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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


seiner Rückkehr wußte der Krämer die Zeit wohl auszunützen, um die große Neuigkeit, die er gebracht, zu erklären und vollkommen begreiflich zu machen. Manche erinnerten sich jetzt ganz genau, daß der Kogelhofer früher in einer andern Gegend im Flachland ansässig gewesen, daß er vor nicht ganz zwanzig Jahren auf den Kogelhof, den er gekauft hatte, gezogen sei, daß er allein, ohne Frau, wie er sagte als Wittwer, gekommen war und einen kleinen Knaben mitgebracht hatte, den er für seinen Sohn ausgegeben. Niemand hatte damals daran gezweifelt; Niemand hatte für nothwendig gefunden, über die Verhältnisse eines so wohlhabenden und ordentlichen Mannes weitere Erkundigungen einzuziehen: demnach konnte das, was der Krämer behauptete, wahr sein; mindestens konnte Niemand das Gegentheil beweisen.

„Ich bin zu selbiger Zeit noch ein junger Bursch gewesen,“ sagte der Vorsteher wie erklärend, „aber ich weiß noch Alles, wie wenn's gestern gewesen wäre. Wenn die Mutter schon gestorben gewesen ist, hat sie der Kogelhofer nimmer heirathen können – dann beißt die Maus keinen Faden ab; dann ist der Lenz wirklich ein lediges Kind; dann gehört ihm der Hof nicht.“

Die Ankunft des Landrichters vereinigte die ganze Versammlung. Auch Lenz kam in's Zimmer zurück; er war jetzt gefaßt genug, um dem Beamten mit Ruhe entgegenzutreten. Zu seinem Entsetzen vernahm er aus dem Munde desselben die volle Bestätigung der schrecklichen Nachricht, daß er mit Einem Schlage einer reichen Erbschaft beraubt und einer jener Menschen war, die er noch Tags vorher selber als anrüchig, als nicht makelfrei bezeichnet. Ein wackeres unschuldiges Mädchen hatte er deshalb gekränkt! Neben den todten Vater stellte sich ihm Nannei's Bild, und er mußte alle Kraft zusammennehmen, als er auch des Pechler Kaspar gewahr wurde und derselbe sich die herbe Genugthuung nicht versagen konnte, im Vorübergehen ihm auf die Schulter zu klopfen und zuzuflüstern: „Hab' ich's nicht gesagt, Lenz, Du wirst auch noch lernen, klein beigeben?“

Der Beamte hatte eben die Herstellung der Heereslisten für den Jahrgang beendet und war dabei durch Anfrage eines auswärtigen Pfarramtes nach einem in dortigen Tauflisten eingetragenen Knaben, eben nach Lenz, auf die Umstände bei dessen Geburt aufmerksam geworden. Er hatte sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit mit dem Kogelhofer über die Sache zu sprechen und sie zu ordnen – die Gelegenheit wäre nun allerdings gegeben gewesen, aber wie die Ordnung herbeigeführt werden könnte, war nicht mehr abzusehen. Lenz sei, sagte er, wie die Sache liege, in dem Augenblicke, in welchem der Tod des Vaters eintrat, nicht dessen rechter Sohn gewesen; ein anderer Nachkomme sei nicht vorhanden, daher sei derselbe ohne Hinterlassung von Blut- und Notherben verstorben, und der Rücklaß gehe an die Seitenverwandten über, unter denen allerdings, so viel ihm vorläufig bekannt, der Herr Kaufmann Rab, Firma Rab und Geier, als nächster und ausschließender Erbe erscheine. Er äußerte sein Bedauern mit dem plötzlich arm gewordenen Sohn eines reichen Bauern und über die unbegreifliche und echt bauernhafte Sorglosigkeit und Säumniß des Verstorbenen, der so lange gezögert hatte, die Angelegenheit zu ordnen, bis sie nicht mehr geordnet werden konnte. Er sprach zugleich die Hoffnung aus, daß der Erbe wohl Gründen der Billigkeit statt geben und sich zu einem Vergleich herbeilassen werde, der beide Theile befriedige.

„Jeden Augenblick, Gnaden Herr Landrichter!“ rief der Krämer, der begierig die Gelegenheit ergriff, seinen Edelmuth und seine Uneigennützigkeit zu zeigen. „Ich hab' ihm schon einen Vorschlag gemacht, der unter Brüdern nicht schöner lauten könnt'. Er braucht nur Ja zu sagen.“

Lenz sah Aller Augen auf sich gerichtet: er konnte nicht mehr daran zweifeln, daß der grausame Umsturz seines Schicksals wirklich eingetreten war, und wenn er auch die Möglichkeit desselben noch nicht begriffen, war er doch desto entschlossener, der unerbittlichen Wirklichkeit Stand zu halten und all den neugierigen und theilnahmslosen Zuschauern die Freude, ihn gedemüthigt zu sehen, nicht zu gewähren.

