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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


auf, und es ist dazu auch noch die südöstliche Hälfte des Kreises Lublinitz zu rechnen. Das Nothstandsgebiet umfaßt somit eine Einwohnerzahl von 400,000 Seelen, von denen, hoch gegriffen, zwanzig Procent unterstützungsbedürftig und höchstens zehn Procent in einem außerordentlichen Nothstande begriffen sind. Die betreffenden Kreise können bei ihrer ohnedies schon sehr gedrückten finanziellen Lage notorisch für ihre Eingesessenen nicht eintreten. Man darf aber hoffen, daß die von anderen Kreisen und der Provinz flüssig gemachten Mittel in Verbindung mit den Beträgen der Privatsammlungen den in den obigen Grenzen wirklich vorhandenen Nothstand in erheblicher Weise mildern werden.

Schon beim Herannahen der Calamität hatte der Provinziallandtag von Schlesien 888,000 Mark bewilligt, und weitere 2 Millionen bereit gestellt, von denen 1.500,000 Mark zu Darlehen an die Bewohner der Nothstandsbezirke unter Bewilligung günstiger Verzinsungs- und Rückzahlungsbedingungen, nöthigenfalls auch 10 Procent mit Risico des Verlustes, ausgegeben, 500,000 Mark dagegen zu Wegebauten verwendet werden sollen. Ebenso wetteifern die einzelnen Kreise mit einander, um ihrerseits durch Wege- und Straßenbauten den Bedrängten im Lande Arbeit zu schaffen.

Ferner hat bekanntlich auch Kaiser Wilhelm dem schlesischen Provinziallandtage die Mittheilung zugehen lassen daß ein Capital von 400,000 Mark, welches die Provinz dem kaiserlichem Paar bei Gelegenheit der goldenen Hochzeit zur Begründung einer Stiftung dargebracht, nunmehr gleichfalls zur Beseitigung des Nothstandes verwendet werden möge. Es ist daher die Summe dem Landarmenverbande für Unterstützung Hülfsbedürftiger über die gesetzliche Verpflichtung hinaus zu unbeschränkter Verfügung überwiesen worden. Was die Sammlungen und sonstigen Leistungen aus dem Publicum betrifft, so läßt sich der bisher erreichte Betrag noch nicht übersehen. Allein das in Berlin erst vor Kurzem begründete Hülfscomité quittirt an dem Tage, wo dies geschrieben wird, über eine bis jetzt eingegangene Summe von 164,000 Mark, von denen bereits 50,000 Mark nach Oberschlesien abgegangen sind. Die verschiedenen Sammlungen sind aber noch in vollem Flusse.

An Mitteln, um für den Augenblick dem Allerschlimmsten abzuhelfen, dem Allerdringendsten zu genügen und mannigfach lindernd den Gefahren vorzubeugen, fehlt es also nicht. Damit ist schon viel gethan und ein hochwichtiger Theil des Barmherzigkeitswerks in Angriff genommen. Für die erforderliche Nachhaltigkeit freilich reichen die Ergebnisse der bis jetzt gemachten Anstrengungen nicht hin. Um das zu begreifen, braucht sich der Entfernte ein nur annähernd deutliches Bild von der Gewalt und Ausdehnung des Schreckens zu machen, der unter den Mittellosen des eigentlichen Nothstandsbezirks in der Gestalt des Hungers, des Frostes, des Mangels aller nothwendigsten Existenzbedingungen und der daraus folgenden Erkrankungen sein grausig-heimtückisches Regiment entfaltet hat. Hier strecken in den verschiedenen Ortschaften Hunderte, in weiteren Umkreisen Tausende von Hungernden und Halbverhungerten, Alte und Junge, Männer und Frauen in verzweiflungsvoller Gier ihre Hände nach ein wenig Nahrung aus; hier seufzen und winden sich auf erbarmenswürdigem Lager unzählige Schwache, Sieche und Kranke jedes Lebensalters ohne Pflege, ohne Ernährung und Wärme; bei Tausenden ist kein Vorrath im Hause, kein Feuer im Ofen überall Schmutz, Lumpen, bleicher und hohläugiger Jammer, vielfach in den langen Winterabenden nicht einmal der Strahl eines Lämpchens zur Erhellung der trostlos düsteren Behausung. Und all diesem zu äußerster Höhe gesteigerten Elend stehen die Armenverwaltungen des Ortes und der Kreise ziemlich machtlos gegenüber.

