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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Es war das Gespräch mit einem ihm begegnenden Manne, welches so nahe bei Nannei geführt wurde, daß sie jedes Wort verstehen mußte: der Mann brachte die Kunde von dem, was in den wenigen Stunden seit ihrer Flucht sich auf dem Kogelhofe ereignet hatte.

Halb aufgerichtet, lauschte sie immer eifriger – sie wußte nicht, ob sie träume oder ob draußen ein Wahnsinniger erzähle. Der alte Kogelhofer, bei und mit dem sie so lange gelebt, bei dem sie eigentlich herangewachsen, der immer so gut mit ihr gewesen – er sollte plötzlich nicht mehr unter den Lebenden weilen! Der schöne Kogelhof sollte in fremde Hände kommen! Lenz, der trotz aller Wildheit doch ein herzensguter Mensch war, sollte aus dem Hause, das er schon für sein Eigenthum angesehen, gleich ihr verdrängt, sollte gleich ihr mit einem Makel behaftet werden, den nichts, nichts wieder abzuwaschen im Stande war! Es war für den ersten Augenblick so unbegreiflich wie schrecklich. Was sollte aus dem verbannten Burschen werden, der, wenn auch ein tüchtiger Arbeiter, sich doch schon als Herrn geglaubt und gefühlt hatte, wenn er nun sein Brod mit seiner Hände Arbeit um Lohn und als Knecht verdienen sollte?

Wie ihre Gedanken ergänzend, fuhr jenseits der Mauer der Erzähler fort: „Es schadet ihm eigentlich nichts, dem Lenz; der hochmüthige Bursch' soll nur auch lernen, was es heißt, selber arbeiten und selber verdienen. Er kann's jetzt gleich ernsthaft probiren; er muß ja ohnehin einrücken und in die Caserne, denn mit dem Einstandsmann ist's nichts mehr. Da wird's schmale Bissen geben, wenn er nicht ein tüchtiges Spendirgeld hat, und ich glaub' nicht, daß der Krämer viel spendirt haben wird, der heißt nicht umsonst 'Rab und Geier'.“

„Wo ist denn der Lenz jetzt?“ fragte die Stimme des Meßners entgegen, und der Erzähler antwortete:

„Wo wird er sein? Es heißt, er sei gleich aus dem Haus fort und in die weite Welt. Er hätt' von seinem todten Vater Abschied genommen und hätt' ihn um Verzeihung gebeten, daß er ihn nicht zu Grabe geleiten könnt' – er könnt' unmöglich den Leuten noch 'mal unter die Augen treten. Er wird halt schon auf dem Weg nach München sein.“

Die Männer trennten sich, und bald verhallten ihre Schritte in der einsamen Dorfgasse. Nannei horchte, bis der letzte Laut verklungen war; dann, auf den Knieen liegend, zog sie ein Päckchen aus der Rocktasche hervor, welches ihre in ein altes Zeitungsblatt gewickelte Baarschaft enthielt – ein beträchtliches Sümmchen, das für den Fleiß und die Sparsamkeit des Mädchens das glänzendste Zeugniß gab. Rasch war das Geld getheilt, das Blatt durchgerissen und jede Hälfte gesondert eingewickelt.

Nannei's Entschluß war gefaßt.

Jetzt, nachdem sie den Tod des Kogelhofers erfahren, vermochte sie nicht die Gegend zu verlassen, ohne mit ihrem dankbaren und gewiß leidtragenden Herzen hinter der Bahre drein gegangen zu sein – jetzt war sie gezwungen, einige Tage zu verweilen und bei ihrem Pflegevater Herberge zu suchen. Sie hatte ihr ganzes Herz voll Groll gegen Lenz aus dem Kogelhofe und noch aus der Pechlerhütte mit fortgetragen; jetzt war davon keine Spur mehr in ihr vorhanden – jetzt war Alles vergeben und vergessen, jetzt war ja auch er arm und unglücklich wie sie.

Am liebsten hätte sie ihm selbst gesagt, daß sie ihm nicht mehr zürne, aber sie fühlte zugleich: das ging nicht an. Für sie war, wie sie zu ihrem Pflegevater gesagt, Lenz nicht mehr auf der Welt – er brauchte auch nicht zu erfahren, wie sie über ihn dachte; es war ihm ja doch nichts daran gelegen gewesen. Aber wenn sie etwas für ihn thun konnte, um ihm im ersten Augenblick aus der Verlegenheit zu helfen, so war das gewiß nichts Unrechtes.

Sie verließ den Kirchhof und schlug einen weniger betretenen Feldweg ein, der sie am schnellsten in die Umgebung des Kogelhofes brachte. Sie maß an der eigenen Empfindung ab, daß Lenz kaum Lust haben würde in der Nähe zu bleiben und sich unter den Leuten sehen zu lassen; sie vermuthete daher, daß er sich wohl irgendwo verborgen habe, bis Abend und Dunkelheit ihm ein unbemerktes Entkommen möglich machen würden.

