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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


körperliche und psychische Fernwirkung vom Experimentator zum Versuchsobject als Ursache dieser Erscheinungen anzunehmen genöthigt ist; wohl aber zeigt sich bei manchen Menschen die Eigenthümlichkeit, daß dieselben nach vorhergehender Concentration aller Aufmerksamkeit auf eine monotone Erscheinung durch eine übermächtige Vorstellung – „du kannst dies oder jenes nicht thun“ – in einen dem Schlafe oder dem Traume ähnlichen Zustand versetzt werden und hierdurch zeitweise die Fähigkeit zum Theil oder ganz verlieren, Vorstellungen, Gedanken, Nerventhätigkeit willkürlich zu lenken oder Eindrücke, welche diese oder jene Sinne vermitteln, bewußt wahrzunehmen.[1]

Die Brücke, welche den geheimnißvollen Uebergang des menschlichen Willens in die Thätigkeit der Nerven und Muskeln einerseits und die bewußte Wahrnehmung der Sinneseindrücke andererseits vermittelt, wird durch ein derartiges Verfahren entweder gänzlich oder nach einzelnen Partien des Nervensystems vorübergehend abgebrochen. Im Zustande der Muskelstarre sind die Betreffenden bei scheinbar sonst ziemlich klarem Bewußtsein thatsächlich nicht im Stande, ihren Willen auf die betreffenden Bewegungsnerven, durch welche die entsprechenden Muskelbewegungen veranlaßt werden, in gewohnter Weise zu übertragen; sie fühlen aber auch nicht, wie sonst, Reizungen der dort gelegenen Empfindungsnerven als Schmerz. Gelingt es durch energische und zumal plötzliche Anregung, die Empfindungsnerven zu neuer Thätigkeit anzuregen, so wird meist auch alsbald die vollkommene Herrschaft des Willens über das Nervensystem und die Muskeln wieder hergestellt, der normale Zustand wieder herbeigeführt.

Ist die Brücke zwischen geistiger Thätigkeit und Nervensystem nach gewissen Sinnesorganen hin aber zum Theil abgebrochen, so kommen die Reizungen dieser Sinne im Geiste des Menschen nicht zum Bewußtsein. Redet man einem solchen Menschen, dessen Willenskraft durch eine übermächtige Vorstellung die Möglichkeit, den Verlauf seiner Gedanken zu steuern, verloren hat, nunmehr vor: „Dies ist ein Apfel; verzehre ihn!“ während man ihm eine rohe Kartoffel bietet, so werden mit der Vorstellung: „dies ist ein Apfel“ die Geschmacks- oder sonstigen Eigenschaften des Apfels im Geiste des Menschen erzeugt; nicht wie gewöhnlich, durch Eindrücke, welche die entsprechenden Sinne empfangen, sondern die gehörten Worte rufen im Geiste dieses Versuchsobjectes die betreffenden Vorstellungen hervor; es ist also der geistige, nicht der körperliche Eindruck, welcher die Vorstellung: Apfel, Apfelgeschmack im Bewußtsein hervorbringt; der gar nicht oder mangelhaft functionirende Gesichts- und Geschmackssinn sind nicht in der Lage, diese Vorstellung Lügen zu strafen.

Ist die Umnachtung, welche Geist und Sinne eines in diesem traumwachen Zustande befindlichen Menschen umfängt, so tief, daß alle Sinne, auch das Gehör, welches häufig noch am längsten functionirt, ihre Dienste versagen, so hört jede Möglichkeit, durch Befehle auf diese Menschen zu wirken, auf, und die Glieder bleiben in jeder noch so unnatürlichen Stellung stehen, bis Ermattung oder wirkliche Krampfzustände den Versuch zum Abschluß bringen.

Diese Unmöglichkeit, die Aufmerksamkeit des Geistes willkürlich von der einen Vorstellung auf eine andere zu lenken, nachdem dieselbe durch einen monotonen Sinneseindruck oder eine übermächtige Idee einmal brach gelegt ist, giebt den Schlüssel zur Erklärung all der so geheimnißvoll erscheinenden Versuche, die man mit den geeigneten Personen anstellen kann. Dies macht es erklärlich, warum solche Personen, auch wenn sie sonst ganz unbefangen erscheinen, nicht im Stande sind, ein Glied, welches sie beeinflußt glauben, durch ihren Willen zu bewegen. Sie können ihre geistige Aufmerksamkeit, ihren Willen eben nicht auf diese Nervenpartie lenken. Sie empfinden dann in diesem Gliede auch nicht.

Es ist z. B. eine in den medicinischen Kreisen bekannte Thatsache, daß Velpeau und Broca im Jahre 1860 an Solchen, welche nach dem Braid'schen Verfahren hypnotisirt worden waren, chirurgische Operationen vollzogen haben, ohne daß die Patienten Schmerz empfanden.

In diesem Zustande wissen solche Leute, wenn man ihnen dies versichert, nicht den ersten Buchstaben des Alphabets; sie können sich auf ihren eigenen Namen nicht besinnen; sie können nicht zählen etc., weil sie nicht im Stande sind, von dem Gedanken, von dem man sie eben beherrschen läßt, den Weg zu dem anderen Gedanken zu finden, auf den sie ihre geistige Aufmerksamkeit richten müßten, um A sagen, ihren Namen nennen, 1, 2, 3 zählen zu können.

