichkeit ein Feld segensreicher Wirksamkeit. Möge sie allsonntäglich den Parochianen das ‚Bete und arbeite‘ vor die Seele führen!“[2]

Diese unwürdige Habsucht hat den Landrath Pohl in Ratibor vor Kurzem zu einer amtlichen Bekanntmachung veranlaßt, in welcher er die Ortsvorstände auf das Strengste anweist, die zur Linderung des Nothstandes überwiesenen Unterstützungen an Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Heizungsmaterial in keinem Falle ohne Zuziehung der sämmtlichen Mitglieder des Localhülfscomités und nur an die Ortsarmen und diejenigen hülfsbedürftigen Personen zu vertheilen, die absolut nicht in der Lage sind, durch Arbeitsverdienst den nöthigen Lebensunterhalt sich zu erwerben; er macht die Gemeindevorstände für die gerechte Vertheilung der Unterstützungen und für die gewissenhafte Berichterstattung in allen Nothstands-Angelegenheiten verantwortlich.

Das sind Eindrücke niederschlagendster Art, und sie werden noch verstärkt durch widerwärtige Erscheinungen in anderen oberschlesischen Kreisen, die thatsächlich von einem wirklichen Nothstande gar nicht betroffen sind und wo die Noth nicht größer ist, als in den meisten anderen Gegenden unseres Vaterlandes, welche dennoch von Ortschaften solcher Bezirke um Hülfe angerufen werden. „Wo so viel gegeben wird, kann für unsere Gegend auch etwas abfallen“ – das ist der Grundsatz, den man häufig vernehmen kann, und flugs ist auch ein Zeitungsschreiber da, der von nackten frierenden Kindern, von trockenen und verfaulten Kartoffeln als Nahrungsmittel und von anderen schaudererregenden Details berichtet. Nicht als ob derartige Geschichten durchweg erfunden wären, sie können immerhin ganz wahr sein, gehören aber an dem betreffenden Platze doch nur zu den Ausnahmen und man braucht, um sich von dem Vorhandensein solcher vereinzelter Fälle zu überzeugen, sicher nicht nach Oberschlesien zu gehen; sie kommen anderswo auch vor. Es wäre eine Ungerechtigkeit gegen die jetzt weit und breit in Deutschland und namentlich überall in den großen Städten und in verschiedenen Gebirgsgegenden offen und heimlich grassirende Noth von Tausenden, wenn ihr auch nur ein Theil der nöthigen heimischen Fürsorge entzogen würde, um dieselbe denjenigen oberschlesischen Bezirken zuzuwenden, in denen eine wirkliche Massencalamität nicht zu finden ist.

Einen Zustand äußerster Bedrängniß weisen in Oberschlesien, allen angestellten Ermittlungen zufolge, in der That nur die im Süden desselben belegenen Kreise Ratibor, Cosel, Rybnik und Pleß

  1. Der Verfasser, welcher seine Reise leider unterbrechen mußte, hat Obiges auf unsern Wunsch nach früheren Beobachtungen und zuverlässigen Mittheilungen zusammengestellt.
    D. Red.
  2. Soweit wir die Verhältnisse aus öffentlichen und privaten Mittheilungen kennen, haben aber viele Geistliche aller dieser polnisch-deutschen Districte ihren vorwiegenden Einfluß auf das in Unwissenheit und Aberglauben erhaltene Volk bisher für ganz andere Zwecke verwendet. Die Landgeistlichen waren eifervolle Arbeiter und mächtige Werkzeuge auf dem Gebiete der hohen Politik. Statt der so nothwendigen geistigen und sittlichen Hebung dieses Volkes, die hier recht eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, liefen sie vor Allem die Schürung und Schärfung des leidigen Rassezwiespalts und Confessionszelotismus, den Kampf gegen die Staatsgesetze und die Beeinflussung der Wahlen im römisch-hierarchischen Interesse sich angelegen sein. Sollte es einem Zweifel unterliegen, daß auch in diesem traurigen Umstande und in dem Mangel einer angemessenen, durchgreifend organisirten Gegenwirkung eine der Hauptursachen der entsetzlichen Herabgekommenheit zu suchen ist?
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_049.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)