„In zwei großen Dörfern des Oppathales, die ich gestern besuchte,“ so bemerkt der Geheime Sanitätsrath Dr. Heer aus Ratibor in einem Briefe vom 23. December 1879, „sind 700 Personen ohne alle Nahrungsvorräthe; sie werden durch fremde Hülfe bis zum Beginn der Arbeitszeit erhalten werden müssen. Ich habe die Kinder in den Schulen gesehen und unter ihnen eine große Menge abgemagerter, blutarmer Gestalten gefunden, die Mittags das Schullocal nicht verlassen wollten, weil sie zu Hause kein warmes Zimmer und kein Essen finden. Und was ist die Nahrung der Bessersituirten? Zwei Mahlzeiten von schlecht gerathenem Buchweizen, der, auf Handmühlen zerkleinert, mehr als zur Hälfte des Gewichts feste schwarze Hülsen giebt. Davon werden Klumpen ohne jede Fettung in Salzwasser gekocht. Leider ist diese Kost ein Luxus gegen die zahlreichen ekelerregenden Gerichte, welche aus den zur Zuckerfabrikation nicht geeigneten, mißrathenen Rüben bereitet werden und sehr vielen Familien zur ausschließlichen Nahrung dienen. Ich habe gesehen, daß eine Hausfrau fünf Kindern diese Kost dadurch schmackhaft und annehmbar zu machen versuchte, daß sie die gesottenen Rübenstücke mit geriebenem altem Käse der widerlichsten Art servirte. Inzwischen greifen die durch ungenügende und ungeeignete Nahrung bedingten Darm- und Magenkatarrhe in bedenklicher Weise um sich und bereiten dem Typhus einen fruchtbaren Boden. Seit mehreren Tagen sind an vielen Orten Volksküchen und Suppenanstalten im Gange, um aber allen Bedürfnissen zu genügen, dazu gehört noch unendlich viel. Gegenwärtig ist’s noch nicht gelungen, mehr als die völlig Hülflosen zu ernähren.“

Je weniger also ohne die von draußen eingehenden Unterstützungen an eine Bekämpfung dieses äußersten Grades menschlichen Elends zu denken wäre, um so mehr liegt die bereits hervorgehobene Hauptschwierigkeit dabei in einer den Verhältnissen entsprechenden Vertheilung. Nicht blos die Ueberwachung der zahlreichen, noch gesondert wirkenden localen Hülfscomités, sondern auch eine Centralisation derselben, eine einheitliche Leitung des gesammten Hülfswerks von einem mit Autorität versehenen Mittelpunkte aus ist dringend geboten. Vielleicht ist es das Naturgemäßeste, diese Centralleitung dem ohnedies über fast alle Städte sich verzweigenden „Vaterländischen Frauenverein“ zu übertragen, der bereits in den Nothstandsbezirken eine außerordentlich segensreiche Wirksamkeit entfaltet hat.

In Betreff der als nothwendig sich herausstellenden Organisation ist ja an den einzelnen Punkten schon Manches geschehen, aber die Städte sind in der Planmäßigkeit ihrer Maßnahmen dem platten Lande weit vorausgeeilt. In den Städten wirken schon wohlorganisirte Hülfscomités, die zumeist mit dem „Vaterländischen Frauenverein“ in Verbindung stehen; Niederlagen von Lebensmitteln, Suppenanstalten sind gegründet, in denen ganze Portionen gewöhnlich für zehn, halbe für fünf Pfennig, an ganz Arme jedoch auch auf Anweisung des betreffenden Hülfscomités unentgeltlich verabreicht werden. Die Einrichtung dieser Volksküchen erweist sich als sehr praktisch; zur Verwendung gelangen dabei Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Reis und Graupen, und die Zubereitung ist eine durchaus schmackhafte, wie in jeder guten bürgerlichen Haushaltung. Auch die Krankenanstalten sind in den Städten im Allgemeinen gut; einzelne lassen freilich stark zu wünschen übrig und dürften bei einem weiteren Umsichgreifen des Hungertyphus sich als vollständig unzulänglich herausstellen. So schildert der Regierungs- und Medicinalrath Dr. Pistor in Oppeln in seinem Generalbericht über das Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln (Breslau, Clar’sche Buchh.) das Krankenhaus zu Sohrau in Oberschlesien in nachstehender Weise:

„In Sohrau befanden sich im November 1879 in einem Raume Kranke beiderlei Geschlechts, um für den zweiten noch vorhandenen Raum die Heizung zu ersparen. Auf den Dielen lagerte der Schmutz fünf Centimeter hoch. Bettwäsche fehlte oder war so schmutzig, daß die Grundfarbe des Stoffes kaum noch zu erkennen war. Kurz, die Verwahrlosung war so groß wie möglich. Auf dem Hofe befand sich eine Latrine der primitivsten Art über einer offenen Düngergrube. Und doch zählt Sohrau über viertausend Einwohner und ist nicht unbemittelt.“

Aus Berichten der „Schlesischen Zeitung“ erhellt, daß dieser jämmerliche Zustand des Krankenhauses in der Mitte des December noch nicht verbessert war; ein neues Krankenhaus ist zwar jetzt vorhanden, wird aber aus Sparsamkeitsrücksichten nicht belegt. Es möge das als ein Beispiel der Zustände in manchen dieser oberschlesischen Gemeinden hier angeführt sein. Der inzwischen ausgebrochen Hungertyphus wird hoffentlich auch nach dieser Richtung die betheiligten Behörden zu einem beschleunigten Tempo aufmuntern.

Auf dem Lande sind zwar durch Veranlassung des „Vaterländischen Frauenvereins“ vielfach in den größeren und theilweise auch in den kleineren, besonders hart von der Noth bedrängten Dörfern gleichfalls Suppenanstalten errichtet; im Allgemeinen jedoch ist die Organisation der Hülfscomités dort bis heute noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_050.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)