Der Zustand ist, wenn auch unvergleichlich viel stärker entwickelt, derselbe, den wir alle gelegentlich so peinlich empfinden, wenn wir uns plötzlich auf den wohlbekannten Namen einer Person oder eines Gegenstandes trotz aller Anstrengung nicht besinnen können.

Deshalb kann man auch einer in solcher geistigen Befangenheit befindlichen Person die Ueberzeugung beibringen, sie sei Jemand anders, und kann sie auf Befehl gewissermaßen als diese Person handeln lassen; denn auch das Bewußtsein davon, wer man ist, beruht auf Gedächtniß, also willkürlicher Richtung der geistigen Aufmerksamkeit auf verschiedene Vorstellungen, und diese eben ist gehindert, wenn der energisch ausgesprochene Wille des Experimentators die feste Ueberzeugung hervorgerufen hat, daß es nicht möglich sei, die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung hin zu lenken.

Wenn die Einwirkung auf die Empfindungsnerven durch ihre Plötzlichkeit oder Heftigkeit so unwiderstehlich wird, daß das Hemmniß, welches den Uebergang des Eindruckes in das Bewußtsein verhinderte, dadurch überwunden und somit beseitigt wird, ist der Bann gelöst.

Man ersieht leicht, daß sich auf diese Weise alle sicher beobachteten Erscheinungen auf diesem Gebiete ungezwungen erklären lassen. Wie es freilich zugeht, daß bei manchen Menschen die Brücke, welche Geist und Körper, Wille, Vorstellung und Nerventhätigkeit verbindet, ganz oder nach gewissen Gebieten hin durch so geringfügige Ursachen abgebrochen werden kann, das wissen wir zur Zeit noch nicht.

Bis heute ist jeder Versuch, eine Naturgeschichte des Menschengeistes aufzustellen, vor dem Probleme hülflos stehen geblieben, die Umsetzung der geistigen Thätigkeit des Willens in die Nerventhätigkeit und die Ueberführung der materiellen Vorgänge des Reizes unserer Sinnesorgane in die geistige bewußte Wahrnehmung in einer irgendwie befriedigenden Weise zu erklären. Da diese von uns besprochenen Vorgänge, wie wir zeigten, gerade an dieser Uebergangsstelle ihren Sitz haben, bleibt das Wesentliche an denselben unerklärt.

Dr. Grützner ist der Ansicht, daß durch die monotonen Sinnesreize, seien diese nun: Fixiren, Streichen der Oberhaut oder Gehörseindrücke, gewisse Partien des Großhirns, in denen die klare bewußte Vorstellung und der Wille zu Stande kommen, außer Thätigkeit gesetzt würden. Ist dies richtig, so wäre es wahrscheinlich, daß diese in Betracht kommenden Theile vorzugsweise gewisse Partien der grauen Hirnrinde, nicht aber weiter nach hinten gelegene Theile des Gehirns sind, sonst müßte man Störungen des Körpergleichgewichtes an solchen Hypnotisirten beobachten, und auch die Pupille würde aufhören, in normaler Weise gegen Lichteindrücke zu reagiren. Gleichgewichtsstörungen habe ich jedoch niemals deutlich bemerkt, und schwache Zusammenziehungen der Pupille bei Einführung heller Lichtstrahlen konnten in den meisten Fällen erkannt werden.

Es würde falsch sein, wollte man nach der oben gegebenen Erklärung sagen: die Leute bilden sich also das, was sie auf Grund des Befehles oder des Einredens des Experimentators wahrzunehmen oder nicht thun zu können meinen, nur ein. Die Einbildung, daß etwas so beschaffen sei, wie es thatsächlich nicht beschaffen ist, bedingt immer eine gewisse Absichtlichkeit, einen gewissen Willen; das Charakteristische dieses traumwachen Zustandes beruht aber gerade darin, daß eine willkürliche Richtung des Willens aufgehoben ist. Man muß vielmehr annehmen, und die Ueberzeugungstreue, welche meist Miene und Haltung der Versuchspersonen zeigt, bestätigt dies, daß diese Leute in solchem Zustande thatsächlich wahrnehmen, was man ihnen vorredet; sie sehen, um mit Carpenter zu reden, gewissermaßen mit ihrem Geiste, nicht mit dem Auge; sie schmecken mit ihrem Geiste und nicht mit ihrer Zunge; sie fühlen Kälte, Wärme, Form und Größe mit ihrem Geiste, nicht mit ihrem Tastsinn.

Selbstverständlich gelingen derartige Versuche vorzugsweise mit solchen Menschen, welche mit lebhafter Phantasie begabt, zu Träumerei geneigt, oder großer Abstraction, also weitgehender Loslösung ihrer geistigen Thätigkeit von körperlichen Vorstellungen

  1. Auch Professor W. Wundt in seinem trefflichen Aufsatze: „Der Aberglaube in der Wissenschaft“ (Unsere Zeit, 1880, I) bezeichnet diese Erscheinungen als Willenshemmungen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_143.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)