Bald war ein Höhepunkt erreicht, von welchem aus der Kogelhof und die ganze Hochflur, auf der er stand, zu übersehen war. Wie schön war der Anblick! Wie prachtvoll der Kogel von der untergehenden Sonne beleuchtet, daß er wie ein hoch aufloderndes Freudenfeuer aussah! Wie ruhig und still lag der friedliche Einödhof da! Und aus dem Kamin des schweigenden Hauses stieg eine leichte Rauchwolke auf, als würde darin zur vertrauten häuslichen Mahlzeit gerüstet, und doch lag in dem Hause die Leiche eines wackern Mannes, mit welchem das Glück aus der noch gestern so freudenreichen Heimstatt gewichen war!

Indem sie ihre Blicke nach allen Richtungen umherschweifen ließ, hätte sie beinahe vor Schrecken und Ueberraschung laut aufgeschrieen: auf einer Waldblöße, in die sie hineinsehen konnte, war ein Mann im Grase stehen geblieben, der erst bedenklich um sich sah, dann sich unter einer großen Buche zu Boden warf und das Gesicht in den Armen verbarg, während der Hut neben ihn auf dem Boden rollte.

„Er ist es,“ flüsterte sie, gleich als ob er sie hören könnte, obwohl er eine Viertelstunde von ihr entfernt sein mochte.

Der nächste Augenblick fand sie schon auf dem Wege, um die Waldblöße zu erreichen und den Gesuchten, wie ein Jäger ein Wild, unmerklich und von fern einzukreisen.

Bald waren es nur noch wenige Schritte, die sie von ihm trennten; hohes Haselgebüsch deckte sie vor ihm. Lenz regte sich nicht; er schien in einem Zustande, der an vollständige Erschöpfung und Betäubung grenzte.

Mit angehaltenem Athem kam sie auf dem weichen, moosigen Waldrand lautlos näher und ließ ihr Päckchen in den Hut des Schläfers gleiten.

Sie schlich zurück. Da – fast wäre sie vor Schreck in die Kniee gesunken: ein Rabe, der auf dem Buchenwipfel gesessen, hatte sich raschelnd erhoben und schwebte mit klatschendem Flügelschlag in die Abenddämmerung hinaus.

Der Schläfer regte sich nicht.




3. G'radaus.

Der frisch aufgeschüttete Hügel hatte sich über dem alten Kogelhofer geschlossen, und aus der Kirche verkündete die ernst-feierliche Musik, daß auch das Traueramt bereits seinem Ende nahe. Sonst wurde diese Kunst beim ländlichen Gottesdienste in höchst einfacher Weise geübt: ein paar Mädchen oder Kinder sangen zur Orgel die hergebrachten einfachen Choräle; beim Begräbniß eines so reichen Mannes aber, wie des Bauers vom Kogelhofe, hatte auch der Schullehrer ein Uebriges gethan. Nicht minder hatte der Krämer von Tölz als muthmaßlicher Erbe demselben aufgetragen, es ja nicht an Pomp und Pracht fehlen zu lassen: denn Alles sollte sehen und mit Händen greifen, wie dankbar er gegen den Verstorbenen und wie unbegründet all das Gerede sei, welches die Leute sich nicht nehmen ließen, daß der unerwartet frühzeitige Tod eigentlich in Folge eines Wortwechsels eingetreten sei, den Beide mit einander gehabt. So hatte der Lehrer, der zugleich Meßner, Kirchendiener, Orgelspieler und Chorregent war, sich nicht mit den wenigen künstlerischen Kräften des Dorfes begnügt, sondern aus dem nahen Marktflecken die Hornisten und Posaunenbläser kommen lassen, welche beim „Dies irae“ und „Libera“ ihre Instrumente so mächtig ertönen ließen, daß die Herzen aller Hörer wie vor einem wirklichen Conterfei des jüngsten Tages in der tiefsten Tiefe erbebten.

Eben erbrauste die Schlußcadenz der Orgel in das letzte Amen des Pfarrers; die Thurmglocken, die bis dahin geschwiegen, fingen wieder an sich zu bewegen und verkündeten den Beginn des Umgangs, welcher bei Leichenfeierlichkeiten sich aus der Kirche und um dieselbe zum frischen Grabe bewegte, um an demselben noch einmal für die ewige Ruhe des Heimgegangenen zu beten und bis zur Errichtung eines ordentlichen Denkmals ein buntfarbiges Holzkreuz auf den Hügel zu setzen.

Das Hauptthor der Kirche öffnete sich; eine mächtige schwarze Fahne mit weißem Kreuze tauchte, sich senkend, unter demselben hervor, zu beiden Seiten von großen Stangenlaternen umgeben, in denen trübe rothe Kerzen brannten; hinter deren Trägern schritt ein Knabe im weißen Chorrock, mit einem großen Crucifix, worauf dann die psalmodirenden Geistlichen, die zur Erhöhung der Feierlichkeit aus der Nachbarschaft geladen waren, mit den Hornisten und Posaunenbläsern folgten. An sie schloß sich der Pfarrer im Rauchmantel, und an diesen wieder ein Theil der weiblichen Dorfjugend, durchweg in tiefstem Schwarz. In Mitten derselben gingen einige ebenso gekleidete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_075.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)