„Wenn's Gnaden Herr Landrichter auch bestätigen,“ sagte er mit ziemlicher Festigkeit, „dann muß ich's wohl glauben, daß ich so ein unglücklicher Mensch, ein lediges Kind bin, und werd' mich dreinfinden müssen, wenn ich's auch nicht versteh', wie mein guter Vater nie was davon gesagt hat. Mit dem Vergleich aber ist es nichts; den macht mir der Herr nur zum Spott. Also,“ schloß er, gegen den Beamten gewendet, „hab' ich gar nichts, ich hab' gar kein Recht an den Hof?“

„Nichts,“ erwiderte der Beamte. „Das Gesetz giebt Dir nur Anspruch auf Unterhalt während des kindlichen Alters, den Du wohl empfangen haben wirst. Für Deine Dienstleistungen im Hause gebührt Dir eine Entschädigung.“

„Dank' schön, Gnaden Herr Landrichter!“ sagte Lenz. „Ich hab' mich nicht für einen Knecht gehalten und bin nicht als Knecht gehalten worden; ich kann kein' Lohn annehmen wie ein Knecht. ... Nachher möcht' ich nur um mein G'wand bitten, und daß Gnaden Herr Landrichter erlauben, weil ich doch Soldat werden muß und keinen Mann mehr stellen kann, daß ich gleich einrücken dürft'. Nachher mach' Platz, Gesindel!“ fuhr er fort, als der Landrichter keine Einwendung vorbrachte. „Auseinander, damit ich nicht Einen von Euch nehm' und die Andern damit niederschlag'!“

Er stürzte hinaus. – –

Während so die Ereignisse auf dem Kogelhof in wenigen Stunden das Obere zu unterst gekehrt hatten, war Nannei auf ihrer Wanderung in das Dorf gekommen, wo die Pfarrkirche und um sie herum der Friedhof lag, der sie seit den Entdeckungen der letzten Nacht so nahe anging. Sie hatte sich auf dem Friedhofe in einem Gebüsche verborgen gehalten, bis der gewöhnliche Frühgottesdienst zu Ende war; sie wußte, daß dann der Ort einsam war, und brauchte nicht zu fürchten, Jemandem zu begegnen, der sie allenfalls angeredet und ausgefragt haben würde. Als sie dann in ihrem Verstecke gesehen, wie der Pfarrer seinen Weg zum Pfarrhofe eingeschlagen und auch der Meßner ihm bald gefolgt war, ward es leer und stille auf der Ruhestätte der Todten; nur noch hier und da stand an einem der Kreuze mit verbleichender Inschrift ein altes Mütterchen, das zu Hause keine Arbeit mehr versäumte und an den Gräbern der mit ihr jung Gewesenen ein Vaterunser sprach, sich über die Zeit der Wiedervereinigung mit ihnen nach seiner Art Gedanken machte und dann, zwischen Erinnerung und Hoffnung, endlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft getheilt, dem Austragskämmerchen zuhinkte, das für sie das Vorgemach des eigenen Grabes bildete.

Endlich hatte sich das Fallgitter des Eingangs hinter dem letzten Besucher geschlossen; nichts war mehr hörbar, als der schwere, eintönige Gang der Thurmuhr; nichts regte sich, als ein lustiges Grasmückenpaar, das neben dem Beinhaus in der Ecke auf dem weißen Rosenbusch genistet hatte, vor welchem Nannei aufschluchzend in's Knie sank. Hier also, unter ihr, unter dem dicht verwachsenen Rasen war ein Herz vermodert, das ihr so nahe angehörte, wie kein anderes hienieden – das Herz einer Mutter, die sie nicht gesehen, von der sie nichts gewußt hatte und auch nichts wissen sollte, bis sie einst Alles von ihr selbst erfahren würde: einst, in dem so sehnlich gehofften, so unerschüttert geglaubten Jenseits! Der Gedanke erfüllte ihr ganzes Innere mit unsäglicher Wehmuth, um so inniger, als ja auch sie im Begriffe stand, eine Wanderung anzutreten, deren Ziele und Wege ihr unbekannt waren gleich jenen der Armen, die jedenfalls nicht das Glück unter den Rasenboden zu ihren Füßen gebettet hatte. Sie saß, nachdem sie sich thränenlos geweint hatte, in dem hohen Grase nieder, pflückte einige der weißen Rosen, die noch spärlich an dem Strauch zerstreut waren, und versuchte ihre Geschicklichkeit, einen Kranz daraus zu winden, den sie in die Zweige hing.

Sie zählte die Schläge nicht, mit welchen allmählich eine Viertelstunde um die andere im Vorüberschweben an die Glocke streifte; sie hatte ja nichts zu versäumen. Noch früh genug konnte sie an den nächsten Bahnhof kommen und von dort die Hauptstadt erreichen, in deren Menschenfluth sie sich und ihre traurige Geschichte zu verbergen gedachte. Wie das geschehen könne und werde, war der Gedanke, der sie nächst diesem beschäftigte – eigentlich nicht ein Gedanke, sondern eine Fülle von solchen, die wie Fäden eines verworrenen Gespinnstes sich kreuzten.

Der Meßner ging wieder vorüber, ohne auf sie zu achten; er stieg zum Mittagsläuten auf den Thurm. Als die Töne verhallt waren und der Mann zurückkam, schreckte sie aus ihrem Brüten und wollte aufbrechen. Gleichwohl mußte sie noch verweilen, denn der Meßner hielt draußen hart unter der Kirchenmauer an, und so sehr ihn daheim die Mittagssuppe locken mochte, so schien doch das, was ihn zum Verweilen zwang, noch lockender zu sein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_074.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)